• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Arztgeschichten: Im Schatten der Angst" (09.09.2005)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Arztgeschichten: Im Schatten der Angst" (09.09.2005)"

Copied!
1
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

M

att lag sie in dem Kran- kenbett. Ihre fahle Ge- sichtshaut ließ kleine Falten erkennen, die nicht wie sonst übergeschminkt waren.

Als sie zögerlich ihre Augen öffnete, erblickte sie den kah- len Hinterkopf ihres Mannes.

Ein erleichterndes Lächeln zog über ihre Mundwinkel.

Wird es bald zu Ende sein, dachte sie, dieses lange kurze Leben?

Die Angst, ihr Herz könnte aufhören zu schlagen

Ihr Mann, der auf einem Stuhl zwischen Bett und Fen- ster saß, sah in den herbst- lichen Park des Kranken- hauses herab. Zwischen den Beinen hielt er seinen Geh- stock. Seine Hände, die er über den Griff gelegt hatte, ließen ein feines Zittern er- kennen. Oft hatte er seine Frau zu den Ärzten beglei- tet. Jeder Notarzt kannte ih- re Adresse. Die Angst, ihr Herz könnte eines guten Ta- ges aufgeben, begleitete sie ein Leben lang.

Als er spürte, dass sie wach war, brummte er, ohne sie an- zuschauen: „Wann kommt der Professor?“ „Er wollte schon hier sein.“ Sie spürte, dass es diesmal anders war:

Nicht ihr Herz flatterte, son- dern ihr ganzer Körper fühlte sich geschwächt. Der Schlaf hüllte sie auch tagsüber in ein trübes Tuch. Nichts schmeck- te ihr, selbst das Trinken wur- de zur Last.

„Wie geht es Ihnen?“ Sie schreckte auf. Es war ihr un- angenehm, den Arzt nicht be- merkt zu haben. „Ich war oft krank in meinem Leben“, sagte sie, „aber jetzt ist es an-

ders.“ „Wer hat Sie früher be- handelt?“ Sie sah zu ihrem Mann, der für sie antworten sollte. „Weißt du noch da- mals? Wie war noch der Na- me des Professors?“ „Dich haben viele Professoren gese- hen.“ Mit scharfen Augen blickte sie ihren Mann an:

„Du weißt schon, wen ich meine: den Professor aus der Charité.“ „Die Charité?“

fragte der junge Professor.

Das berühmte Krankenhaus in Berlin schien ihn zu inter- essieren. „Mein Mann hat es schon vergessen, aber für mich ist es so, als sei es gestern gewesen.“ „Erzähl es nicht schon wieder.“ Ihr Mann drehte seine Augen zur Decke und blickte wieder aus dem Fenster.

„Ich war eine seiner Vor- zeigepatientinnen. Als ich noch keine 18 Jahre alt war, diagnostizierte er eine par- oxysmale Tachykardie. Ich verstand nicht, was es bedeu- tete, erlebte aber Todesangst, wenn mein Herz im Anfall ra- ste. Es trat sporadisch auf, meistens gerade dann, wenn ich aufgehört hatte, daran zu denken. Das Herz schlug um sich, wie ein loses Segel im Sturm. Ich war unfähig, auch nur ein Blatt zu halten. Man legte mir Eis auf die Hals- schlagadern, was etwas Lin- derung versprach. Es endete stets genauso abrupt, wie es begonnen hatte.“

„Im Alter wird es Schwierigkeiten geben“

„Das ist lange her“, warf der Arzt ein. Zwischen seinen Händen ließ er einen silber- nen Laserpointer wandern.

„Es wurde alles noch viel

schlimmer“, brummte ihr Mann. „Der Professor stellte mich jedes Semester erneut seinen Studenten vor“, er- zählte sie weiter. „Er war eine imponierende Gestalt. Wenn er den großen Hörsaal betrat, bündelte sich die Aufmerk- samkeit aller auf ihn. Er do- zierte wie ein Gott. Von Jahr zu Jahr erfuhr ich mehr über meine Krankheit. In seinen Händen fühlte ich mich si- cher. Trotz meiner gelegentli- chen Anfälle war ich ein fröh- licher Mensch. Die Männer stellten mir nach, und ich lieb- te das Leben.“

„Das will der Arzt nicht wissen!“ Ihr Mann stampfte mit seinem Stock auf den Bo- den. „Wenige Wochen vor Ausbruch des Krieges“, fuhr sie fort, ohne ihren Mann zu beachten, „kam ich das letzte Mal in seine Vorlesung. Der Professor zeigte EKGs und demonstrierte meinen Fall.

Ich war im fünften Monat schwanger. Zuletzt, wie üb- lich, stellten die Studenten ihre Fragen. ,Welche Pro- gnose hat die Rhythmus- störung?‘ fragte einer aus der letzten Reihe. Der Pro- fessor, der in früheren Vorle- sungen darauf mit unver- ständlichen Fachbegriffen ge- antwortet hatte, erklärte: ,Sie kommt damit gut zurecht.

Aber im Alter‘, fügte er hin- zu, ,wird es Schwierigkeiten geben‘.“

„Das war ein schicksalhaf- ter Fehler!“ warf der Alte ein, „eine irreführende Vor- hersage.“ Er blickte hoch zu dem jungen Mann in dem weißen Kittel. „Sie haben ein hohes Lebensalter erreicht“, warf der Arzt ein und sah zu seiner Patientin. „Ja, ja. Ich

beachtete auch anfangs die- se Worte nicht. Ich war jung, hübsch und unbeschwert.

Aber mit den Jahren klangen die Worte immer deutlicher in meinen Ohren. Es wuchs die Angst! Mich holt der Tod früher, dachte ich. Wann fängt das Alter an? Mit 40 Jahren wagte ich mich kaum noch aus dem Haus.“ Der Laserpointer warf einen ro- ten Punkt an die Wand.

„Trotz guter Ärzte und neu- er Medikamente befürchte- te ich ständig den Herztod.

Ich lebte im Schatten der Angst.“

Es klopfte an der Tür des Krankenzimmers. Eine junge Schwester öffnete sie, blieb im Türrahmen stehen und lächelte ihnen zu. Sie ließ den frischen Duft der Jugend ins Zimmer wehen. „Die nächste Op. ist vorbereitet, Herr Professor. Die Anästhe- sisten könnten die Narkose einleiten.“ „Ja, ich komme gleich. Sagen Sie ihnen, sie sollen anfangen.“ Er wandte sich wieder seiner Patientin zu: „Es ist nicht Ihr Herz.“

„Ihr Herz ist alles. Es hat un- ser Leben bestimmt.“ Wie- der stampfte der Gehstock auf den Boden.

Sie wollte keine Prognosen mehr hören

„Wir haben einen Tumor ge- funden in Ihrem Bauch. Er wächst von der Bauchspei- cheldrüse aus.“ „Dann ho- len Sie ihn raus“, sagte sie entschieden, „mir ist alles recht.“ Der Chirurg erklär- te ihr, wie es um sie stand.

Die Prognose war keine gu- te. „In der nächsten Vorle- sung möchte ich Ihren Fall meinen Studenten vorstel- len. Dafür benötige ich Ihr Einverständnis.“

Die Frau blickte ihren Mann stumm an. Der schwieg.

Sie wollte schon lange keine Prognosen mehr hören und keine Fragen von Studenten.

Einen einsamen Gedanken lang überlegte sie. Wortlos nickte sie, willigte ein, bevor der junge Professor zügig entschwand.

Dr. med. Reinhard Lüth V A R I A

A

A2414 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 369. September 2005

Seit 2003 veröffentlicht das Deutsche Ärzteblatt regelmäßig Arzt- geschichten – zunächst aus der Literatur, seit Heft 3/2004 vorwiegend Beiträge aus der Leserschaft.

Im Schatten der Angst

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Tatsächlich habe sich am „Gesundheitsförderungsparadox“ in den vergangenen Jahren nicht viel geändert: Obwohl Männer über eine deutlich geringere Lebenser- wartung als

Ein jeder Zeit zugänglicher Keller, auch in Gebäuden, deren Sohle unter dem höchsten Grundwasserstand liegt, ist nicht allein in wirlh- schaftlicher Beziehung von

Bei der nasa- len Form der Kryptokokkose sind Atemgeräusche, Schluckbe- schwerden, ein- oder beidseitiger eitriger oder blutiger Nasenaus- fluss, nasopharyngeale Granu- lome,

Ich freue mich sehr über die wiedergewonnene Freiheit nach der dritten Welle der Pandemie und fühle mich, seit ich vollständig geimpft bin, einiger­..

gegen bahnt sich die Erkältung über zwei bis drei Tage an, wobei sich die Symptome nach und nach verstärken bevor sie nach etwa einer Woche wieder nachlassen. Die Erkältung sowie

Trotzdem ist das Osterfest, wie ein- gangs bereits vermerkt, als das älteste und bedeutendste Fest im kirchlichen Jahr wie auch im familiä- ren Rahmen zu sehen, und

Da das Schiff nur für begrenzte Zeit vor Ort ist und damit nur eine begrenzte Anzahl an Opera- tionen durchgeführt werden kann, wird die Aus- wahl der Patienten, die zur OP

Das Schweigen der Männer Definitionsgemäß handelt es sich bei Impotenz um das Unvermögen, eine Erektion zu erreichen und