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Der anthropogene Klimawandel - Kinder und Jugendliche schildern ihr Erleben

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Academic year: 2022

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Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Fakultät für Bildungswissenschaften

Erziehungswissenschaften

Masterarbeit zum Thema:

Der anthropogene Klimawandel

- Kinder und Jugendliche schildern ihr Erleben

Eingereicht bei Univ.- Ass. Mag. A Dr.in Reingard Spannring

Eingereicht von:

Franziska Sedelmaier Matrikelnummer: 01420391

Innsbruck, April 2021

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I

Abstract

Die vorliegende Masterarbeit geht der Forschungsfrage „Inwieweit beschäf- tigen sich Kinder und Jugendliche eines Gymnasiums mit dem Thema Kli- mawandel? Wie erleben die SchülerInnen das Thema persönlich?“ nach.

Im Fokus steht die Meinung der Kinder und Jugendlichen. Zu Beginn der Arbeit wird der anthropogene Klimawandel und wichtige Begriffe zu diesem erklärt. Da der Klimawandel als Risiko gesehen werden kann, wird die Risi- kogesellschaft von Ulrich Beck als Theorie für die Arbeit verwendet. Um den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Gesellschaft besser darzustel- len, werden Begriffe wie die Jugendpartizipation, die FFF-Bewegung und das Generationsverhältnis näher erläutert. Um den pädagogischen Rah- men zu schaffen, wird die Umweltpädagogik und die verschiedenen For- schungsfelder dargestellt. Die verwendeten Daten der Arbeit wurden durch die Befragungen von drei Klassen (Fünfte, Achte und Zehnte Klasse) eines Gymnasiums erhoben. Der empirische Teil der Arbeit besteht aus zwei For- schungsteilen. Zunächst wurde eine quantitative Befragung mittels Frage- bogen durchgeführt. Aufbauend auf diesem wurden die TeilnehmerInnen anschließend gebeten einen Aufsatz zum Thema zu verfassen.

Schlüsselwörter: anthropogener Klimawandel, Jugendpartizipation, Um- weltpädagogik, Kinder und Jugendliche, quantitative und qualitative For- schungsmethode

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II

Inhaltsverzeichnis

1 Problemstellung ... 1

1.1 Fragestellung und Erkenntnisinteresse ... 2

1.2 Aufbau der Arbeit ... 3

2 Gesellschaftliche Hintergründe ... 4

2.1 Unser Klima ... 5

2.2 Folgen und Auswirkungen durch den Menschen ... 6

2.3 Anthropozän ... 10

3 „Risikogesellschaft“- aktuelles Gesellschaftsmodell ... 14

3.1 Das Konzept der Risikogesellschaft ... 15

3.2 Interpretation und Definition von Risiken ... 16

3.3 Verteilung von Risiken ... 20

3.4 Individualisierung in der Risikogesellschaft ... 25

4 Klimawandel und Gesellschaft ... 28

4.1 Jugendpartizipation ... 29

4.2 Fridays for Future – Bewegung ... 33

4.3 Generationenverhältnis ... 42

4.4 Umweltpädagogik ... 45

5 Forschungsdesign ... 72

5.1 Forschungsfrage und Ziel der Untersuchung ... 72

5.2 Erhebungsmethode ... 74

5.2.1 Quantitative Forschungsmethode... 74

5.2.1.1 Annahmen ... 74

5.2.1.2 Durchführung ... 76

5.2.1.3 Beschreibung der Stichprobe ... 77

(4)

III

5.2.1.4 Erhebungsinstrument ... 78

5.2.1.5 Forschungsergebnisse ... 79

5.2.1.6 Annahmenüberprüfung ... 87

5.2.2 Qualitative Erhebungsmethode ... 92

5.2.2.1 Methodischer Zugang ... 92

5.2.2.2 Datenauswertung mittels Qualitativer Inhaltsanalyse .... 93

5.2.2.3 Bestimmung des Ausgangmaterials ... 95

5.2.2.4 Fragestellung der Analyse ... 95

5.2.2.5 Ablaufmodell der Analyse ... 96

5.2.2.6 Konkrete Inhaltsanalyse ... 99

5.2.2.7 Auswertung der Aufsätze ... 100

6 Interpretation der Ergebnisse ... 123

7 Fazit ... 131

7.1 Beantwortung der Forschungsfrage ... 131

7.2 Reflexion und Ausblick... 134

8 Literaturverzeichnis ... 138

9 Weiterführende Literatur ... 148

10 Abbildungsverzeichnis... 153

11 Anhang ... 155

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1

1 Problemstellung

Am 20. August 2018 stand ein 15-jähriges Mädchen mit einem selbstgebas- telten Schild vor dem schwedischen Reichstagsgebäude in Stockholm und demonstrierte für den Klimaschutz. Inzwischen demonstrieren weltweit Mil- lionen von SchülerInnen und StudentInnen für das Thema Klima, es gibt viele verschiedene Bewegungen, eine der bekanntesten ist Fridays for Fu- ture (kurz: FFF). (Spiske 2019) Die Jugend auf der ganzen Welt steht auf und erhebt die Stimme, sie wollen ihre Zukunft retten. Sie fordern Politiker auf ihre Forderungen in Bezug auf den Klimaschutz einzuhalten und ge- meinsam etwas zu verändern. (Pohl 2019) Die Fridays for Future-Bewe- gung ist über die Jahre immer größer geworden, SchülerInnen und Studen- tInnen auf der ganzen Welt demonstrieren für den Klimaschutz. Am 18. Ja- nuar 2019 gingen beispielsweise in 50 Orten in Deutschland 25.000 Men- schen auf die Straße, ein paar Wochen später waren es allein in Brüssel 12.000 TeilnehmerInnen. Die Beteiligung der unter 25-Jährigen an den FFF-Demonstrationen beträgt 70%. (Sommer et al. 2019a)

Da die Demonstrationen am Freitag während der Schulzeit stattfinden be- haupten schnell viele Kritiker, dass die Kinder und Jugendlichen nicht wirk- lich hinter dem Thema stehen, sondern nur schulfrei haben wollen. Manche gehen sogar weiter wie beispielsweise FDP-Chef Christian Lindner und be- haupten Kinder und Jugendliche hätten nicht die Fähigkeit globale Zusam- menhänge zu sehen bzw. zu verstehen. Erwachsene sprechen den Kindern und Jugendlichen oft ihr Wissen ab und nehmen sie nicht ernst. (Spiske 2019) Aber warum? Woher wollen Erwachsene wissen was die Jugend will, braucht oder weiß? Genau das ist das Problem. Viele der Eltern, Politiker, Lehrer oder andere ältere Menschen glauben zu wissen was für die Jünge- ren in der Gesellschaft das Richtige ist. Studien wie „Children´s Worlds+“

oder die „Shell“-Jugendstudie versuchen mehr über die Lebenswelt, die Meinung und Ansichten von Kindern und Jugendlichen herauszufinden. Sie wenden sich also an die „Experten“ dieser Lebenswelt. (Pohl 2019) Nur we- nige Studien lassen Kinder und Jugendliche zu verschiedenen Themen selbst sprechen, meist werden Fragen vorgegeben und so versucht die

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2 Meinungen, Sichtweisen und das Erleben zu erforschen. Woher wollen Ex- perten, Wissenschaftler oder die Gesellschaft nun aber wissen, was Kinder und Jugendliche wirklich denken?

Genau dies will die Arbeit herausfinden, es soll erforscht werden was die junge Generation über den Klimawandel denkt und was sie in Bezug auf diesen beschäftigt. An der aktuellen Kontroverse zur Beteiligung der Schü- lerInnen und StudentInnen an den FFF-Demos zeigt sich einerseits, dass sich die Bevölkerung sehr wohl für die Risiken des Klimawandels interes- siert, und andererseits zeigen die Zahlen auch, dass Kinder und Jugendli- chen Interesse an politischer Partizipation haben und in wichtigen Themen mitsprechen wollen, wenn sie sich von den Themen betroffen fühlen.

1.1 Fragestellung und Erkenntnisinteresse

Durch die Fridays for Future-Bewegung rückt einerseits die Thematik des Klimawandels wieder in den Fokus der Gesellschaft, andererseits bekommt aber auch die Partizipation der Kinder und Jugendlichen eine neue Aktuali- tät. Vor diesem Hintergrund will diese Arbeit Kinder und Jugendliche zum Thema Klimawandel befragen, sie sollen ihre Sicht auf das Thema erläutern und wie sie das Ganze erleben. Es wird also mit den SchülerInnen über das Thema gesprochen und nicht über sie.

Im Zuge der Themenaufbereitung wurde auch mit einem Geographielehrer über das Thema gesprochen. Dies diente einerseits dazu eine Experten- meinung rund um das Thema zu erhalten und andererseits einen Einblick zu bekommen wie gut sich die SchülerInnen in der Schule mit dem Thema Klima auseinandersetzen. Dabei konnte festgestellt werden, dass Kinder und Jugendliche sehr viel Interesse zeigen und im Unterricht viel darüber gesprochen wird. Sehr interessant ist, dass das Thema zwar im Lehrplan angeführt ist, aber bei weitem nicht so detailliert und in einem Ausmaß be- sprochen wird, wie es sich die SchülerInnen wünschen würden. Doch was sind nun eigentlich die Wünsche, Ängste, Probleme oder Herausforderun- gen in Bezug auf das Thema Klima, die die Kinder und Jugendlichen ha- ben? Wie sehen sie das Thema und was tun sie dafür? Engagieren sie sich

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3 aktiv für das Thema? Welche Maßnahmen unternehmen sie persönlich, um den Klimawandel einzudämmen? Dies sind nur einige Fragen, die sich in Bezug auf das Thema ergeben. Mit der Arbeit soll herausgefunden werden welche Wünsche, Ängste und Herausforderungen die Kinder und Jugendli- chen in Verbindung mit Klima sehen. Außerdem soll analysiert werden, ob es möglicherweise einen Konflikt zwischen den Genrationen gibt: Fühlen sich die SchülerInnen ernst genommen von PolitikerInnen. Für die Master- arbeit wurde deswegen folgende Forschungsfrage entwickelt:

Inwieweit beschäftigen sich Kinder und Jugendliche eines Gymnasi- ums mit dem Thema Klimawandel? Wie erleben die SchülerInnen das Thema persönlich?

1.2 Aufbau der Arbeit

Die Arbeit lässt sich in einen theoretischen und einen empirischen Teil un- tergliedern.

Im theoretischen Teil werden zunächst einmal die gesellschaftlichen Hinter- gründe zum Thema skizziert. Hier wird erst das Klima der Erde erklärt und welches komplexe System dahintersteckt. Anschließend werden weitere wichtige Begriffe zum Thema definiert und der menschliche Einfluss auf das Klimasystem dargestellt. Da auch Crutzners (2008) Idee des Anthropozäns den Einfluss der Menschen auf die Erde thematisiert, wird diese Theorie vorgestellt und erklärt wie diese von anderen ForscherInnen weiterentwi- ckelt wurde. Nachdem Begriffe zum Klimawandel erläutert wurden, wird die Risikogesellschaft von Ulrich Beck (1986) vorgestellt und in Verbindung mit dem Klimawandel gesetzt. In den nächsten Kapiteln werden die Begriffe Klimawandel und Gesellschaft in Verbindung gebracht. Hierzu werden die Jugendpartizipation, die Fridays for Future-Bewegung und das Generatio- nenverhältnis beschrieben. Vor allem diese drei Themenbereiche zeigen auf, wie die Gesellschaft mit dem Klimawandel in Verbindung steht.

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4 Anschließend an die theoretischen Konstrukte wird der aktuelle For- schungsstand aufgezeigt. Hierfür werden quantitative und qualitative Stu- dien aus der Umweltpädagogik herangezogen.

Der empirische Teil der Arbeit besteht aus zwei Erhebungsmethoden, wel- che nacheinander vorgestellt werden. Zunächst wird die quantitative Stich- probe, in deren Rahmen die allgemeinen Daten für die Masterarbeit mit Hilfe eines Fragebogens erhoben wurden, vorgestellt. In den darauffolgenden Unterkapitel werden zunächst die Annahmen, die Durchführung, For- schungsergebnisse und die Annahmenüberprüfung beschrieben. Nach die- ser Beschreibung folgt die qualitative Erhebungsmethode. Hier wird zu- nächst der methodische Zugang erklärt. Anschließend wird die Inhaltsana- lyse nach Mayring vorgestellt, nach dieser erfolgte die Datenauswertung im qualitativen Teil. Danach folgen die Unterkapitel Bestimmung des Aus- gangsmaterials, Fragestellung der Analyse, Ablaufmodell der Analyse, die konkrete Inhaltsanalyse und die Auswertung der Aufsätze. Die Präsentation der quantitativen und qualitativen Ergebnisse wurde getrennt, die Interpre- tation wurde aber für beide Erhebungsmethoden zusammen in einem Kapi- tel erläutert. Mit Hilfe der dadurch gewonnen Erkenntnisse wird versucht die anfangs formulierte Forschungsfrage zu beantworten. Zum Schluss werden Kritikpunkte und Limitationen der Studie formuliert und ein Ausblick auf zu- künftige Forschungen gegeben.

Theoretischer Teil

2 Gesellschaftliche Hintergründe

Wie eben bereits kurz erklärt, rückt der Klimawandel wieder mehr in die Aufmerksamkeit der Gesellschaft. Doch was ist der Klimawandel eigentlich genau? Wie wird er verursacht und welche Folgen bringt er mit sich? Genau diese Fragen sollen in diesem Kapitel beantwortet werden. Zunächst wird das Phänomen Klimawandel erklärt und welche Prozesse dieser beinhaltet.

Danach werden die Folgen und Auswirkungen für das Leben auf der Erde dargestellt. Zum Schluss des Kapitels wird das gegenwärtige Zeitalter er- klärt und wie dieses in Verbindung mit dem Klimawandel steht.

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5

2.1 Unser Klima

Betrachtet man unser Klima genauer, stellt sich schnell heraus, dass ein sehr komplexes System dahintersteckt. Verschiedene Bereiche des Sys- tems wie die Atmosphäre, die Ozeane oder die Böden stehen ständig in Wechselwirkung miteinander. Im Laufe der Zeit hat sich das Klimasystem so eingependelt, dass ein Leben auf der Erde möglich wurde. Eine sehr wichtige Rolle spielen hierbei die sogenannten Treibhausgase bzw. der Treibhauseffekt, da diese für die Temperatur in der Atmosphäre zuständig sind. (Bundesministerium für Naturschutz, Umwelt und nukleare Sicherheit 2014) Wie der Treibhauseffekt genau funktioniert und wie wichtig dieser für das Leben auf der Erde ist wird im Folgenden kurz erläutert.

Der natürliche Treibhauseffekt

Unsere Luft, die wir einatmen und die in der Atmosphäre zu finden ist, be- steht aus verschiedenen Bestandteilen. Sie setzt sich aus ca. 78% Stick- stoff, ca. 20% Sauerstoff, ca. 0,9% Argon und weniger als 0,1% Spurengase zusammen. Zu den sogenannten Spurengasen zählen Kohlenstoffdioxid, Methan, Ozon und Dickstoffdioxide, diese machen zwar nur 0,1% der At- mosphäre aus, dennoch sind diese klimarelevant. Zusammen mit Wasser- dampf werden diese Gase nämlich Treibhausgase genannt und sind für den natürlichen Treibhauseffekt zuständig. Kommen kurzwellige Sonnenstrah- len zu uns auf die Erde, können diese die Treibhausgase passieren und gelangen auf die Erdoberfläche. Hier werden diese in langwellige Wärme- strahlung umgewandelt und zurück in die Atmosphäre gelenkt. Nur sehr we- nige Strahlen gelangen aber tatsächlich in den Weltraum zurück, da der größte Teil von den Treibhausgasen absorbiert wird. Durch diesen Vorgang erwärmt sich unser Teil der Atmosphäre und ein Leben auf der Erde ist überhaupt erst möglich. Ohne diesen Effekt, dieser wird wissenschaftlich natürlicher Treibhauseffekt genannt, würde die Temperatur auf der Erde -18 Grad betragen. (Hupfer et al. 2005) Die folgende Abbildung zeigt den natürlichen Treibhauseffekt und seine Vorgänge.

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6 Abbildung 1: Der natürliche Treibhauseffekt (Cubasch und Kasang 2000) Der Treibhauseffekt ist also in seiner natürlichen Form notwendig für das Leben auf der Erde. Nun gibt es aber verschiedenste Faktoren, die Einfluss auf das Klima haben und mit der Zeit ist ein Wandel in diesem zu sehen.

Spätestens seit der Industrialisierung zeigt es sich, dass wir Menschen ei- nen schlechten Einfluss auf unser Klimasystem haben. (Umwelt Bundesamt 2013)

2.2 Folgen und Auswirkungen durch den Menschen

Durch die Nutzung von fossilen Brennstoffen, die Abholzung von Wäldern und die Viehzucht beeinflusst der Mensch die Konzentration der ver- schiedensten Gase und es kommt zu einem Ausstoß von Treibhausgasen.

Diese sind aber nicht Bestandteil des natürlichen Treibhauseffektes, son- dern dieser Ausstoß wird durch den Menschen produziert und erhöht so die Konzentration der Gase. Der menschliche Ausstoß der Treibhausgase wird auch Treibhausgasemission genannt, diese gibt an wie viel Tonnen des Ga- ses durch den Menschen verursacht werden. Folgende Graphik (sh. Abbil- dung 2) zeigt wie viele Tonnen an Gasen wir Menschen jährlich seit den

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7 1990er Jahren produzieren. (IPCC 2013) In der Abbildung werden die Gase einzeln aufgeschlüsselt (siehe verschiedene Farben).

Abbildung 2: Treibhausgas- Emission seit 1990 nach Gasen (IPCC 2013) Die folgende Tabelle zeigt außerdem sehr gut auf einen Blick, wie sehr sich die verschiedenen anthropogenen Gase über die Jahre vermehrt haben.

Außerdem wird angegeben welche Verweildauer die Gase in unserer Atmo- sphäre circa haben.

Spurengase Vorindustrielle Kon- zentration

Konzentra- tion 2018

Verweilzeit in Jahren

Kohlenstoff- dioxid (CO2)

279 ppm 407,8 ppm ~ 30- ~ 1000

Methan (CH4)

730 ppb 1869 ppb 9,1

Lachgas (N2O)

270 ppb 331 ppb 131

FCKW-12 0 504 ppt 100

Abbildung 3: Verweildauer der unterschiedlichen Gase in unserer Atmo- sphäre (IPCC 2013)

Die Tabelle zeigt auch ein Treibhausgas, dass eigens von den Menschen erschaffen wurde und in normalen Umständen nicht Teil unserer Atmo- sphäre wäre. Flurchlorkohlenwasserstoffe (kurz: FCKW) sind anthropogen

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8 erschaffen und sind vor allem dafür bekannt, dass sie Ozon zerstören. Aber auch in der Industrie werden Flurchlorkohlenwasserstoffe oft verwendet, so fungieren sie beispielsweise als Kühl- oder Putzmittel. Da das Gas nicht mit anderen Stoffen reagiert, nicht giftig für den Menschen und unbrennbar ist, wird es auch im technischen Bereich sehr oft verwendet. Weil die FCKWs chemisch hergestellt werden haben sie eine Verweildauer von bis zu 100 Jahren, durch diese Langlebigkeit und durch die hohe Absorption tragen diese sehr stark zum Treibhauseffekt bei. Als Vergleich ein FCKW-Molekül trägt 10000 mal stärker zum Treibhauseffekt bei als beispielsweise ein CO2- Molekül. (Hobbs 2000)

Auch die anderen Treibhausgase wie Kohlenstoffdioxid, Methan und Lach- gas werden durch den Menschen beeinflusst. Zwar werden sie nicht durch den Menschen neu erschaffen, sondern liegen wie oben beschrieben in un- serer Atmosphäre bereits vor, dennoch werden sie anthropogen verstärkt.

Um Energie zu gewinnen verbrennt der Mensch Kohle, Erdöl und Erdgas.

Durch diesen Vorgang wird Kohlenstoffdioxid freigesetzt und es gelangt in unsere Atmosphäre. Aber nicht nur das trägt zum Anstieg von CO2 bei, son- dern auch das Abholzen von Wäldern ist nicht förderlich. Durch die Rodung können Bäume einerseits kein CO2 mehr aufnehmen und umwandeln, an- dererseits wird das ganze gespeicherte CO2 aus den Bäumen in die Atmo- sphäre freigesetzt. Kohlenstoffdioxid wird also durch verschiedene Vor- gänge freigesetzt und der natürliche Anteil wird so erhöht. (Bayerisches Landesamt für Umwelt 2020)

Auch die Konzentration von Methan und Lachgas wird anthropogen beein- flusst. Vor allem die Viehzucht trägt zur Erhöhung von Methan bei. Der Fleischkonsum der Menschen stieg in den letzten Jahren deutlich an und die Viehzucht wurde ein immer größerer Sektor. Methan wird in den Mägen der Tiere produziert, durch die Erhöhung der Viehzucht wird also auch gleichzeitig der Methananteil erhöht. Aber auch in der Energiegewinnung findet sich Methan, so ist es Bestandteil von Erdgas. Kommt es nun zu ei- nem Leck bei der Erdgasgewinnung tritt Methan aus und gelangt so direkt

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9 in unsere Atmosphäre. Ein letzter Bereich in dem Methan freigesetzt wird ist der Reisanbau, hier wird aber im Vergleich zu den anderen beiden Be- reichen nur sehr wenig Methan anthropogen produziert. (Hobbs 2000) Wie Lachgas durch den Menschen freigesetzt wird, ist bisher noch wenig erforscht. Das Gas entsteht in Verbrennungs- und Kläranlagen und wird bei überdüngten, feuchten Böden in die Atmosphäre geleitet. Forscher fanden heraus, dass vor allem die Verwendung von Stickstoffdünger zu einer er- höhten Lachgasfreisetzung führt. (Graßl et al. 2018)

Durch das menschliche Mitwirken kommt es also zur Steigerung der Treib- hausgase und der natürliche Treibhauseffekt wird verstärkt. Dies wiederum hat auch Folgen für das Leben auf der Erde. Im Bericht der IPCC von 2001 wurden verschiedene Folgen aufgelistet, die durch die Verstärkung des Treibhauseffektes resultieren. So kamen Forscher zu dem Ergebnis, dass die Temperatur auf der Erde im 20. Jahrhundert um mindestens 0,6 Grad gestiegen ist. Außerdem ist dieser Anstieg im Vergleich zu anderen Jahr- hunderten viel schneller erfolgt und dauert länger an. So fallen das wärmste Jahrzehnt und das wärmste Jahr beide in das 20. Jahrhundert. Im Allgemei- nen kann man also sagen, dass seit den 1950er-Jahren die Temperatur auf der Erde jedes Jahrzehnt um 0,1 Grad steigt. Des Weiteren wurde festge- stellt, dass die Ausdehnung der Schnee- und Eisdecken zurückgegangen ist. So ist beispielsweise die Schneebedeckung um ca. 10 % weniger und die Länge hat sich um ca. 2 Wochen verkürzt. Gletscher, die sich nicht in Polarnähe befinden haben einen großen Teil ihrer Schnee- und Eisfläche verloren. Aber nicht nur die Schnee- und Eisflächen sind betroffen, auch bei den Ozeanen ist eine Veränderung sichtbar. Hier reduziert sich die Fläche nicht, sondern es kommt zu einem Anstieg um bis zu 0,2 Metern des Mee- resspiegels. Auch die Temperatur des Wassers steigt seit der Aufzeichnung der Wassertemperatur an. Des Weiteren ändern sich auch andere wichtige Aspekte unseres Klimas. So kommt es auf der ganzen Welt viel öfter zu schweren Niederschlagsereignissen. Aber nicht nur die Intensität und die Häufigkeit des Regens nimmt zu, sondern auch Dürreperioden treten öfter und stärker auf. (Houghton et al. 2001)

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10 Forscher zeigen also deutlich, dass das menschliche Verhalten einen sehr großen Einfluss auf unser Klimasystem hat. Aufgrund dieser Tatsache bringt der Nobelpreisträger Paul Crutzer den Vorschlag zur Benennung ei- ner neuen Epoche, seit 2002 prägt er daher den Begriff des Anthropozäns.

(Steffen et al. 2007)

2.3 Anthropozän

WissenschaftlerInnen griffen 2008 Crutzners Vorschlag des Anthropozäns auf und entwickelten die Theorie weiter. So kamen sie zu dem Entschluss, dass das Zeitalter des Anthropozäns seit dem 18. Jahrhundert gilt und spä- testens seit der Industrialisierung der Einfluss des Menschen sehr deutlich ist. Aber nicht nur das Klima verändert sich, sondern auch das Ökosystem, verschiedene Arten und Tiere stehen unter einem Wandel. So sind seit 1900 beispielsweise die Endemiten um 20% zurückgegangen und mehr als 40% der Amphibien. Auch bei der Landoberfläche ist eine Veränderung sichtbar, so nutzen wir Menschen inzwischen sehr große Teile für unsere Industrie. Hinzukommt, dass überall auf der Welt Metall hergestellt wird, Steine und Sand abgetragen werden und die Landschaft durch Ölförde- rungsprozesse wie Framing stark belastet und teilweise sogar zerstört wird.

Des Weiteren wird 30% der Landoberfläche und 75% der Frischwasserres- sourcen für die Ernte und die Viehzucht verwendet. Nicht nur unsere Atmo- sphäre wird also stark verändert, sondern auch die Landschaft auf dem gan- zen Planeten ist betroffen. Der Einfluss des Menschen ist also in allen Be- reichen deutlich zu erkennen und die aufgezählten Veränderungen sind bei weitem nicht alle. Aber der Mensch wird nicht nur mit ökologischen und öko- nomischen Problemen konfrontiert, sondern es ergeben sich auch soziale und ethische Veränderungen. (Spannring 2019)

So setzen sich Kinder und Jugendliche für das Klima und die Umwelt ein und wollen eine Veränderung im Einfluss der Menschen bewirken. Oft stim- men die Werte, die die junge Generation fordert, nicht mit den Werten über- ein, die die Politik und die ältere Generation verfolgen. So kommt es zu

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11 einer Meinungsverschiedenheit zwischen den Generationen, die schnell zu Konflikten führen kann. So behaupten viele ältere Menschen, dass Kinder und Jugendliche sich nur für das Klima einsetzen, da sie dank der Demonst- rationen dann freitags schulfrei haben. Viele Studien zeigen aber, dass die junge Generation sehr wohl Interesse an den Themen hat und etwas für die Zukunft bewirken will. Die Kinder und Jugendlichen haben eine sehr um- weltfreundliche Einstellung und wollen vor allem die Emissionen senken, die die Menschen verursachen. Viele Personen der älteren Generation se- hen die Folgen des Klimawandels aber als nicht so schlimm und sehen da- her keine Notwendigkeit etwas zu verändern. Durch diese verschiedenen Ansichten stehen die Generationen nun oft im Gegensatz und es kommt auch zu Konflikten. Auch die Politik handelt nur sehr träge und die junge Generation sieht auch hier einen Veränderungsbedarf. Oft können sich Kin- der und Jugendliche deswegen nicht mehr mit den bestehenden Parteien identifizieren. Ein weiteres Problem, dass mit dem Klimawandel einhergeht ist die Beziehung von Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Der menschenge- machte Klimawandel konfrontiert alle Menschen auf der ganzen Welt, egal ob junge oder alte Generation, mit verschiedenen Herausforderungen.

(siehe oben) Zwar finden sich die Risiken und Veränderungen in jedem Le- ben wieder, aber die Verletzlichkeit der Menschen ist ungleichmäßig verteilt, so sind manche Menschen viel mehr betroffen als andere. Dies kann an geographischen Unterschieden liegen, aber meistens sind Strukturen der Ungerechtigkeit und Ungleichheit der Auslöser. Der Klimawandel ist ein Phänomen, dass nicht sofort seine Auswirkungen zeigt, sondern erst nach und nach werden die ganzen Ausmaße deutlich. So ist beispielsweise CO2

ein langlebiges Gas und kann bis zu 1000 Jahre in unserer Atomsphäre verweilen. Die aktuelle Emission hat also keine Auswirkungen auf unser jet- ziges Leben, sondern die Probleme werden erst in der Zukunft zu sehen sein. Die heutige Generation profitiert von dieser zeitlichen Verzögerung, sie haben aktuell niedrige Energiepreise und alle Umweltressourcen zur Verfügung. Erst die späteren Generationen werden mit dem Schaden leben müssen und den Auswirkungen, die diese auf das Leben haben. Dies ist ein

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12 weiterer Grund, warum die Generationen den Klimawandel unterschiedlich sehen und verschiedene Handlungsweisen einschlagen. Die junge Gene- ration sieht die Gefahr bereits jetzt, obwohl noch keine „drastischen“ Aus- wirkungen zu sehen sind. Die jüngere Generation sieht die Gefahr bereits jetzt und nimmt die noch teilweise unsichtbaren Auswirkungen wahr. Die junge Generation hat also schon jetzt eine ausgeprägtere Risikowahrneh- mung, da sie ihren Lebensraum bedroht sehen. Außerdem ist die Frage nach den Verursachern sehr zentral, da es sich oft um Bedrohungen han- delt, für welche sie nur bedingt etwas können. Dies ist ein Punkt, der mit der ungerechten und ausbeutenden Beziehung gemeint ist. Auch die räumliche Ungerechtigkeit spielt eine große Rolle. Hier gibt es zwei Dimensionen, die betrachtet werden müssen. Einmal die Verteilung der Risiken, also wo sind die Auswirkungen am stärksten zu sehen und wie zeigen sich diese und zum anderen die Differenz zwischen den sozialen Kontexten, also welche Menschen betrifft es, was für Ressourcen haben diese und wie können sie sich theoretisch gegen die Auswirkungen schützen. So haben die Risiken des Klimawandels in manchen Teilen der Erde verheerende Folgen und die Bevölkerung leidet. Je nachdem wie arm, entwickelt, stabil und qualitativ die jeweilige Regierung ist, geht es den Menschen besser oder schlechter. Es hat also nicht nur die geographische Lage etwas damit zu tun, wie die Risi- ken sich auswirken, sondern auch der soziale Kontext spielt eine Rolle.

(Spannring 2019) Nehmen wir beispielsweise eine Familie, die als Noma- den in einer äthiopischen Region leben. Sie wandern seit Jahrhunderten mit ihren Tieren von einem kargen Weide-Platz zum anderen. Sie haben ihr Leben an die Trocken- und Regenzeiten angepasst und leben mit diesen.

Durch den Klimawandel hat sich der Zyklus nun aber verändert, Dürren die bisher alle sechs bis zehn Jahre aufgetaucht sind, kehren jetzt fast jährlich zurück. Durch diese Veränderung können sich die Nomaden kaum von den schlechten Phasen erholen, es kommt zu Wasserknappheit, der Boden trocknet viel schneller aus und die Tiere bekommen verschiedene Krank- heiten. Die Existenzgrundlage der Nomaden wird immer kleiner und sie ste- hen durch den Klimawandel täglich vor neuen Herausforderungen.

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13 (Samson 2021) Die Alternative zum nomadischen Leben sind jedoch auch wenig vielversprechend, da es in der Stadt kaum Arbeitsmöglichkeiten gibt.

Die Menschen auf der Welt sind durch Lebensstil, sozialer Lage, Entfernung zu Risikogebieten, Bildung und Risikobewusstsein unterschiedlich vom Kli- mawandel und dessen Auswirkungen betroffen. Die Kombination aus poli- tischen und wirtschaftlichen Strukturen und dem Klimawandel wirkt sich also ganz verschieden auf die Menschen aus.

Aber es ist wichtig, dass wir Menschen auch erkennen, dass nicht nur eine Ungerechtigkeit zwischen den Menschen herrscht, sondern es ist auch ein Ungleichgewicht zwischen den Arten vorhanden. So leiden wir Menschen schon unter den Folgen des anthropogenen Klimawandels, aber auch an- dere Arten auf unseren Planeten sind von diesem betroffen. Beispielsweise verlieren die Eisbären und Pinguine durch die Erwärmung der Erde ihren Jagd- und Lebensraum, da die Eisflächen immer kleiner werden. Andere Tiere, die in wärmeren Gebieten leben, leiden auch unter der Erwärmung, da sie immer schwieriger Wasserquellen finden. Also nicht nur wir Men- schen sind von dem Klimawandel betroffen, sondern alle Lebewesen auf der Erde. Daher ist es wichtig, dass wir Menschen ein Bewusstsein für die Risiken des Klimawandels entwickeln und dass wir nicht nur an uns denken, sondern auch ökologisch. (ebd.) Um Veränderungsvorschläge zu machen bzw. neue Handlungswege zu entwickeln, müssen wir zunächst erstmal un- sere Gesellschaft verstehen, in der wir leben. Doch in welcher Gesellschaft leben wir im Moment eigentlich? Diese Frage haben sich auch Soziologen auf der ganzen Welt gestellt. Unsere Gesellschaft ist sehr komplex und eine allgemeingültige Theorie über diese gibt es bis heute nicht. Dennoch versu- chen Soziologen immer wieder neue Theorien zu entwickeln, die die zent- ralen Elemente, aufkommenden Probleme und Wirkungsweisen unserer Gesellschaft erklären. Auch der Soziologe Ulrich Beck entwickelte 1986 ein Konzept namens „Risikogesellschaft“, welches bis heute viel diskutiert wird.

Im Folgenden werden die Merkmale herausgearbeitet und anhand des Kli- mawandels gezeigt, in welchen Bereichen das Konzept sehr gut unsere heutige Gesellschaft erklärt.

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3 „Risikogesellschaft“- aktuelles Gesellschaftsmo- dell

Der Begriff Risikogesellschaft wurde vom Soziologen Ulrich Beck geprägt.

Dieser brachte 1986 auch ein gleichnamiges Buch heraus, in welchem er den Wandel der heutigen Gesellschaft thematisiert. Er verfolgt hier, wie er in seinem Buch selbst erklärt, den Anspruch „gegen die noch vorherr- schende Vergangenheit, die sich heute schon abzeichnende Zukunft ins Blickfeld zu heben.“ (Beck 1989) Die Grundthese in seinem Buch ist, dass die Menschen Augenzeugen eines Bruches innerhalb der Moderne sind. Es erfolgt ein Wandel der klassischen Industriegesellschaft und wir Menschen befinden uns nun eher in einer industriellen Risikogesellschaft. Beck spricht heute aber nicht von einer einfachen Modernisierung, wie wir es aus frühe- ren Jahrhunderten bereits kennen, sondern er spricht von einer reflexiven Modernisierung bzw. einer Modernisierung der Industriegesellschaft. An- ders als bei bisherigen Umbrüchen bleibt bei der neuen Form ein politischer Knall (Bsp. Revolution) aus und das neue Zeitalter steht nicht wie bisher im Widerspruch zur vorherigen Epoche, sondern zeigt nur eine konsequente Weiterentwicklung auf. Ulrich Beck versucht in seinem Buch die Leitidee einer reflexiven Modernisierung der Industriegesellschaft von zwei Seiten darzulegen. Zunächst zeigt er am Beispiel von Reichtumsproduktion und Risikoproduktion das Gleichgewicht bzw. Ineinander von Beständigkeit und Wandel. In der bisherigen Industriegesellschaft hat die Produktion von Reichtum dominiert, in der Risikogesellschaft wird nun aber eine Verände- rung deutlich und das Verhältnis der beiden Bereiche ändert sich. Nun ist nicht mehr wie bisher der Reichtum und dessen Produktion dominierend, sondern die Risikoproduktion. Dies stellt die Menschen vor neue Heraus- forderungen. Die weitere Seite, die betrachtet wird, kommt zum Vorschein, wenn man die Widersprüche zwischen Moderne und Gegenmoderne im Grundriss der Industriegesellschaft in den Fokus stellt. Hier betrachtet Beck zum einen die Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebens- formen und zum anderen die Generalisierung von Wissenschaft und Politik.

Was Beck genau unter diesen Bereichen versteht und wie er in diesen den

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15 Wandel zu einer Risikogesellschaft sieht, wird im Folgenden erklärt. Zwar wird auf fast alle Bereiche aus Ulrich Becks Buch eingegangen, einzelne Kapitel werden aber genauer und vor allem in Bezug auf den Klimawandel näher erläutert. (Beck 1996)

3.1 Das Konzept der Risikogesellschaft

„In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Ri- siken. Entsprechend werden die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft überlagert durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produ- zierter Risiken entstehen.“ (Beck 2016, S.25) Mit diesen beiden Sätzen lei- tet Ulrich Beck das erste Kapitel seines Buches ein und fasst kurz zusam- men, wie sich der Wechsel von einer Reichtumsverteilung zu einer Risi- koverteilung vollzieht. Dieser Wandel kann aber nur stattfinden, wenn min- destens zwei Grundbedingungen vorhanden sind. So muss zum einen in einer Gesellschaft zuerst die echte materielle Not tatsächlich weniger und sozial ausgrenzbar gemacht werden. Dies geschieht durch Rechte und so- zialstaatliche Sicherungen. Zum anderen darf die Modernisierung nicht stagnieren, sondern muss fortlaufend neue Entwicklungen und daraus re- sultierende Risiken produzieren, d.h. die Gesellschaft muss unter ständigen Veränderungen stehen mit allen positiven und negativen Entwicklungen.

(Beck 2016) Liegen diese Bedingungen vor, wird ein bisher geltendes Denk- bzw. Handlungsmuster durch ein anderes überlagert. So war in der bisheri- gen Industriegesellschaft zentral, wie man Reichtum am besten sozial un- gleich und zugleich legitim aufteilt. Nach dem Wechsel zur Risikoverteilung steht nun im Fokus, die mitproduzierten Risken zu vermeiden, zu beschö- nigen und dort, wo Nebenwirkungen auftreten, einzugrenzen. Es geht nun nicht mehr nur um das Herauslösen der Menschen aus materiellen Zwän- gen, sondern viel mehr um die Folgeprobleme technisch-ökonomischer Weiterentwicklung. Der Modernisierungsprozess wird so gesehen selbst zum Thema und in gewisser Weise zum Problem. (Beck 1989)

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3.2 Interpretation und Definition von Risiken

Doch was versteht Beck nun eigentlich genau unter diesen Risken? Und gab es Risiken nicht eigentlich schon vor der Neuzeit? Wer die Geschichte der Menschheit näher betrachtet, stößt auf viele Risiken, welche die Men- schen in verschiedensten Situationen auf sich nahmen. Diese Risiken be- zeichnet Beck, aber als „persönliche Risken“, welche mit den Worten Aben- teuer und Mut in Verbindung gebracht wurden. Die neuen Gefahren wie beispielsweise die Kernspaltung, betreffen aber jetzt nicht nur die persönli- che Ebene, sondern die gesamte Menschheit ist gleich betroffen. Außerdem werden die Risiken nicht mehr mit Abenteuer oder Mut assoziiert, sondern nun stehen diese mit der Vernichtung des Lebens auf der Erde in Verbin- dung. Des Weiteren waren frühere Risiken sinnlich wahrnehmbar, heutige Gefahren entziehen sich der menschlichen Wahrnehmung und sind nur durch chemische oder physikalische Formeln im Theoretischen sichtbar, im Praktischen können sie aber nicht durch Sinne wahrgenommen werden. Ein letzter Unterschied ist, dass wie oben schon beschrieben wurde, die heuti- gen Risiken aus dem modernen Fortschritt resultieren, deshalb werden sie auch als Zivilisations- oder Modernisierungsrisiken bezeichnet. Sie werden anders als frühere Risiken nicht durch einen bestimmten Auslöser hervor- gebracht, sondern wachsen mit dem technischen Fortschritt der Epoche.

(Beck 1989) In der folgenden Tabelle (sh. Abbildung 4) werden die Unter- schiede nochmal anschaulich gegenübergestellt:

Frühere Risiken Becks Risikointerpretation

Persönlich Global

Erkennbar mit den Sinnen Latente Erscheinung Werden aus bestimmtem Grund

hervorgebracht

Resultieren aus modernem Fort- schritt (Nebenfolge)

Abbildung 4:Unterschiede Risiken früher und heute

Nimmt man nun die drei beschriebenen Merkmale von Becks Risikointer- pretation, lassen sich verschiedene Modernisierungs- oder Zivilisationsrisi- ken erkennen. Zu diesen zählen in erster Linie ökologische Gefahren wie

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17 die Verschmutzung der Luft oder des Wassers, aber auch atomare Bedro- hungen sind neue Risiken und die Folgen, die daraus resultieren. Auch der Klimawandel kann zu einem neuen Risiko gezählt werden, er betrifft global alle Menschen auf der Erde, kann nur selten mit den Sinnen erkannt werden und alle Teile des Klimawandels resultieren aus dem modernen Fortschritt.

(Beck 2016)

Doch wenn die neuen Risiken nicht sichtbar sind und ein latentes Erschei- nungsbild haben, wie werden sie dann dennoch für uns als Gefährdung sichtbar? Hier kommt, laut Beck die Wissenschaft bzw. die Naturwissen- schaft ins Spiel. So bestimmt die Wissenschaft beispielsweise welcher Stoff und in welcher Menge dieser für die Menschen schädlich ist. Die Wissen- schaft bekommt dadurch eine Art Schlüsselposition, Ulrich Beck sieht dies aber nicht etwa positiv, sondern kritisiert dies auch stark in seinem Buch.

Beck sieht hier den Fehler im Umgang mit Risikomessungen, erfordert hier mehr den Einbezug einzelner Menschen und nicht die Pauschalisierung al- ler. Er ist also dafür mehr die Menschen in die Wissenschaft einzubeziehen und sie zu Themen direkt zu befragen als allgemein über sie zu sprechen.

„Eine natur- und produktorientierte Schadstoffanalyse ist nicht in der Lage, die Unbedenklichkeitsfrage zu beantworten, jedenfalls solange Bedenklich- keit oder Unbedenklichkeit etwas mit dem Menschen zu tun hat, die das Zeug schlucken, einatmen.“ (ebd., S. 34)

Dennoch fungiert die Naturwissenschaft in der Risikogesellschaft als Wahr- nehmungsorgan, durch Theorien, Experimente und Messinstrumente wer- den die Gefährdungen erst überhaupt sichtbar. Aussagen über Risiken be- inhalten im Wesentlichen immer eine theoretische, als auch eine normative Komponente, d.h. sie sind nicht auf reine Tatsachenaussagen reduzierbar.

Was Beck damit sichtbar machen möchte ist, dass eine reine Feststellung von beispielsweise Pestizide in Muttermilch keine zivilisatorische Gefähr- dungslage im Generellen darstellt. Erst wenn diese Erkenntnis mit einer kausalen Deutung verbunden wird, welche deutlich macht, dass dies eine Nebenfolge von Modernisierungsprozessen ist, wird es zu einem Risiko.

Erst wenn also eine normative Komponente und eine kausale Deutung

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18 zusammenkommen, wird das Problem von der Gesellschaft als Risiko ge- sehen. Es zeigt sich, dass die neuen Risiken ortsspezifisch aber auch un- spezifisch universell auftreten können. Des Weiteren wird deutlich, wie un- beständig und ungewiss die Wege der Schadensentwicklung sind. Es wird hier nun also inhaltlich-sachlich, räumlich und zeitlich Getrenntes kausal zu- sammengebracht und in einen sozialen und rechtlichen Verantwortungszu- sammenhang eingegliedert. Vermutungen zur Beziehung von Ursache und Wirkung sind aber theoretisch und entziehen sich prinzipiell menschliche Wahrnehmung. Die Theorie muss also ohne wirkliche praktische Beweise geglaubt werden. Ein Risiko wird also von der Wissenschaft durch die The- orie als Gefährdungslage eingestuft, dies muss von uns Menschen geglaubt werden. Nimmt man nun den Klimawandel als Beispiel bedeutet dies, dass dieser von der Wissenschaft durch verschiedene Forschungen als Gefahr eingestuft wird. Wir Menschen können nun diese Theorie zum Klimawandel glauben und Maßnahmen treffen damit das Risiko nicht eintrifft oder wir leugnen die Theorie und warten, ob die Wissenschaft mit ihren Vermutun- gen richtig liegt. (Beck 1989)

Die Risikofeststellung kann nicht nur rein theoretisch stattfinden, sondern ist immer mit anderen Bereichen verbunden. So fließen auch eigene Werte und Interessen in den Prozess der Risikodefinition ein, je nach Standort, Auftraggeber und Bereich sind andere Faktoren zentral und beeinflussen die Definition mehr. Bei der Diskussion was nun Risiko ist und was nicht,

„werden die Risse und Gräben zwischen wissenschaftlicher und sozialer Rationalität im Umgang mit zivilisatorischen Gefährdungspotenzial deut- lich.“ (Beck 2016, S.39) Doch auch wenn sich beide Rationalitäten immer mehr auseinander bewegen, sind sie trotzdem immer noch miteinander ver- bunden und aufeinander angewiesen. Ulrich Beck macht diese wider- sprüchliche Aussage durch folgenden Satz anschaulich: „Wissenschaftlich ohne soziale Rationalität bleibt leer, soziale ohne wissenschaftliche Ratio- nalität blind.“ (Beck 2016, S.40)

Die Offenheit bei der Risikodefinition und die verschiedenen Einflüsse auf die Wissenschaft stehen einander gegenüber. In der Risikogesellschaft gibt

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19 es daher keine einheitliche Interpretation, was eine Gefährdung ist und was nicht. Ein Unternehmen beispielsweise nutzt die Risikodefinition als Werk- zeug, um von selbst produzierten Gefährdungen abzulenken und diese im Vergleich von anderen produzierten Risiken verharmlosen bzw. zu beschö- nigen. Es ist also festzuhalten, dass die Reichweite, Dringlichkeit und Exis- tenz von Risiken sich je nach Wert- und Interessensvielfalt verändern.

Durch die Komplexität der Risiken ist es schwierig einen einzigen Akteur für ein bestimmtes Risiko verantwortlich zu machen. Je nach Lage können sich die Akteure eine Definition quasi aussuchen, die es ermöglicht die eigentli- che Verantwortung zu leugnen und bietet die Grundlage für das weitere Handeln. (ebd.) Nach Beck liegt genau hier der Systemgedanke der Risiko- gesellschaft: „Man kann etwas tun und weitertun, ohne es persönlich ver- antworten zu müssen.“. (Beck 2016, S.43) In der Risikogesellschaft ist also jeder Einzelne verantwortlich und auch wieder keiner, es wird physisch ge- handelt, ohne moralisch oder politisch zu handeln. Werden Risiken produ- ziert, wird diese Produktion legitimiert, indem diese den Status der latenten Nebenfolge bekommen. So gibt man die Gefährdung zwar zu, macht aber deutlich, dass man sie weder beabsichtigt noch vorhergesehen hat. „Das Denkschema der „latenten Nebenfolge“ steht also für eine Art Freibrief, ein zivilisatorisches Naturschicksal, das vermeidbar Folgen zugleich einge- steht, selektiv verteilt und rechtfertigt.“ (ebd., S.45)

Zusammenfassend ist also zu sagen, dass in der Risikogesellschaft eine Gefährdung erst anerkannt wird, wenn diese von der Naturwissenschaft in Verbindung mit allen Einflussfaktoren als solche definiert wurde. Außerdem muss das Risiko von der Gesellschaft als solches anerkannt werden. Erst wenn diese beiden Schritte passiert sind, wird das Risiko gesehen. Einen Schuldigen für ein bestimmtes Risiko gibt es nicht, da durch neue Definitio- nen immer andere Mitakteure gefunden werden können. Durch die „latente Nebenfolge“ legitimiert sich das ganze System und wird zu einem Kreislauf.

(Beck 1989)

(24)

20

3.3 Verteilung von Risiken

Was Beck unter Risiken versteht und was der Systemgedanke der Risiko- gesellschaft ist, wurde nun ausführlich erläutert. Doch wie verteilen sich die Risiken nun tatsächlich und was ist der Unterschied zur bisherigen Reich- tumsverteilung? Diese beiden Fragen werden im folgenden Unterkapitel nä- her betrachtet.

Reichtumsverteilung und Risikoverteilung unterscheiden sich grundsätzlich voneinander, dennoch gibt es Überschneidungen zwischen der Klassen- und der Risikogesellschaft. Betrachtet man die Historie der Verteilung von Risiken, könnte man im ersten Moment meinen, dass sich diese auch an das Klassenschema halten, nur umgekehrt wie bisher. So verteilen sich die Risiken auf die unteren Schichten und die Menschen sind hier viel mehr von diesen betroffen. Zum Mangel an ausreichender Versorgung durch wenig Geld können sich die Menschen beispielsweise nur wenig Essen, eine klei- nere Wohnung oder eine Wohnung in gefährlicherer Lage leisten, kommt nun durch die Risikoverteilung auch noch ein Mangel an Sicherheit dazu.

So sind die unteren Schichten viel mehr belastet und es wird der Anschein erweckt, dass das Klassenschema, in der ungleichen Reichtumsverteilung besteht, nun noch mehr verstärkt wird. Doch genau das trifft nicht den Kern der Risikoverteilung, so Beck. (Beck 1989) Verschärft sich nämlich eine Ri- sikolage, verringern sich dadurch automatisch die persönlichen Auswege und Eindämmungsmöglichkeiten. In Bezug auf „kleinere Risiken“, wie die Belastung von Nahrungsmittel, kann der Einzelne durch Reichtum dem Ri- siko ausweichen. Doch bei Risiken, die beispielsweise die Wasserversor- gung betreffen, kann der Einzelne durch Reichtum nicht mehr viel ausrich- ten, da alle Haushalte, egal welche Schicht, an der gleichen Wasserversor- gung hängen. Bei den Modernisierungs- und Zivilisationsrisiken werden also alte Klassenschemata aufgebrochen und es ergibt sich ein Wandel in der Verteilung. Beck beschreibt diesen Sachverhalt mit folgendem Satz:

„Not ist hierarchisch, Smog demokratisch.“ (Beck 1989, S.47) So wird noch- mal deutlich, dass neue Risiken, sobald sie eine gewisse Größe haben,

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21 keine Grenzen mehr kennen und alle Schichten und Klassen gleich betref- fen. Auf nationaler Ebene betrachtet, bringt das Risiko eine egalisierende Wirkung mit sich und überdeckt die bisher geltenden sozialen Ungleichhei- ten. Statt Klassenkonflikte treten nun Konflikte über den Umgang mit den neuen Risiken und die Definition dieser in den Fokus. Nun ergibt sich zwar eine Gleichstellung der Gefährdungslagen, dennoch darf nicht übersehen werden, dass neue soziale Ungleichheiten unter den Betroffenen internati- onal produziert werden. So entsteht nun nicht eine ungleiche Verteilung zwi- schen der Klassen eines Landes wie bisher, sondern die Verteilung verla- gert sich international auf die verschiedenen Länder. Vor allem Entwick- lungsländer sind von den neuen sozialen Ungleichheiten betroffen, so wer- den Produktionen von verschiedensten Gütern ins Ausland verlegt. Hier sind die Menschen von den Risiken, die mit der Produktion einhergehen, schneller betroffen und müssen versuchen mit diesen zu leben. Dies hält die Risiken aber auch nicht immer von den reicheren Ländern fern, irgend- wann kommen die Risiken auch in diese Länder zurück. Ulrich Beck spricht hier von einer Boomerang-Wirkung, diese schrumpft die Weltgesellschaft nach einer gewissen Zeit auf eine Gefahrengemeinde zusammen. Wie beim Werfen eines Boomerangs können die reicheren Länder zunächst die Risi- ken von sich wegschieben durch z.B. die Auslagerung der Gefahren in ein Entwicklungsland. Nach einer gewissen Zeit kommen die Risiken aber wie- der zu dem „Werfer“ des Boomerangs zurück und alle sind nun betroffen von den Risiken. Es wird deutlich, dass sich in der Risikogesellschaft klas- sen- und risikogesellschaftliche Ungleichheiten überlagern oder bedingen können. So werden die Folgen, die aus einer klassengesellschaftlichen Un- gleichverteilung resultieren, beispielsweise unterschiedlicher Reichtum und daraus resultierende Nöte, verwendet, um das Ignorieren von unsichtbaren Risiken zu rechtfertigen. Genau dieser Sachverhalt ist die politische und kulturelle Grundlage, damit Risiken und Gefährdungen sich weiterentwi- ckeln können. Durch den Nachweis von Not wird aber nur die Wahrneh- mung der Risiken unterdrückt, Wirklichkeit und Wirkung bleiben weiterhin bestehen. So wachsen die Gefahren täglich ein wenig mehr an, unsere

(26)

22 Gesellschaft geht dagegen aber nicht präventiv vor, sondern versucht im- mer noch den besten Gewinn aus einer Sache zu ziehen und deswegen die Risiken zu leugnen. So sind die Länder zwar alle „gleichermaßen“ von den Gefahren betroffen, trotzdem schaffen sie es nicht eine gemeinsame Politik zu bilden. Es wurde zwar ein Anfang gemacht durch internationale Abkom- men und Absprachen, diese liegen aber bei weitem noch nicht in dem Um- fang vor, den es bräuchte, um gemeinsam präventiv gegen Risiken vorge- hen zu können. Auch wenn sich kein einheitlicher politischer Weg erkennen lässt, wandelt sich das ganze Wertesystem der Gesellschaft. Es steht nun nicht mehr wie bisher das Ungleiche im Fokus, sondern der Wert der Unsi- cherheit. Anders als beim vorherigen Wertesystem ist es nun nicht mehr zentral etwas Gutes zu erreichen, sondern es ist wichtig das Schlimmste zu verhindern. Ziel der Risikogesellschaft ist es also, dass alle von den Gefah- ren verschont bleiben. Mit der Veränderung des Wertesystems geht auch ein Wandel der Grundsituation einher. Daher ist nun die treibende Kraft für alle die Angst und nicht mehr der Hunger. Es entsteht eine Solidarität der Angst, welche zur politischen Kraft wird. Wie die Bindekraft der Angst wirken wird, ist aber noch völlig offen. Diese Angst kann vieles bewirken, so kann sie entweder das Bewusstsein für die Gefahr stärken oder es wird die Leug- nung der Gefahr provoziert. So kommt es, dass die Gefahr zwar immer grö- ßer wird, mit ihr aber auch die Wahrscheinlichkeit der Leugnung und Ver- harmlosung. Hier kommt wieder das Wissen ins Spiel, Risiken werden durch Wissen erkannt, können aber auch durch dieses verkleinert und ver- harmlost werden. Durch das Wachsen der Gefahren und der Tatenlosigkeit der Politik wird die Risikogesellschaft selbst zum Sündenbock. So provozie- ren nun nicht mehr die Gefahren Unruhen und Angst, sondern diejenigen, die die Risiken aufzeigen. Durch diesen Prozess werden radikale und fana- tische Reaktionen begünstigt und die Politik bekommt immer mehr Gegen- wind. Hilflosigkeit und Angst stützen Aussagen über Schuldige und führen dazu, dass die Menschen die absurdesten Theorien glauben. In der Risiko- gesellschaft werden nun also neue Fähigkeiten benötigt, die Menschen müssen lernen mit den Gefahren zu leben und mit diesen umzugehen, sei

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23 es politisch oder biographisch. Systeme, die bis jetzt zur Bewältigung bei- getragen haben, beispielsweise Familie oder Ehe, verlieren an Bedeutung.

Die Verarbeitung liegt nun bei jedem selbst und jeder muss seine eigene Art der Bewältigung finden. Daraus ergeben sich auch neue Anforderungen und Aufgaben an Institutionen, Politik und Therapie. Der Umgang mit Angst und Unsicherheit wird laut Ulrich Beck politisch und biographisch zu einer zivilisatorischen Schlüsselqualifikation. Welche Fähigkeiten dafür ge- braucht werden und wie diese erlernt werden, wird eine neue Herausforde- rung für die Pädagogik. (Beck 2016)

Was bedeutet dies nun für das Leben in einer Risikogesellschaft? Zusam- menfassend kann über das Leben in der Risikogesellschaft folgendes ge- sagt werden:

1. Die Menschen sind mit drohenden Gefahren konfrontiert, diese kön- nen ausbrechen, müssen aber nicht. Zeigen aber immer wieder durch verschiedene Vorkommnisse (z. B. Tschernobyl, Coronavi- rus), dass sie durchaus real sind. (Beck 1989)

2. Würden die Menschen die Gefährdungen erkennen und sehen, käme das laut Beck einer Selbstvernichtung gleich, dieses Argument aktiviert Handlungen und macht die Gefahr real. Gefährdungslagen werden nun für alle Menschen gleich zur Gefahr und haften nicht mehr am Klassenbegriff, Risiken sind universell und nicht spezifisch.

(ebd.)

3. Dennoch sind die Menschen unterschiedlich betroffen und je weniger die Existenz direkt betroffen ist, desto mehr Risikobewusstsein und Engagement entwickeln die Menschen. (ebd.)

4. Durch die Universalität der Risiken entwickelt sich nicht wie bei an- deren Gefährdungen eine soziale Einheit. Es bestimmt nun also das Bewusstsein (Wissen) das Sein, d.h. durch das Wissen wird

(28)

24 bestimmt, wer man ist, bisher wurde das Wissen, das man besaß, bestimmt durch mein Sein. Hier wird wieder sehr deutlich, was für eine große Rolle die Wissenschaft spielt. So konnten die Menschen bis jetzt immer Wissen erlangen durch Selbsterfahrung, dies ist jetzt nicht mehr möglich und die Gesellschaft ist angewiesen auf Verfah- ren der Wissenschaft, um herauszufinden, was ein persönliches Ri- siko darstellt. In der Risikogesellschaft sind wir Menschen also auf eine gewisse Weise fremdwissensabhängig. (ebd.)

5. Die zunehmende Sichtbarkeit von Risiken, wächst einerseits die Ver- wissenschaftlichung dieser und andererseits wird ein wirtschaftlicher Aufschwung bedingt. Durch verschiedene Risikodefinitionen, die von der Wissenschaft gemacht werden, können unterschiedliche Bedürf- nisse entstehen. Daraus ergeben sich neue Märkte, die einen Auf- schwung erleben. Folgendes Beispiel soll dies etwas deutlicher ma- chen: Bisher galten Autos, egal welchen Kraftstoff sie brauchten, als nützliches Fortbewegungsmittel. Die Menschen kauften diese in un- terschiedlichsten Farben, Formen und Ausstattungen, es war normal ein Auto zu fahren. Nun hat die Wissenschaft entdeckt, dass es ab- gasintensivere Autos gibt und welche, die nicht so viele Abgase pro- duzieren. Wegen dieser Erkenntnis verlieren einige Autos nun an An- sehen und werden weniger gekauft. Andere Autos, in diesem Bei- spiel Elektroautos, erleben nun einen Aufschwung und es werden neue Märkte geschaffen. Die Wirtschaft ist also selbst-referentiell, sie assimiliert die Risiken und gebraucht sie für die eigene Logik, anstatt die Risiken von Grund auf zu vermeiden. Dies gelingt aber nur so lange wie die Risiken bestehen bleiben und nicht beseitigt werden.

Die Industriegesellschaft profitiert also von den Risiken, die sie selbst produziert, und schafft so soziale Gefahren und politisches Potenzial.

(ebd.)

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25 6. Mit der Risikogesellschaft kommt ein ungewisses und nicht bestän-

diges Zeitalter auf die Menschen zu, dies führt zum Hinterfragen von alltäglichem Wahrnehmen und Denken. (ebd.)

7. Durch die neuen Gefährdungen entsteht eine „Solidarität der leben- den Dinge“ (Beck 2016, S.99) ,d.h. alle Lebewesen auf der Erde sind gleich von den Bedrohungen betroffen und es entsteht eine Gemein- samkeit zwischen Erde, Pflanzen, Tieren und Menschen.

8. Die neuen Risiken bringen Angst und Unsicherheit mit sich, dadurch entsteht eine Leugnung der Gefahrenlagen. Dies bedingt wiederum das Suchen nach einem Schuldigen, welches zur Folge hat, dass die Gefahren nun nicht mehr eine Unruhe provozieren, sondern die Per- sonen, die auf Gefahren aufmerksam machen. (ebd.)

9. Durch die ständige Angst vor Risiken ergeben sich neue Herausfor- derungen für die Menschen, so müssen sie lernen mit diesen biogra- phisch und politisch umzugehen. Dieser Umgang bzw. die Selbstver- arbeitung wird zu einer neuen zivilisatorischen Schlüsselqualifika- tion. (ebd.)

3.4 Individualisierung in der Risikogesellschaft

Wie die unterschiedlichen Risiken verteilt sind, ist zwar eine wesentliche, aber nur eine Dimension der Risikogesellschaft. So ergeben sich durch die neuen globalen Gefährdungslagen auch persönliche und kulturelle Heraus- forderungen für die Menschen. Die neue Konflikt- und Entwicklungsdynamik wird also von gesellschaftlichen, biographischen und kulturellen Unsicher- heiten überlagert, welche das bisherige Leben der Menschen neu struktu- riert. Diese wechselseitige Beziehung zwischen diesen Bereichen macht die Dynamik der Risikogesellschaft aus. Die neue Moderne hat also nicht nur unsere Erde getroffen, sondern auch das System der

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26 Industriegesellschaft. So wandelt sich die Gesellschaft und ihre bisherigen Systeme, Stände und Klassen, die bis dahin wichtig waren, verlieren an Be- deutung und jeder Einzelne rückt in den Fokus. „Der oder die einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen.“ (Beck 2016, S.119) Dies bringt einerseits neue Möglichkeiten für die Menschen mit sich, andererseits geht dieser Prozess auch mit einer Unsicherheit ein- her. So gelten Normen und Regeln, die bisher für Sicherheit sorgten, nicht mehr und die Menschen suchen nach neuen bzw. alternativen Sozialfor- men, die wieder eine Sicherheit bringen. Ulrich Beck spricht bei diesem Pro- zess von der Individualisierung in der Risikogesellschaft. In den letzten Jah- ren hat sich das Leben der Menschen in Bereichen wie Mobilität, Bildung, Einkommen usw. gewandelt und das für alle Menschen. Natürlich gibt es auch weiterhin soziale Ungleichheiten, diese wurden aber durch die verän- derten Lebensbedingungen abgemildert. So hat beispielsweise ein Um- bruch im Verhältnis von Arbeit und Leben stattgefunden. (ebd.) Die Men- schen haben mehr Freizeit und Zugang zu Massenkonsum, und so lösen sich Klassengrenzen scheinbar auf. Diesen Vorgang bezeichnet Beck als

„Fahrstuhl-Effekt“, die Klassengemeinschaft wurde allgemein eine Stufe hö- her eingeordnet, denn alle Klassen sind in der sozialen Hierarchie aufwärts mobil. Der Arbeitsmarkt und der Konsum geben den Menschen ihre Orien- tierung wieder. Aber nicht nur diese beiden Bereiche können leitend für die Menschen sein, sondern auch Bürgerinitiativen, Umweltorganisationen usw. die sich mit den Modernisierungsrisiken beschäftigen, können als Leit- linie für das eigene Leben dienen. Durch diese verschiedenen Bereiche be- kommen die Menschen ihre verlorene Sicherheit in einer so unsicheren Zeit ein Stück weit wieder. Auch die Politik versucht den Menschen durch ver- schiedene Aussagen und Informationen eine gewisse Sicherheit zu geben.

Das Leben der Menschen ändert sich also in der Risikogesellschaft. Sys- teme und Institutionen, die bisher Stabilität und Orientierung vermittelten, verlieren ihre Bedeutung und müssen durch individuelle Orientierungslei- tung ersetzt werden. (ebd.)

(31)

27 Kritik an der Risikogesellschaft

Aber natürlich gibt es auch einige Kritikpunkte an Ulrich Becks Theorie. So wurde oft kritisiert, dass Beck die sozialen Ungleichheitsverhältnisse ver- schleiert. Wie oben beschrieben ist Beck der Auffassung, dass Klassen und Schichten immer mehr an Bedeutung verlieren bzw. verschwinden. Viele Kritiker stimmen Beck zwar in diesem Punkt teilweise zu, betonen aber auch gleichzeitig, dass eine zunehmende Vielfalt an Individualisierung nicht be- deutet, dass die Gesellschaftsstrukturen verschwinden. Sie zeigen an ver- schiedenen Beispielen auf, dass die sozialen Ungleichheiten immer noch wesentlich das Handeln und die Lebenschancen des Einzelnen bestimmen.

Mit Hilfe eines Beispiels aus der Bildung soll dies veranschaulicht werden.

(Neureiter 2014) So ist in unserer heutigen Zeit zwar inzwischen jedem die Möglichkeit auf eine Schulbildung gegeben, wenn es aber darum geht, sich nach der Schule weiterzubilden, werden die sozialen Ungleichheiten wieder präsent. Will ein Kinder beispielsweise nach seinem Abitur auf eine Hoch- schule gehen, scheint dies auf den ersten Blick zwar möglich, nach nähe- rem Betrachten werden aber die verschiedenen Hürden sichtbar. So kön- nen es sich viele Familien nicht leisten ihre Kinder auf die Universität zu schicken, weil sie die finanziellen Mittel dazu nicht haben. Natürlich gibt es Hilfsangebote, aber auch hier müssen verschiedene Kriterien erfüllt wer- den. Viele junge Erwachsene fallen aus diesem Raster und können es sich nicht leisten, das zu studieren, was sie gerne wollen. Natürlich haben sich die Umstände verbessert und es werden den jungen Erwachsenen viel mehr Chancen geboten als früher, aber es gibt immer noch deutliche Un- gleichheiten. Einer, der diese Verschleierung von Beck kritisiert, war Rainer Geißler. In einem Aufsatz liegt hier, laut Geißler, ein elementarer Irrtum der Sozialstrukturanalyse vor. (Geißler 1996)

Betrachtet man Ulrich Becks gesamte Werke, nimmt die Risikogesellschaft eine zentrale Rolle ein. Die Risikogesellschaft stellt laut Beck eine Über- gangsphase zwischen der früheren Moderne und der neuen Moderne dar.

Die heutige Modernisierung unterscheidet sich radikal vom bisherigen Zeit- alter der Industriegesellschaft und so hat sich ein Bruch in der Modernen

(32)

28 ergeben. Laut Beck dient die Risikogesellschaft nur als Zwischenstation und muss überwunden werden, damit eine Weltbürgergesellschaft erreicht wer- den kann. Dennoch fand Becks Konzept in der Gesellschaft großen Zu- spruch, da er mit diesem den Nerv der Zeit getroffen hat. Auch in Bezug auf den Klimawandel bringt Becks Theorie der Risikogesellschaft Licht in die Denk- und Handlungsweisen der Menschen. Es erklärt, was der Klimawan- del als Risiko mit den Menschen macht und wie die Gesellschaftsstrukturen darauf reagieren. Da aber in dieser Masterarbeit Kinder und Jugendliche im Fokus stehen, wird im nächsten Kapitel auf verschiedene Strukturen und Systeme eingegangen, die unmittelbar mit deren Leben verbunden sind. So wird zunächst die Jugendpartizipation anhand des Beispiels Fridays for Fu- ture näher erläutert, anschließend wird das Generationenverhältnis in der Risikogesellschaft betrachtet und welche Auswirkungen der Klimawandel als aktuelles Risiko auf dieses hat.

4 Klimawandel und Gesellschaft

Wie Ulrich Becks Konzept der Risikogesellschaft zeigt, sind Risiken mit un- serem täglichen Leben verbunden. So zählt auch der Klimawandel zu solch einem Risiko und findet sich in unserer Gesellschaft wieder. Vor allem die Politik ist sehr mit den Risiken und ihren Folgen beschäftigt. In diesem Kon- text stellt sich auch die Frage nach Jugendpartizipation, nach der Möglich- keit der Jugendlichen ihre Zukunft mitzugestalten, ganz dringend. Der Im- puls für die Mitbestimmung geht aber nicht von den Erwachsenen aus, son- dern die Kinder und Jugendlichen zeigen durch die Fridays for Future Be- wegung auf, dass die Politik nicht zukunftsorientiert handelt und nicht mutig mit der Klimakrise umgehen. In diesem Kontext wird die alte Frage, inwie- weit Kinder und Jugendliche in der Politik mitbestimmen dürfen und können, wieder virulent.

Die Frage, ob die Politik jugendgerecht gestaltet ist und in welchem Ausmaß Jugendliche sich beteiligen können, findet man in vielen Bereichen wieder.

Doch wie könnten die beiden Bereiche der Jugend und der Politik

(33)

29 verbunden werden? Wie könnte es aussehen, wenn die junge Generation mitbestimmen darf? Oft wird diskutiert, dass Wahlalter zu senken und Ju- gendliche früher wählen zu lassen. Hat es den Nutzen, um beide Bereiche zu vereinen? Genauer betrachtet sieht man, dass die Änderung des Wahl- alters nur ein kleiner Teil von einem großen Gebiet ist. Natürlich ist es nütz- lich, das Wahlalter zu verändern, wenn das aber die einzige Änderung bleibt, bringt es wiederrum nichts. Viele Umfragen zeigen, dass Jugendliche durchaus politisch interessiert sind und sich über vieles informieren. Bleibt der Prozess, der Politik und Jugend zusammenbringen soll, weiterhin ste- hen, kann es langsam und still zu einem auseinanderklaffen der beiden Be- reiche kommen. Dies kann unerwünschte Folgen haben und zu nicht revi- dierbaren Herausforderungen für Demokratie und Gesellschaft führen. Im Folgenden soll ein Überblick gegeben werden, was unter Jugendpartizipa- tion verstanden wird und welche Grundlagen geschaffen werden müssen, damit die junge Generation nicht mehr ausgeschlossen wird.

4.1 Jugendpartizipation

Betrachtet man das Wort Jugendpartizipation genauer, besteht es eigent- lich aus zwei Teilen. Jugend zu definieren fällt nicht weiter schwer und jeder kann sich darunter etwas vorstellen. Doch was heißt eigentlich Partizipation genau? Schlägt man das Wort in einem Wörterbuch nach, findet man dort folgende Bedeutung:

Partizipation kommt vom lateinischen Wort participare und hat mehrere Be- deutungsmöglichkeiten. (PONS GmbH 2016) Es kann einerseits bedeuten, sich an etwas zu beteiligen, zu etwas Zugang zu haben, beispielsweise im Bildungssystem oder am Arbeitsmarkt. Andererseits kann es bedeuten, et- was mitzugestalten. Hier unterscheidet man zwischen zivilgesellschaftlicher Partizipation in Nachbarschaftsgruppen, Vereinen etc., und politischer Par- tizipation, welche formal sein kann (Wahlgang, Parteimitglied) oder eher in- formell und spontan wie in Demonstrationen.

(34)

30 Vereint man nun die Partizipation noch mit dem politischen Charakter, ver- steht man alle freiwilligen Handlungen, die ein Jugendlicher unternimmt, mit dem Ziel Einfluss auf politische Prozesse auszuüben. Es gibt verschiedene Formen wie diese Beteiligung aussehen kann, die genauen Arten, die ge- nannt werden, dienen nur als Beispiel, natürlich passen mehrere Dinge zu den verschiedenen Formen. (Gürlevik und Hurrelmann 2016)

1. Verfasste oder nicht-verfasste Form: Unter der verfassten Form ver- steht man eine Form, die gesetzlich verankert und institutionalisiert ist wie beispielsweise die Wahlen. Die zweite Möglichkeit ist nichts von beiden, wie z.B. eine Bürgerinitiative. (ebd.)

2. Konventionelle oder unkonventionelle Form: Unter ersterem ist eine Mitgliedschaft in einer Partei gemeint, die zweite Form wäre eine Teilnahme an einer genehmigten Demonstration. (ebd.)

3. Legale oder illegale Form: Eine legale Form wäre eine Wahl. Bei der illegalen Möglichkeit gibt es nochmals zwei Unterkategorien. So ist es hier wichtig zu unterscheiden ob die Form gewaltfrei oder gewalt- sam vorliegt. Ersteres wäre dann beispielsweise eine Hausbeset- zung, unter zweiterem sind alle Arten von Personen- und Sachbe- schädigungen gemeint. (ebd.)

4. Direkte und indirekte Form: diese Unterscheidung ist seltener zu fin- den, sollte aber dennoch erwähnt werden. Unter Ersterem zählt ein Plebiszit, also eine Volksabstimmung oder eine Volksbefragung, zur zweiten Form zählen Wahlen. (ebd.)

5. Akzeptierte und nicht akzeptierte Form: Hier sind vor allem die For- men unter Punkt drei ausschlaggebend. Ob die Formen von der Ge- sellschaft akzeptiert werden oder nicht, ist auch damit verbunden, ob die Dinge legal oder illegal geschehen sind. (ebd.)

Zwar sind Wahlen in vielen der Partizipationsformen zu finden, wie oben erwähnt reicht aber die Ausweitung des Wahlrechts nicht allein, um Kinder und Jugendliche eine größere Beteiligung zu ermöglichen. Mehr noch würde die Berechtigung zu den Wahlen nur die Stärkung der Starken zu Folge haben. Das soll nicht heißen, dass man weiterhin Kindern und

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31 Jugendlichen die Teilnahme an Wahlen verwehren soll. Sondern neben die- sem Schritt müssen viele weitere begleitende Maßnahmen unternommen werden, damit soziale Ungleichheiten nicht gestärkt werden und alle davon profitieren. Die Maßnahmen, die ebenfalls noch notwendig sind, sollen sich aber auch an Gruppen richten, die schon wählen dürfen. Denn die Möglich- keit wählen zu können, ohne die Fähigkeit wählen zu können oder zu wol- len, ergibt keinen Sinn. (Gürlevik und Hurrelmann 2016) Doch was für Maß- nahmen müssen unternommen werden, um die Kinder und Jugendlichen zu befähigen? Der Ansatz der Verwirklichungschancen von Amartya Sen führt die individuelle Befähigung zur Partizipation und die Frage nach den Handlungsspielräumen zusammen. Der Ansatz beschreibt „Möglichkeiten und Fähigkeiten von Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten, und das die Grundlage der Selbstachtung nicht in Frage stellt.“ (Sen 2001) Hier werden zwei bestim- mende Faktoren der Verwirklichungschance unterschieden. Das eine ist das individuelle Potenzial und das andere die instrumentelle Freiheit, wich- tig hierbei ist, dass das Ineinanderwirken beider den Umfang der Verwirkli- chungschance bestimmt. (Gürlevik und Hurrelmann 2016) Der Kernge- danke wird von Peter Bartelheimer passend mit Hilfe einer Illustration des Soziologen Jean-Michl Bonvin folgend zusammengefasst:

„Wer die Chance haben soll, Rad zu fahren, benötigt dafür zunächst ein Rad oder den Zugang zu einem Rad“. (Bartelheimer 2007, S.77ff) Darüber hinaus muss dieser jemand „Rad fahren können“ (ebd.; individuelles Poten- zial) „und es muss hierfür eine gesellschaftliche Infrastruktur geben, also Straßen und Wege, und schließlich muss das Radfahren auch erlaubt sein“

(ebd.; dies kann unter die instrumentellen Freiheiten bzw. die gesellschaft- lich bedingten Chancen subsumiert werden) „So kann Wahlfreiheit entste- hen: Wählt jemand das Radfahren als ihm angemessene Form der Mobilität oder hat er keine Wahl, weil ihm andere Verkehrsmittel nicht zur Verfügung stehen ? Erst im Wissen um all diese Faktoren lässt sich auch bewerten, warum eine Person mehr Rad fährt als eine andere. Fährt jemand nicht Rad, so kommt es in diesem Modell also darauf an, ob er es nicht will oder

(36)

32 ob er es nicht kann. Das Ziel wäre dann nicht, dass alle gleich viel Rad fahren, sondern dass alle so viel Rad fahren können, wie sie wollen“. (Bar- telheimer 2007, S.78f)

Der Ansatz der Verwirklichungschance zeigt, dass die politische Partizipa- tion mindestens von vier verschiedenen Seiten betrachtet werden muss und dass das Ändern des Wahlrechtalters allein bei weitem nicht genügt. Die vier Sichtweisen werden vorgestellt und erklärt was unter diesen verstanden wird.

1. „Darf ich Rad fahren?“- instrumentelle Freiheit: Hier wird die Frage gestellt, inwieweit Kinder und Jugendliche Zugang zu den verschie- denen Partizipationsformen haben. Werden ihnen Hürden beispiels- weise durch das Alter gestellt? (Gürlevik und Hurrelmann 2016)

2. „Kann ich Rad fahren?“- individuelles Potenzial: Alle Menschen soll- ten die Möglichkeit bekommen frühzeitig und fortlaufend befähigt zu werden, sich an politischen Prozessen mitbeteiligen zu können. Es ist wichtig zu lernen, was das eigene Interesse ist und wie sich dies mit den gesellschaftlichen Interessen deckt und wie jeder Einzelne mitbestimmen kann. Die Forderung nach mehr Partizipation muss also gleichzeitig einhergehen mit der Forderung nach mehr politi- scher Bildung. „Demokratische Gesellschaften müssen sicherstellen, dass all ihre Mitglieder die Möglichkeit haben, ihre individuellen Po- tentiale so weit zu entwickeln und fortdauernd zu reflektieren, dass sie dazu in der Lage sind, an der politischen Öffentlichkeit teilzuha- ben.“ (Gürlevik und Hurrelmann 2016)

3. „Will ich Rad fahren?“ – individuelles Potenzial: Aber nicht nur die Frage nach dem Handeln können ist wichtig, sondern auch die Frage nach der Verhaltensabsicht des Einzelnen. Jeder entscheidet selbst darüber, ob er bereit ist zur Ausführung einer politischen Aktivität.

Aus Sicht der politischen Bildung kann sich ein Mensch aber erst

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