Mundus vult decipi, ergo decipiatur!
Skrupellose Arzneimittel- fabrikanten haben sich die- ses Wortes in Bezug auf den Vertrieb neuer Arzneimittel und die Empfehlung neuer Heilmethoden des Öfteren bedient. Und wie ein Heu- schreckenschwarm ergießt sich denn auch das Heer neuer
„Heilmittel“ über das Volk.
Nur wenig Brauchbares und die wissenschaftliche Er- kenntnis Förderndes sind darunter, desto mehr aber al- lerlei zweckloses Anorgani- sches und Organisches aus dem Gebiet der Chemie.
Wohl selten hat sich im Laufe der Jahrhunderte das Kurpfu- schertum so breit gemacht wie heutzutage, aber selten wohl auch fand es ein so leichtgläubiges und aufnah- mebereites Publikum wie das unserer Zeit. (. . .) Dem Laien fehlt natürlich das Augenmaß dafür, was reelle chemische Fabriken an einwandfreien
Präparaten auf den Markt bringen und durch Ärzte be- fürworten lassen, oder was den Stempel des Schwindels auf der Stirn trägt.
Es gibt kein Leiden, keine Krankheit, kein Unbehagen, gegen welches moderne Heil- mittelfabrikanten nicht ein Kräutlein hätten wachsen las- sen oder ein Tablettlein ge- formt hätten. Gegen Tuberku- lose, Magen- und Darmkrank- heiten, Asthma, Bronchitis und Keuchhusten, gegen Mi- gräne, Rheumatismus, Harn- und Blasenleiden, gegen Dys- pepsie und rote Nasen, Flech- ten und Fettleibigkeit, Zucker- krankheit und Epilepsie, ge-
gen Hämorrhoiden und Fu- runkel und was der menschli- chen Gebrechen mehr sind, finden sich in angesehenen Tageszeitungen zu Hunderten Anpreisungen von Mitteln, nach denen der Kranke oder der durch Krankheitsbe- schreibungen ängstlich ge- machte wie nach einem Hoff- nungsanker greift. (. . .)
Bedenken erregen die An- erbietungen von Mitteln zur Vergrößerung des weiblichen
Busens. Anpreisungen dieser Art in unzähligen Varianten kann man in den gelesensten Tageszeitungen finden. Nähr- pulver werden empfohlen, um „üppigen Busen und volle Körperform“ zu erlangen.
Nach dem Gebrauch von ei- nem dieser Mittel heißt es:
„Die Brust wölbt sich und schwillt zu vollendeter Run- dung. Wie durch Feenhände hervorgebracht! In 15 Minu- ten eine Schönheit.“ Als
„einzig sicher wirkende“ Mit- tel werden „japanische Bu- sencreme und Busenwasser“
empfohlen. Büstenwasser, Busenbalsam, Busenrestau- rator sind Grazinol, Büsteria
– einige Namen für „Busen- mittel“, für die es gewiss an Absatz nicht fehlt. Zu den betrügerischen Arzneimitteln gehören die stetig unter neu- en Namen auftauchenden Mittel gegen die Trunksucht.
Mir in letzter Zeit aus London zwecks Untersuchung zuge- sandte Präparate dieser Art bestanden im Wesentlichen aus Natriumbikarbonat, das mit etwas ätherischem Öl par- fümiert war.
Man fragt sich erstaunt, wie es möglich ist, dass in un- serem aufgeklärten naturwis- senschaftlichen Zeitalter so ein starkes Überwuchern des Heilmittelschwindels eintre- ten konnte. Die Strafgesetze versagen vielfach und können dem rapid um sich greifenden Übel der Überflutung des Volkes mit „Heilmitteln“, durch deren Anpreisungen falsche Tatsachen vorgespie- gelt werden, nicht steuern.
Die Gesetzgebungsmaschine auf diesem Gebiet arbeitet langsam. Das für Deutsch-
land vorgesehene, im Entwurf vorliegende Kurpfuscherei- gesetz, welches, wenn auch nur in bescheidenem Maß, Wandel zu schaffen ver- spricht, harrt noch seiner Durchberatung im Reichstag.
Die warnenden Stimmen der Fachleute, besonders auch der Ärzte, verhallen wie im Wind. Ja, man kann nicht leugnen, dass die Ärzte die Abstellung der auf dem Heilmittelmarkt beobachte- ten Übelstände vielfach da- durch erschweren, dass die Vertreter der Schulmedizin ihre Ordinationen nicht mehr individuell gestalten, sondern sich nicht gar selten auch der fertig abgepackten Arzneifor- men, der so genannten Spe- zialitäten, für die Krankenbe- handlung bedienen. (. . .)
Der Arzt ist nun zwar in der Regel in der Lage, zwi- schen einem reellen Arznei- mittel, auch wenn es sich in ei- ner besonderen Zubereitung befindet, und einem Geheim- beziehungsweise Schwindel- mittel zu unterscheiden, der Laie kann dies jedoch nicht.
Es liegt daher im Interesse ei- ner ordnungsgemäßen Arz- neimittelversorgung des Vol- kes, dass dieses den vielfach schwindelhaften Anpreisun- gen der Heilmittel in der Ta- gespresse nicht blindlings Glauben schenkt, sondern sich wieder mehr des Rates und der Hilfe der Schulmedi- zin, des Arztes, bedient. (. . .)
Dieser Text erschien in der „Naturwis- senschaftlichen Wochenschrift“, Neue Folge, 9. Band, 1910, S. 11 f. Gesam- melt wurde er von Hans-Joachim Maes.
V A R I A
A
A1772 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 25½½½½21. Juni 2002
Über modernen Heilmittelschwindel
In 15 Minuten eine Schönheit
Der Autor dieses Textes aus dem Jahr 1910, Prof. Dr. H. Thoms, Berlin-Steglitz, war Direktor des Pharmazeutischen Instituts der Universität. Thoms hat unter anderem Bemer-
kenswertes zur Geschichte der Produktion von Pharmaka publiziert.
Feuilleton