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Archiv "Geschichte der Psychiatrie: Wahnsinn ist keine Krankheit" (19.08.2011)

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A 1734 Deutsches Ärzteblatt

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arum ist überhaupt Psych - iatrie und nicht vielmehr keine Psychiatrie?“ fragt der Psych - iater und Soziologe Klaus Dörner in seinem Buch „Bürger und Irre – Zur Sozialgeschichte und Wissen- schaftssoziologie der Psychiatrie“

(1969) und meint damit die Frage nach ihren Ursachen und Bedingun- gen, ihren Aufgaben und ihrem Zweck. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts schreibt man die Geschichte dieses Fachs vornehm- lich als Fortschrittsgeschichte. Er- win Ackerknecht etwa geht von den Begriffen „Wissenschaft“ und

„Wissenschaftlichkeit“ aus: Auf eine wissenschaftliche Periode der Griechen folgen fast 2 000 Jahre ohne nennenswerte Entwicklung, und Ende des 18. Jahrhunderts wird das Fach Psychiatrie, wie wir es heute verstehen, begründet.

Noch 1999 lässt Edward Shorter seine „Geschichte der Psychiatrie“

mit der Behauptung beginnen: „Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts gab es keine Psychiatrie.“ Ihre Geschich- te erzählt er „geradlinig“: Beginnend mit den ersten Heilanstalten Ende des 18. Jahrhunderts, endet sie „in den stillen Praxen der niedergelasse- nen Psychiater des spä-

ten 20. Jahrhunderts“.

Ihm zufolge gibt es un- ter den Psychiatriehisto- rikern drei Typen: „Apo- logeten“ sehen seit den ersten Asylen eine fort- schreitende Linderung menschlichen Elends.

Ihnen widersprechen „Revisionis- ten“, die diesen Fortschritt nicht er- kennen. „Neoapologetiker“ bestehen schließlich darauf, dass „Geistes- krankheit real existiert“. Zu ihnen zählt Shorter sich selbst. Die biologi- sche Psychiatrie jüngerer Zeit hält er für einen weiteren Meilenstein auf

dem „neurowisssenschaftlichen Weg zum Erfolg“.

Nach dieser Einteilung gehört der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault in die zweite Gruppe. 1961 erscheint sein Buch „Folie et déraison. Histoire de la folie à l`âge classique“ (deutsch:

„Wahnsinn und Gesellschaft – Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft“). Ursprünglich ist der

1926 geborene Foucault Psycholo- ge. An der Pariser Eliteschule École normale supérieure konzentriert der Zwanzigjährige sich vor allem auf dieses Fach, 1949 erwirbt er seine Licence. Im Hôpital Sainte-Anne und im Gefängnis von Fresnes kommt er mit der Psychiatrie in

Berührung, qualifiziert sich weiter in Psychopathologie und experi- menteller Psychologie.

Von 1950 bis 1953 ist Foucault Mitglied der Kommunistischen Par- tei. Seine erste größere Arbeit „Mala- die mentale et personnalité“ (Geistes- krankheit und Persönlichkeit, 1954) versteht Geisteskrankheit als Folge von Elend und Ausbeutung, als durch den Kapitalismus bedingte „Entfrem- dung“. Nur eine radikale Verände- rung der Lebensbedingungen könne dem ein Ende setzen. Doch ein Ar - tikel in einem Sammelband zum Stand der psychologischen For- schung schlägt zur selben Zeit schon einen anderen Ton an. Hier kritisiert Foucault eine positivistische Psycho- logie, die zwar immer neue Tests erfunden, aber die „Negativität des Menschen außer Acht gelassen hat“, und besteht auf einer Analyse der Wi- dersprüche: „Die Krankheit ist die psychologische Wahrheit der Ge- sundheit, insoweit sie ihr menschli- cher Widerspruch ist.“

Auch nach einer kompletten Überarbeitung möchte Foucault mit

„Maladie mentale et personnalité“

nicht mehr in Verbindung gebracht werden und bezeichnet seine Disser-

tation „Wahnsinn und Gesellschaft“ als sein erstes Buch. „Maladie mentale und personnali- té“ enthält noch einen klaren Bezugspunkt: den nicht entfremdeten, ver- nünftigen Menschen.

Dieses Ideal findet man in „Wahnsinn und Gesellschaft“

nicht mehr. Damit verabschiedet Foucault sich von der Psychologie als positiver Wissenschaft, die sich anmaßt, ihre Gegenstände – das Be- wusstsein, seine Störungen sowie psychische Erkrankungen – als von geschichtlichen Entwicklungen un-

Foto: dpa

Michel Foucault war ursprünglich Psychologe. Nach- dem er mit der Psychiatrie in Berüh- rung kommt, qualifi- ziert er sich weiter in Psychopathologie und experimenteller Psychologie.

Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen errichten können.

Michel Foucault GESCHICHTE DER PSYCHIATRIE

Wahnsinn ist keine Krankheit

Vor 50 Jahren schrieb der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault die „Geschichte des Wahnsinns“. Seine Idee des „eingesperrten“ Wahnsinns ermöglichte ein neues Geschichtsverständnis.

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19. August 2011 A 1735 abhängige, objektive Gegebenheiten

zu beschreiben. Neben seinem um- fassenden Interesse an allem, was mit Psychologie zu tun hat, sind es Ärzte, die Foucault anregen, eine Geschichte ihres Fachs zu schrei- ben. Dabei interessieren ihn von Anfang an weniger die Psychiater als vielmehr deren Verhältnis zu ihren Kranken, also der Dialog zwi- schen Vernunft und Unvernunft.

Geschichte des sozialen und moralischen Kontextes

Professor Stirn Lindroth von der Universität Uppsala, wo Foucault den größten Teil seiner Arbeit ver- fasst, kann mit der ersten Nieder- schrift nicht viel anfangen. In einem Brief an ihn (10. 8. 1957) definiert Foucault sein Projekt deshalb ge- nauer, „das eben nicht darin besteht, eine Geschichte der Entwicklungen der psychiatrischen Wissenschaft zu schreiben. Sondern (. . .) eine Ge- schichte des sozialen, moralischen und imaginären Kontextes, in dem sie sich entwickelt hat“. Für einen Fortschritt findet er keine Belege.

Insofern bricht „Wahnsinn und Ge-

sellschaft“ mit Marx’ und Hegels Geschichtsbild. Sein Verständnis von Geschichte erläutert Foucault 1979 so: „Menschen erheben sich, das ist eine Tatsache. Auf die- sem Wege gelangt die Subjektivität (nicht die der großen Männer, son- dern jedes beliebigen Menschen) in die Geschichte und haucht ihr Leben ein. Ein Strafgefangener setzt sein Leben gegen die allzu harte Strafe;

ein Irrer will nicht mehr eingesperrt und seiner Rechte beraubt werden (. . .) Dadurch wird der Gefangene nicht unschuldig, der Irre nicht ge- sund (. . .) Niemand muss glauben, diese wirren Stimmen sängen schö- ner als andere und sagten die letzt- gültige Wahrheit. (. . .) Weil es sol- che Stimmen gibt, hat die Zeit des Menschen nicht die Form der Evolu- tion, sondern die der ,Geschichte‘.“

Diese Geschichte ist geprägt von Zufällen und Brüchen sowie dem Kampf um Macht. Foucaults „Ge- nealogie“ folgt keinem Plan und keiner Logik, Ideen von bereits an- gelegten „Wesen“ und „Identitäten“

erteilt er eine Absage. Doch ihm zu- folge haben heutige Dinge eine

Herkunftsgeschichte. Aufgabe der Genealogie ist es, das heute Wirkli- che als historisch Gewordenes zu verstehen. Was heißt das für Fou- caults Verständnis der Psychiatrie- geschichte?

Schweigen zwischen Wahnsinn und Vernunft

Wahnsinn und Vernunft sind für ihn dialektisch aufeinander bezogene Formen der Erfahrung, die sich his- torisch entwickelt haben. Foucault geht es darum, „jenen Punkt null der Geschichte des Wahnsinns wieder- zufinden (. . .), an dem der Wahnsinn (. . .) noch nicht durch eine Trennung gespaltene Erfahrung ist“. Konstitu- tiv ist für ihn „die Geste, die den Wahnsinn abtrennt“. Diese Geste bringt beide zugleich hervor, den Wahnsinn und die Vernunft. Fortan gibt es zwischen beiden „keine ge- meinsame Sprache“, sondern nur noch Schweigen. Die Wissenschaft vom Wahnsinn entsteht erst nach dieser Zäsur: „Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schwei-

Die moderne Ge- schichte der Psychiatrie be- ginnt üblicherweise mit der „Befreiung“

der Wahnsinnigen in den Pariser Kran- kenhäusern Bicêtre und Salpêtrière durch den Arzt Philippe Pinel.

Foto: picture alliance

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19. August 2011 gen errichten können.“ Es folgt die

gleichsam poetische Definition, mit der Foucault sein Unternehmen um- schreibt: „Ich habe nicht versucht, die Geschichte dieser Sprache zu schreiben, vielmehr die Archäologie dieses Schweigens.“

Seine Darstellung beginnt am En- de des Mittelalters, wo man die Irren in Türme sperrt oder – wie in Sebas- tian Brants „Narrenschiff“ – Geistes- kranke von einer Stadt zur anderen bringt. Das Narrenschiff symboli- siert „eine große Unruhe“, die „ge- gen Ende des Mittelalters am Hori- zont der europäischen Kultur auf- steigt“. In seiner Doppel- deutigkeit steht der Wahn- sinnige für „Drohung und Verlachen, schwindelerre- gende Unvernunft der Welt und unbedeutende Lächer- lichkeit der Menschen“.

Descartes’ denkendes Sub- jekt kann unmöglich ver- rückt sein. Seine Aussage, „die sind eben von Sinnen“, ist für Foucault ein „Gewaltakt“, durch den das Zeit- alter der Klassik (von Louis XIV. bis zur Französischen Revolution) den Wahnsinn zum Schweigen bringt.

Doch ab Mitte des 17. Jahrhunderts werden nicht nur die Wahnsinnigen interniert. Wenige Jahre nach sei- ner Gründung 1656 soll das Pariser Hôpital général mehr als 6 000 Men- schen beherbergen – neben den Wahnsinnigen Arbeitsunwillige, Kri- minelle und Libertins, etwa ein Pro- zent der Pariser Bevölkerung.

Die moderne Geschichte der Psychiatrie beginnt üblicherweise mit der „Befreiung“ der Wahnsinni- gen in den Pariser Krankenhäusern Bicêtre und Salpêtrière durch den Arzt Philippe Pinel. Diese Geschich- te verweist Foucault in das Reich der Legenden. Sowohl die von Pinel ini- tiierte Behandlung der Wahnsinni- gen im neuen Asyl als auch das „moral treatment“ im Yorker „Re - treat“ des Quäkers Samuel Tuke liest Foucault als Einsperrung des Wahn- sinns in neue Formen der Repressi- on, etwa die psychiatrische Klassifi- kation sowie eine „Logik der Schuld und des Geständnisses und schließ- lich der bürgerlichen Familiennor- men“ (Sarasin). Die „Psyche“, wel- che die Psychiater und später Freud

entdecken, ist demnach das Produkt von Unterwerfungstechniken, die Pi- nel und Tuke in ihren Kliniken an- wenden. Dabei befindet sich das 18.

Jahrhundert in einer eigentümlichen Paradoxie. Es glaubt, den Wahnsin- nigen sicher erkennen zu können, weiß aber nicht zu definieren, was das sei: Wahnsinn. Auch Foucault umkreist das Phänomen Wahnsinn eher, als dass er eine eindeutige Defi- nition liefert. Aus der Perspektive einer bürgerlichen Vernunft, die sich von ihrer Nützlichkeit her definiert, ist Wahnsinn ihm zufolge zuerst die

„Abwesenheit eines Werks“, einer

Arbeit. Untrennbar mit dem Wahn- sinn verbunden ist zudem der Irrtum.

Dabei ist „der Irre“ weniger Opfer einer Illusion oder Halluzination, sondern einer „Bewegung seines Geistes“: „Er wird nicht getäuscht, er irrt sich.“ Bereits François Boissier de Sauvages (1772) benennt den

„konstanten Irrtum“ als wesentliches Merkmal des Wahnsinns. Damit ver- fehlt der Wahnsinnige zwar die Wahrheit der Vernunft. Aber der Wahnsinn hat seine eigene Wahrheit:

eine „Welt von schlechten Instink- ten, von Perversität, von Leiden, von Gereiztheit“. Diese „Bosheit im Na- turzustand“ gibt, so Foucault, der menschlichen Freiheit erst ihren Sinn, einer Freiheit, die eben auch den Wahnsinn ermöglicht.

Wahnsinn als Paar aus Vernunft und Unvernunft

Für Foucault ist der Wahnsinn keine Krankheit, ja, für sich allein genom- men nicht einmal real. Er behandelt ihn ausschließlich als Paar aus Ver- nunft und Unvernunft. Gemäß Fried- rich Nietzsches Diktum „Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen“, gilt eine Aussage bloß für eine be- stimmte Perspektive. Derart inspi- riert, spricht Foucault in seinem Werk oft eher als genealogischer Phi- losoph und nicht als Historiker, etwa

wenn er den Nullpunkt einer „undif- ferenzierten Erfahrung“ des Wahn- sinns „unterhalb der Geschichte“

verortet. Folgerichtig hat er sein Buch immer als nicht abgeschlossen bezeichnet. Als es erscheint, ist es zu- nächst ein Dokument der ungewöhn- lichen Belesenheit seines Autors, das vor allem im akademischen Milieu rezipiert wird. Auf neue und originel- le Weise befragt es den Wahrheits - anspruch wissenschaftlicher Diskurse.

Später spaltet es die Leser: Liberale Psychiater und Mediziner nehmen es interessiert auf, die konser vativen unter ihnen lehnen es ab. Für Vertre-

ter der „Antipsychiatrie“

stützt Foucaults Analyse den Protest gegen be- stimmte Praktiken psych - iatrischer Einrichtungen.

Dass er persönlich im Hôpital Sainte-Anne nie schlechte Erfahrungen ge- macht hat, ermöglicht ihm nach eigenem Bekunden seine

„historische Kritik“ oder „struktura- le Analyse“ – unbeeinflusst von den Gegebenheiten oder Mängeln einer einzelnen Anstalt. Wie er sich eine solche Kritik vorstellt, beschreibt Foucault so: „Sie häuft nicht Urteil auf Urteil, sondern sie sammelt mög- lichst viele Existenzzeichen; (. . .) Die Kritik durch Richtspruch langweilt mich; ich möchte eine Kritik mit Funken der Fantasie, geladen mit den Blitzen aller Gewitter des Denkba- ren.“ Auch wenn Historiker Fou- caults These von der „großen Ein- sperrung“ im 17. Jahrhundert über- wiegend ablehnen: Seine Idee des eingesperrten Wahnsinns ermöglicht ein neues Geschichtsverständnis, das psychiatrischen Institutionen nicht mehr automatisch „Humanität“ und

„Fortschritt“ attestiert, sondern psychiatrisches Wissen und seine

„Machteffekte“ (Sarasin) genauer

untersucht.

Christof Goddemeier

LITERATUR

1. Eribon D: Michel Foucault – Eine Biogra- phie. Frankfurt 1991.

2. Sarasin P: Michel Foucault zur Einführung.

Hamburg 2006.

3. Sarasin P: Wie weiter mit Michel Foucault?

Hamburg 2008.

4. Schott H, Tölle R: Geschichte der Psych - iatrie. München 2006.

Die Kritik durch Richtspruch langweilt mich;

ich möchte eine Kritik mit Funken der Fantasie, geladen mit den Blitzen aller Gewitter des Denkbaren.

Michel Foucault

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