DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
EDITORIAL
Selbstinduzierte Krankheit
schen Interventionen gingen der Aufdeckung der Täu- schung voraus.V
ortäuschung von körper- licher, gelegentlich auch geistiger Krankheit durch Klagen über nicht vorhande- ne Beschwerden, durch Ma- nipulation von Symptomen oder Befunden oder durch selbsterzeugte körperliche Läsionen ist seit alters her in der Medizin bekannt und wird üblicherweise als Simu- lation bezeichnet. Das Spek- trum reicht vom Schüler, der Bauchschmerzen vortäuscht, um die Klassenarbeit zu ver- säumen, bis zum Soldaten, der sich selbst eine Schuß- verletzung beibringt, um dem Frontdienst zu entgehen. Das Motiv steht in Beziehung zur historischen und persön- lichen Situation — so ist heu- te zu den altbekannten Moti- ven die Erlangung von So- zialleistungen oder Entschä- digungen getreten. Gemein- sames Kennzeichen — und diagnostisches Kriterium — der vielfältigen Formen der Simulation ist die bewußte Absicht, einen erkennbarenVorteil zu erlangen.
Körperliche Störungen ohne organisches Substrat können auch psychogen entstehen, etwa beim Konversionssyn- drom. Der unbewußte Wunsch nach Verdrängung, Abwehr, Vermeidung be- stimmter Handlungen oder Zuwendung löst diesem Ziel dienliche körperliche Sym- ptome aus, die dann nicht mehr der Kontrolle des Wil- lens unterliegen. Der große
„hysterische" Anfall und an- dere psychogene Symptom- bildungen waren vor und nach dem ersten Weltkrieg häufige Manifestationen der- artiger Störungen, scheinen heute aber nur noch selten vorzukommen.
Seit Ende des zweiten Welt- kriegs begegnen uns zuneh- mend häufiger andere For- men psychogener Krankheit.
1951 hat Asherein von ihm als „Münchhausen-Syndrom"
bezeichnetes Krankheitsbild beschrieben, über das seit- her eine Fülle meist kasuisti- scher Mitteilungen erschie- nen ist. Es sind Patienten, die teils durch Schilderung frei erfundener Beschwerden, teils durch Manipulationen am eigenen Körper Krank- heiten vortäuschen oder bei sich selbst erzeugen. Die meisten Fallbeschreibungen und auch einige kleinere Zu- sammenfassungen stammen aus der Inneren Medizin, der Chirurgie oder der Dermato- logie, wenige aus der Psych- iatrie oder Psychosomatik.
Patienten dieser Art werden im amerikanischen „Diagno- stic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM-III) unter der Bezeichnung
„Chronische vorgetäuschte Störungen mit körperlichen Symptomen" (Ziff. 301.51) zusammengefaßt.
In der Medizinischen Univer- sitätsklinik Essen haben wir in den vergangenen 15 Jah- ren 44 derartige Fälle unter- sucht. Allen war gemeinsam, daß sie durch teilweise raffi- nierte Manipulationen (zum Beispiel Läsionen von Haut, Darm, Blase, Nasopharynx, Blutentnahmen, Zusätze zum Urin usw.) oder durch Injek- tionen oder Einnahme diffe- renter Pharmaka bei sich selbst schwere, zum Teil le- bensbedrohliche (ein Todes- fall) Krankheitsbilder erzeugt haben. Viele, oft monatelan- ge Krankenhausaufenthalte mit zahlreichen invasiven dia- gnostischen und therapeuti-
Die nähere Beschäftigung mit diesen Patienten zeigte, daß in keinem Fall ein Kon- versionssyndrom vorlag. Sie- ben Patienten waren Simu- lanten im oben definierten Sinne; sechsmal war dabei die Erlangung einer Rente das Motiv. 37 Fälle waren nach den Kriterien des DSM- III als „chronische vorge- täuschte Störung mit körper-
lichen Symptomen" zu klas- sifizieren. Allerdings erwies sich diese Gruppe als sehr inhomogen, so daß wir auf- grund der Analyse der eige- nen und in der Literatur be- schriebenen Fälle die folgen- de Subklassifizierung vorge- schlagen haben:
Typ A:
Münchhausen-Syndrom im eigentlichen Sinn. Häufiger Männer als Frauen. Vortäu- schung meist akuter Krank- heit; Beschwerdeschilderung demonstrativ, dramatisch, fal- sche Angaben zur Anamnese und zur Person, Pseudologia fantastica. Sozial entwurzelt.
Sehr viele, meist nur kurze Krankenhausaufenthalte, vie- le Eingriffe. Auf der Station zunächst angepaßt, distan- ziert, später aggressiv. We- sentlich seltener vorkom-
mend als Typ B und C.
Typ B:
Fast ausschließlich Frauen in jüngerem Erwachsenenalter, ganz überwiegend mit (pa- ra-)medizinischen Berufen oder aus Arztfamilien. Vor- täuschung meist chronischer Krankheit, Beschwerdeschil- derung adäquat, eher emo- tionsarm. Soziale Verhältnis- se und Beziehungen vorder- gründig intakt, in dieser Hin-
2082 (38) Heft 30 vom 23. Juli 1986 83. Jahrgang Ausgabe A
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sicht betont leere Anamnese.
Selbstdestruktive Tendenz groß. Viele längerdauernde Krankenhausaufenthalte. Auf der Station angepaßt, koope- rativ, positive Arzt-Patienten- Beziehung. In der Inneren Medizin die zahlenmäßig größte Gruppe.
Typ C:
Häufiger Frauen als Männer im mittleren Erwachsenenal- ter. Verhinderung der Hei- lung von Wunden, Abszessen oder Ulzera, Erzeugung von Hautartefakten. In der Ana- mnese oft leicht identifizier- bares psychisches Trauma oder schwere, unlösbare ge- sundheitliche Probleme.
Selbstdestruktive Tendenz groß. Viele längerdauernde Krankenhausaufenthalte. Auf der Station zunächst ange- paßt, später aggressiv, feind- lich. Vor allem in chirurgi- schen und dermatologischen Abteilungen vorkommend.
Gemeinsam ist den drei Un- tergruppen, daß anscheinend ärztliche/pflegerische Betreu- ung und Zuwendung im Krankenhaus gesucht wird, wobei die diesem möglichen Motiv zugrundeliegende psy- chodynamische Störung im Unterbewußtsein liegt und je nach Typ auch verschieden sein dürfte. Die durch unbe- wußten Antrieb ausgelösten, oft äußerst geschickten Mani- pulationen unterliegen als solche aber dem Willen und können dementsprechend in ungünstiger Situation auch unterdrückt werden.
Die hier vorgeschlagene Sub- klassifikation der Gruppe 301.51 des DSM-III ist ledig- lich eine Hypothese. Von der Häufigkeit, mit der Grenzfälle oder Mischformen vorkom- men, wird abhängen, ob man
sie beibehalten kann, ergän- zen oder durch eine bessere Einteilung ersetzen muß.
Die bisher bei derartigen Pa- tienten gestellten psychiatri- schen Diagnosen waren viel- fältig und uneinheitlich. Fest steht lediglich, daß es sich nicht um Psychosen und al- lenfalls bei wenigen um ein
„Borderline-Syndrom" han- delt. Ebensowenig befriedi- gen die psychoanalytischen Interpretationen von Einzel- fällen. Sie schildern Biogra- phien und unterlegen sie mit Deutungen, beschreiben aber unzureichend die besondere Persönlichkeitsstruktur, die bei diesen Patienten ange- nommen werden muß. Es be- darf der Erklärung, warum nur diese Menschen, aber nicht die unzähligen anderen mit ganz ähnlicher Biogra- phie und gleichartigen trau- matischen Erlebnissen, in solch ungewöhnlicher, selbstdestruktiver Weise rea- gieren, vielleicht um Zuwen- dung im Krankenhaus (!) zu erlangen.
Ein wesentlicher Grund für das psychiatrisch/psychologi- sche Wissensdefizit liegt dar- in, daß besonders die Patien- ten des Typs A und B fast stets eine psychiatrisch/psy- chologische Exploration oder gar Therapie verweigern — sie ziehen, wie Ford es ausge- drückt hat, das Leben mit ei- ner Krankheit ihrer Wahl ei- ner Psychotherapie vor; die wenigen, die sich ihr stellen, sind möglicherweise atypi- sche Fälle und liefern dann vielleicht sogar irreführende Befunde. Der in der Regel mit der Aufdeckung der Ma- nipulationen verbundene Ab- bruch der Arzt-Patient-Bezie- hung ist auch eine der Ursa- chen dafür, daß es langfristi- ge Katamnesen kaum gibt
und allgemeingültige Aussa- gen zur Prognose fehlen.
An selbsterzeugte, vorge- täuschte Krankheit sollte man denken, wenn wieder- holte Krankenhausaufenthal- te mit wechselnden, unge- klärten oder wenig substanti- ierten Diagnosen vorausge- gangen sind, und wenn die Konstellation von Beschwer- den und Befunden nicht plausibel oder keinem be- kannten Krankheitsbild zuzu- ordnen ist. Um die Manipula- tion nachzuweisen, sind gu- tes klinisches Wissen und Beobachtungsgabe, die Kenntnis der jeweils in Be- tracht kommenden Täu- schungsmanöver einschließ- lich der dabei verwendeten Pharmaka und ihrer Nach- weismethoden sowie gele- gentlich auch ein fast krimi- nalistisch anmutendes Vorge- hen nötig. Ohne Beweise ist mit einem Eingeständnis nicht zu rechnen.
Trotz des Ärgers, der auf- kommen kann, wenn man merkt, daß man getäuscht worden ist, sollte man nicht vergessen, daß die Patienten des Typs A, B und C keine Simulanten im eingangs defi- nierten Sinne sind, sondern Menschen, die unserer Hilfe bedürfen. Leider wissen wir bisher weder genau, wie die- se Hilfe aussehen müßte, noch wie wir die Patienten dazu bringen können, sie zu akzeptieren.
Weitere Einzelheiten und Literatur s.
Bock, K. D. u. F. Overkamp: Klin. Wo- chenschr. (1986) 64: 149-464.
Professor Dr. med.
Klaus Dietrich Bock Medizinische Klinik der Universität (GHS) Essen Hufelandstraße 55 4300 Essen
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 30 vom 23. Juli 1986 (39) 2083