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Archiv "Nietzsches Krankheit: Genie und Wahnsinn" (17.03.2000)

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A

m Sonntag, dem 6. Janu- ar 1889, erhielt Franz Overbeck, Professor für Kirchengeschichte in Basel, unverhofft Besuch. Sein Kolle- ge Jacob Burckhardt, der be- kannte Kunstgeschichtler, war zu ihm geeilt. Jacob Burck- hardt hielt einen Brief in der Hand, den er am gleichen Tag erhalten hatte. Der Brief kam aus Turin, der Absender war Overbecks Freund Friedrich Nietzsche. Overbeck erschrak, als er den Brief las:

„Meinem verehrungswür- digen Jacob Burckhardt. Das war der kleine Scherz, des- sentwegen ich mir die Lange- weile, eine Welt geschaffen zu haben, nachsehe. Nun sind Sie – bis du – unser grosser grösster Lehrer, denn ich, zusammen mit Ari- adne, haben nur das goldne Gleichgewicht aller Dinge zu sein, wir haben in jedem Stücke Solche, die über uns sind . . . Dionysos.“ (17) Overbeck eilte zur psychiatrischen Klinik

„Friedmatt“ und legte dem ihm bekannten Lei- ter und Gründer der erst vor drei Jahren eröffne- ten Anstalt, Professor Dr. med. Ludwig Wille, den Brief vor. Auf Wil- les dringendes Anraten fuhr Overbeck noch am gleichen Tag mit dem Zug von Basel nach Tu- rin. Mit Mühe fand er die kleine Pension, wo Nietz- sche bescheiden logierte. Den Freund erblickend, stürzte Nietzsche auf ihn zu, umarmte ihn heftig und brach, Over- beck erkennend, in einen Trä- nenfluss aus. Dann sank er in Zuckungen aufs Sofa zurück.

Verdachtsdiagnose Overbeck stand nun vor der schwierigen Aufgabe, den erkrankten Freund nach Ba- sel in die Klinik bringen zu müssen. Mit Hilfe der Sugge- stion eines jungen deutschen Zahnarztes gelang die Über- führung des erregten Kran- ken in die Baseler Klinik. (7)

„Pupillen different, rechte größer als die linke, sehr träge

reagierend. Strabismus con- vergens. Starke Myopie. Zun- ge stark belegt; keine Deviati- on, kein Tremor! Facialisin- nervation wenig gestört, fühlt sich ungemein wohl und ge- hoben. Gibt an, daß er seit

acht Tagen krank sei und öf- ters an heftigen Kopfschmer- zen gelitten habe. Er habe auch einige Anfälle gehabt, während derselben habe sich Pat. ungemein wohl und ge- hoben gefühlt, und hätte am liebsten alle Leute auf der Straße umarmt und geküßt, wäre am liebsten an den Mau- ern in die Höhe geklettert“, so lautete der Befund des auf- nehmenden Arztes (1). Als Diagnose wurde notiert: pro- gressive Paralyse. Dass schon die Verdachtsdiagnose die neurologische Untersuchung bestimmte, erkennt man an den angegebenen Befunden.

Es handelte sich bei den be- schriebenen Pupillenstörun- gen (Anisokorie und gestörte

Pupillenreaktion) und auch bei den lebhaften Eigenrefle- xen um typische Symptome der progressiven Paralyse.

Noch nicht vorhanden ist das typische Zittern der Zunge mit perioraler Unruhe („mi-

misches Beben“) und die häu- fig feststellbare dysarthrische Sprachstörung. Das psycho- pathologische Erscheinungs- bild entsprach am ehesten der expansiv-agierten Verlaufs- form: Megalomanie mit wech- selnden Größenwahnideen bei weitgehend intakter Ori- entierung bezüglich anderer Personen.

Über einen möglichen syphilitischen Primäraffekt Nietzsches ist viel geschrie- ben und diskutiert worden.

Um das Ergebnis der Diskus- sion vorwegzunehmen: Trotz zahlreicher Indizien ist der Beweis einer solchen Infekti- on nicht gelungen. An einen Bordellbesuch in Köln aus seiner Bonner Studienzeit –

den Thomas Mann in einzig- artiger Weise in seinen „Dr.

Faustus“ hineingewoben hat – knüpfen sich manche Spe- kulationen. Vielfach wird auch davon ausgegangen, Nietzsche habe sich in seinen Leipziger Jahren infiziert. In der Baseler Krankenakte fin- det sich der Eintrag, Nietz- sche habe angegeben, sich

„zweimal spezifisch infiziert“

zu haben. (1) Hieraus mein- te man, den Beleg einer Syphilisinfektion in der Ana- mnese gefunden zu haben.

Dieser Beleg wird jedoch wieder unsicher, wenn man die Quellen jüngeren Da- tums betrachtet. In der 1980 erschienenen Richard-Wag- ner-Biographie Gre- gor-Dellins findet sich die erstmalige Wie- dergabe eines Brie- fes eines Frankfurter Arztes, Dr. Otto Ei- ser, der Nietzsche im Oktober 1877 zusam- men mit einem Au- genarzt untersucht hat- te. In diesem Brief an Wagner heißt es: „Bei der Erörterung seiner geschlechtlichen Zu- stände versicherte N.

nicht nur, daß er nie syphilitisch gewesen sei, sondern er hat auch meine Frage nach starker geschlechtli- cher Erregung und et- waiger abnormer Be- friedigung derselben verneint. Doch wurde der letzte Punkt von mir nur flüchtig berührt, und ich darfdeshalb N.’ Worten nach dieser Seite nicht allzuviel Gewicht beilegen. Triftiger scheint mir als Gegengrund, daß der Kranke von Tripper- Ansteckungen während sei- ner Studentenzeit berichtet, – dann auch, daß er jüngst in Italien auf ärztliches An- raten mehrmals den Coitus ausgeübt haben will.“ (5) Hatte Nietzsche Tripper ge- meint, als er die Angabe ei- ner durchgemachten „spezi- fischen Infektion“ gemacht hatte? Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass man die Syphilis jahrhunder- telang nicht von Tripper un- A-713 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 11, 17. März 2000

V A R I A GESCHICHTE DER MEDIZIN

Nietzsches Krankheit

Genie und Wahnsinn

Der geistige Zusammenbruch vollzog sich in verschiedenen Stufen.

Die Krankheit Friedrich Nietzsches hat zur Polarisierung seiner Leser beigetragen.

Foto: Stiftung Weimarer Klassik, GSA 101/29

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terschieden und beide als Lues bezeichnet hatte.

Overbeck, der den Freund in die Klinik begleitete, er- starrte vor Erstaunen, als Nietzsche in der verbindlich- sten Manier seiner besten Ta- ge und mit würdiger Haltung Wille begrüßte: „Ich glaube, daß ich Sie früher schon gese- hen habe, und bedaure sehr, daß mir nur Ihr Name nicht gegenwärtig ist, wollen Sie –“

Wille: „Ich bin Wille“. Nietz- sche (ohne eine Miene zu ver- ziehen, in jener Manier und im ruhigsten Tone, ohne je- de Besinnung fortfahrend):

„Wille? Sie sind Irrenarzt. Ich habe vor einigen Jahren ein Gespräch mit Ihnen über reli- giösen Wahnsinn gehabt. Der Anlaß war ein verrückter Mensch, Adolf Vischer, der damals hier lebte.“ (8) Was Overbeck so erschütterte, war, dass Nietzsche diese Erinne- rungen nicht in die geringste Beziehung zu seiner eigenen augenblicklichen Lage brach- te und dass kein Zeichen ver- riet, dass ihn der Psychiater etwas anging: „Ruhig läßt er sich dem hereintretenden As- sistenzarzt mit der Verord- nung eines Frühstücks und ei- nes Bades fürs nächste über- geben und verläßt mit ihm, auf erhaltene Aufforderung, ihm zu folgen, ohne weiteres das Zimmer . . .“ (8)

In der Baseler Krankenak- te finden sich folgende Einträ- ge (11):

„11. Januar:Ganze Nacht nicht geschlafen. Sprach ohne Unterlaß. Stand öfters auf.

Frühstückt mit großem Appe- tit. Fortwährend motorische Erregung. Legt sich zuweilen auf den Boden. Spricht ver- worren.

12. Januar:Fühlt sich so unendlich wohl, daß er dies höchstens in Musik aus- drücken könne.

13. Januar: Zeigt einen ungeheuren Appetit, verlangt immer wieder zu essen. Singt, johlt, schreit.

14. Januar: Fortwährend gesprochen und gesungen. Be- such der Mutter. „Mutter macht einen beschränkten

Eindruck.“ Ein Bruder der Mutter starb in einer Nerven- heilanstalt. Die Schwestern des Vaters waren hysterisch und etwas exzentrisch. (Anga- ben der Mutter.) Vater durch Fall von der Treppe hirn- krank. Nietzsche unterhält sich anfangs harmlos mit der Mutter, dann plötzlich: „Sieh in mir den Tyrannen von Tu- rin.“ Redet dann verworren weiter.

15. Januar:Sehr laut. Laut schreiend und gestikulierend.

17. Januar:Parese des lin- ken Facialis viel deutlicher.

Sprache: Keine nachweisba- ren Störungen.“

Die angereiste Mutter setz- te gegen alle Widerstände durch, dass Nietzsche in die nächstgelegene Klinik seiner Heimatstadt Naumburg nach Jena verlegt wurde. Auch der damalige Klinikleiter von Je- na, Professor Otto Binswan- ger, hatte sich wissenschaft- lich intensiv mit der progres- siven Paralyse beschäftigt. Er kam zeitweise zu völlig ande- ren Erkenntnissen über die Ätiologie der Erkrankung und diskutierte noch 1894 in der

„Berliner Klinischen Wochen- zeitschrift“ eine psychogene Genese, derzufolge der pa- ralytische Krankheitsprozess

„unbestritten als die Folgeer- scheinung einer functionellen Überanstrengung des Cen- tralnervensystems und dabei in erster Linie der Groß- hirnrinde“ zu betrachten sei (2). Emil Kraepelin wider- sprach Binswanger in der fünften Auflage seines ver- breiteten Lehrbuches „Psych- iatrie“ (1896) entschieden, konnte sich jedoch noch nicht eindeutig für die Syphilis als Ursache entscheiden. Dieser Verdienst kommt Nietzsches erstem Pathobiographen P. J.

Möbius zu. Kraepelin 1896:

„Auch Möbius hält Tabes und Paralyse geradezu für Nach- krankheiten der Syphilis. Lei- der gestatten die heute vorlie- genden Thatsachen eine so einfache Deutung, wie mir scheint, noch nicht.“ (14)

Bei der Aufnahme in Jena wird bei der Erhebung der so-

matischen Befunde zusätzlich eine leicht unregelmäßig ver- zogene Pupille diagnostiziert.

In den nächsten Monaten beherrschen Wahnideen mit starken Erregungszuständen das klinische Bild. Im Okto- ber 1889 kommt es zu einer gewissen inneren und äuße- ren Beruhigung, die als deut- liche Remission interpretiert wurde. Die Mutter nimmt ihn wiederum gegen alle Wider- stände im März 1890 mit nach Hause nach Naumburg, wo sie ihn bis zu ihrem Tode 1897 pflegte.

Der geistige Zusammen- bruch Nietzsches vollzog sich in verschiedenen Stufen, die in den ersten Jahren auch mit kurzzeitigen Aufhellun- gen verbunden waren – ein Verlauf, der bei vielen Para- lytikern beobachtet werden konnte.

Die leichten Remissionen stellten jedoch nicht den er- hofften Beginn einer Gene- sung dar. Im Herbst 1890 ver- schlechterte sich sein Geistes- zustand rapide. „Es scheint nun, als ob der Wahnsinn zum Blödsinn umzuschlagen Mie- ne macht“, schrieb ein Ju- gendfreund im Februar 1891 an Overbeck. (4) Nietzsche sprach nur noch wenig, wirkte zunehmend apathisch, zeigte selten ein Lächeln oder eine andere Reaktion außer un- verhältnismäßiger Bewunde- rung. Sein Aussehen in jenen Jahren war hierzu kontrastie- rend auffällig gesund und frisch. Willen und Antrieb nahmen jedoch ab.

Möglicherweise entwickel- te sich ab 1893 zusätzlich eine Tabes dorsalis, die ebenfalls eine quartäre Manifestation der Syphilis darstellt: Er er- kannte alte Freunde nicht mehr, ab Herbst 1894 nur noch die Mutter, die Schwe- ster und die Hausgehilfin Al- wine. Nach dem Tod der Mut- ter im Jahr 1897, auf den Nietzsche in keiner erkenn- baren Weise mehr reagierte, übernahm die Schwester Eli- sabeth die Pflege. Sie hatte schon in den Räumlichkeiten in Naumburg ein Nietzsche- Archiv eingerichtet und zog dann mit dem Kranken und

Alwine in eine repräsentative Villa nach Weimar. Ausge- suchte Besucher durften einen Blick auf den Kranken wer- fen, während Elisabeth Nietz- sche geschickt und raffiniert die Rechte an den Schriften ihres Bruders erwarb und das Nietzsche-Archiv regierte.

Krankheit und Werk

Friedrich Nietzsche, bis zum Beginn seiner Erkran- kung kaum bekannt, wurde nun rasch berühmt. Seine Le- ser hat er zumeist in zwei La- ger gespalten. Glühenden Anhängern und Verehrern standen schärfste Kritiker un- versöhnlich gegenüber. Die Krankheit Nietzsches hat ih- rerseits zu dieser Polarisie- rung beigetragen. Für die ei- nen wurde hierdurch ein Mythos begründet, der mit dem Begriffspaar Genie und Wahnsinn umschrieben wer- den kann, für die anderen war die Krankheit Nietzsches ein Beleg für das Pathologische in seinen Schriften. Möbius’

schon zitierte Pathographie endet mit der Warnung an Nietzsche-Leser: „Seid miß- trauisch, denn dieser Mann ist ein Gehirnkranker!“ (15) Sol- che Schlüsse zu ziehen, aus der Kenntnis der Krankheit retrospektiv das Werk zu kri- tisieren, ist gefährlich und wis- senschaftlich nicht korrekt.

Das Werk muss als solches auf seinen Wert und seine Aussa- ge hin untersucht werden.

In der Nacht vom 24. auf den 25. August 1900 bekam Nietzsche einen Schlaganfall.

Am 25. August 1900 tat er sei- nen letzten Atemzug. Eine Obduktion zur Sicherung der Diagnose fand nicht statt.

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers Dr. med. Johannes Wilkes Psychiatrische Klinik mit Poliklinik der Universität Erlangen-Nürnberg Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie Schwabachanlage 6 und 10 91054 Erlangen

A-714 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 11, 17. März 2000

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