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Archiv "Melancholie: Die Kunst zwischen Genie und Wahnsinn" (21.04.2006)

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V A R I A

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 16⏐⏐21. April 2006 AA1089

O

b nun wirklich gerecht- fertigt oder nicht – zur allgemeinen Zeitgeist- stimmung scheint eine Aus- stellung, die die Melancholie zum Thema hat, jedenfalls zu passen. Und dass Kunst ein Geschäft „zwischen Genie und Wahnsinn“ ist, wie der Untertitel der schon im Pari- ser Grand Palais erfolgreich gezeigten Schau vorgibt, das wird auch kaum jemand be- streiten.

In Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie in Ber- lin stehen die Exponate der Themen-Ausstellung nicht al- lein für sich selbst, sondern für die These, die ihr Titel vor- gibt. Jedes Gemälde, jede Pla- stik, jeder Stich wird da vor al- lem zu einem Kronzeugen:

Zu einem solchen, der die Melancholie als eine Quelle von künstlerischer Kreati- vität behauptet. Giorgio de Chirico etwa wird in einem der aphoristischen Mottos über den griffigen Erläute- rungstexten mit dem Spruch zitiert: „Es gilt als grundsätz- lich erwiesen, dass der Wahn- sinn ein immanentes Element jeder profunden Äußerung von Kunst ist.“ Die Kunstwer- ke werden aber auch zu ei- nem Spiegel eben dieser sich inhaltlich im Laufe der Zeit deutlich wandelnden Melan- cholie ihrer Schöpfer. Oder sie übersetzen dieses mensch- liche Sentiment in eine Tragö- die der Landschaft, wie sie in den Beispielen von Caspar David Friedrichs Sehnsuchts- bildern, etwa dem „Mönch am Meer“ (1808–1810) oder der „Abtei im Eichwald“

(1809–1810) ihren faszinie- renden Ausdruck finden.

Mehr als 300 Meisterwerke Solche Art „belegende“ Kunst wird für den eventverwöhnten Besucher von heute umso glaubwürdiger, je spektakulä- rer ihre Beispiele sind und je markanter sie für ihre Epoche stehen. Und da können die Ausstellungsmacher mit viel Prominenz aufwarten: Es sind mehr als 300 Meisterwerke der Malerei, Skulptur, Druck- grafik, Fotografie und Video-

kunst (zu denen auch das Me- dizinhistorische Museum der Charité Exponate beisteuer- te) versammelt. Sie sind in 15 Abteilungen, chronologisch geordnet, mit Querverweisen aufgebrochen, und sie bieten den Besuchern alle Chancen, sich auch einmal anregend „zu verlaufen“.

Ein erster Höhe- und Be- zugspunkt ist Albrecht Dürers Kupferstich „Melancolia I“

von 1514. Dieser traurige En- gel, zwischen faustischem Streben nach Erkenntnis und weltabgewandtem Grübeln, inmitten von wissenschaftli- chen Insignien wie Kugel, Zir- kel oder Waage, regte stets neu zu Deutungen an und wurde zur Inspiration für nachfol- gende Künstlergenerationen.

Nicht nur der in der Hand ru- hende Kopf des Dürerschen Engels wird zu einer Konstan- te über die Epochen hinweg.

Alberto Giacometti beispiels- weise greift den rätselhaften Kubus in Dürers Stich mit sei- nem eigenen, knapp ein Meter hohen „Kubus“ aus Bronze (1933/34) ebenso auf, wie es Anselm Kiefer in der Skulptur

„Melancholia“ (1989) oder Jörg Immendorff in seinem Gemälde „Entaffte“ (2005) machen.

Und dann findet sich ne- ben einem Kleinod wie Hie- ronymus Boschs „Die Versu- chung des Heiligen Antoni- us“ (1490), die, ganz im Geist der Zeit, Melancholie als Todsünde zeigt, die vom Teu- fel selbst kommt, ein paar Ab-

teilungen weiter, Ron Muecks

„Dicker Mann“ (2000). Er hockt in einem leeren Raum mit all seiner naturalistisch überlebensgroßen Präsenz, fett, nackt und glatzköpfig schmollend in der Ecke der Einsamkeit von heute. Er ist ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie die soziologi- schen Phänomene Entfrem- dung und Vereinsamung heu- te immer noch mit der Me- lancholie zusammengedacht werden können. Auch wenn der Inhalt dieses Begriffes seit den 20er-Jahren des vori- gen Jahrhunderts auf den mo- dern massenhaften Befund

„Depression“ verkürzt wird.

Kunst kann aus diesem Im- puls allemal entstehen.

Auch die unbestritten klas- sischen Ikonen der Melan- cholie wie Edvard Munch mit verschiedenen Beispielen vom Anfang des 20. Jahrhun- derts, Arnold Böcklin mit ei- ner Version seiner „Totenin- sel“ oder Edward Hopper mit „Kino in New York“

(1939) sind vertreten.

Der Anspruch, mit dieser Ausstellung nicht weniger als das spirituelle Geheimnis der Entstehung von Kunst zu lüf- ten, mag allzu vollmundig ge- raten sein. Aber die Behaup- tung, ein Generalthema der europäischen Kunst aufzu- greifen, kann die Ausstellung eindrucksvoll belegen. Und was sie dabei dem medizi- nisch gebildeten Besucher an Exaktheit der Begriffsgenese sicherlich vorenthalten mag, das gibt sie dem Kunstfreund durch ihre anregend assozia- tive Unschärfe zu einem Gut- teil wieder zurück.

Joachim Lange

Melancholie

Die Kunst zwischen Genie und Wahnsinn

Eine Ausstellung in Berlin zwischen künstle- rischer Spurensuche und medizinischem Befund

Die Ausstellung ist noch bis 7. Mai zu sehen. Sie wird durch ein Rah- menprogramm ergänzt. Internet:

www.melancholieinberlin.org. Öff- nungszeiten: dienstags, mittwochs und sonntags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags von 10 bis 22 Uhr, freitags und samstags von 10 bis 20 Uhr. Außerhalb der Öffnungszei- ten wird die „black box“ zum Ort für ein vielseitiges, melancholi- sches Veranstaltungsprogramm.

Oben: Kino in New York, 1939, Edward Hopper

Rechts: Melencolia I, 1514, Albrecht Dürer

Unten: Melancolie, 1906–1907, Edvard Munch

Feuilleton

Foto:VG Bild-Kunst Bonn 2006Fotos:Neue Nationalgalerie

Referenzen

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