DEUTSCHES ARZTEBLATT
Ärztliche Mitteilungen
Herausgeber: Bundesärztekammer (Arbeitsgemein- schaft der Westdeutschen Ärztekammern) und Kas- senärztliche Bundesvereinigung.
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AW1 Leserdienst
Hinweise • Anregungen POST SCRIPTUM
Melancholie
Zehntausende Menschen benützen täglich die inter- nationalen Linienflüge. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das tun, bezeugt das ungetrübte Vertrau- en in das Luftverkehrswesen, ab?r ein wenig mulmig muß es den Reisenden doch hin und wieder sein. Die Luftfahrtgesellschaften tragen diesem atavistischen menschlichen Gefühl, der Angst nämlich, auf diskre- te Weise Rechnung. Sie lassen vorm Abflug die Rei- senden mit Bandaufnahmen einer meist schwiemeli- gen „soft music" berieseln.
Das eigentlich Gegebene, den berühmten „Funeral March" von Louis Armstrong, hörte ich indessen noch nicht.
Auf einem Flug nach Rom hatte ich das Vergnügen, die Bekanntschaft eines Herrn zu machen, dem die Melancholie aus allen Poren quoll. Ein Wiener, was brauch' ich mehr zu sagen.
„Da schauen'S her", lamentierte er und fächelte mir die Bordsicherheitsvorschriften vor der Nase herum.
„Da geben's einem so trostreiche Worte, was man alles an Service erwarten darf, wenn's mal schief- geht. Auf eine Rutschbahn würden's einen sitzen las- sen. Und das Gebiß soll man herausnehmen. Ich bit- te schön, Herr: wenn's wirklich mal soweit ist, da glauben'S doch nicht im Ernst, daß es wie im Prater mit einer Rutsch'n hergeht? Und meine Zähne — na, ich danke schön ..."
Ich bemühe mich, ihm Mut zu machen. Versuche, ihn von der Nützlichkeit der Anweisungen zu überzeu- gen. Biete Zuversicht an.
„Und wenn's ernst wird", insistiert er, „was man dann bräucht, einen Fallschirm bräucht man zum Hinunterspringen: den gibt's nirgends!"
„Ein Fallschirm, das wäre Unsinn!" zerstreue ich seine dunklen Gedanken. „Wenn jeder mit einem Fall- schirm zum Notfenster hinaushüpfen wollte, das gä- be nur eine Panik. Die Schwimmwesten sind schon sehr vernünftig!"
Es ergab sich, daß wir zu diesem Zeitpunkt gerade die Schweiz überflogen, die mit dem majestätischen, zackigen, schroffen, tälerdurchzogenen, schneekup- pigen Alpenmassiv heraufgrüßt. Mein Nachbar blickt verträumt aus dem ovalen Fenster. Und er sagt leise klagend: „Was Sie net sagen: da hinunter mit einer Schwimmwesten ... "
Seither nehme ich mir ins Fluggepäck immer eine schwarze Krawatte mit. Was weiß man, ob man sie eines Tages nicht umbinden muß ...
Arno Reinfrank, London
856 Heft 12 vom 20. März 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
