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Archiv "Wahnsinn allein macht noch kein Genie aus" (23.07.1987)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

GRENZGÄNGER zwischen Kunst

und Psychiatrie

Hartfile

Kraft

Dult font

Wahnsinn allein macht noch kein Genie aus

Der psychisch Kranke, der bild- nerisch tätig wird — gleich, ob aus ei- genem Antrieb oder ob unter thera- peutischer Anleitung — wird dadurch nicht gleich zum Künstler; indes kann der Künstler, dessen Arbeiten der Allgemeinheit unverständlich bleiben, keinesfalls als Irrer bezie- hungsweise als psychisch Kranker bezeichnet werden. Zudem gedeiht zwischen den Eckpfeilern „Kunst"

und „Psychiatrie" seit jeher der Tri- vialmythos vom „irrsinnigen Ge- nie", der sich vortrefflich am Bei- spiel van Goghs darstellen läßt. Die- ser Mythos erleichtert immer noch denen, die nach einer greifbaren Formel in diesem Gebiet suchen, die Arbeit (oder die Diagnose) und er- schwert sie denen, die sich den Grenzgängern und ihren bildneri- schen Erzeugnissen ernsthaft und mit methodischen Überlegungen nä- hern. Zu den letzteren zählt Hart- mut Kraft.

Der Autoar verwendet die Be- griffe „Kunst" und „Psychiatrie"

nicht einschränkend, sondern erwei- ternd und weiß, daß eine allumfas- sende Definition mit Blick auf die kreativen Leistungen psychisch kranker Menschen nicht gegeben werden kann. Sein Ansatz ist er- kenntnis-theoretischer Art, nüch- tern und dabei doch vom tiefen In- teresse am menschlichen Dasein ge- prägt. Statt dem Mißtrauen der Kunstwissenschaft gegenüber psy- choanalytischen Interpretationen mit Schlagworten und/oder mit aus- führlichen Widerlegungen zu begeg- nen, durchkämmt er die geschicht- liche Entwicklung seines Themas.

Statt aus der Psychiatrie Grundfor- men der gequälten Künstlerseele ab- zuleiten, unternimmt er den Ver- such, Stil- und Formgesetzlichkeiten jenseits aller Diagnostik darzustel-

len. So wird aus geschichtlichen Spu- ren der kulturelle Wandel in bezug auf die bildnerischen Arbeiten psy- chisch Kranker erkennbar, wobei Einzeldarstellungen und -deutungen (zum Beispiel der Bildhandschrift des Opicinus de Canistris aus dem 14. Jahrhundert) besonders ein- drucksvolle Belege liefern. Belege für was? — Zunächst einmal dafür, daß das chaotische Element des Wahnsinns für sich allein genommen keine Kunst versprengt, dann dafür, daß von der „Bildnerei der Geistes- kranken" nur unter großem Vorbe- halt als von „einer geschichtslosen

und gesellschaftlich ungebundenen, rein ,zustandsgebundenen` Äuße- rungsform" gesprochen werden kann.

Kraft steht gewiß nicht allein da, sondern bewegt sich mit seinen me- thodischen Überlegungen in zumin- dest seit Prinzhorn aktuellem Um- feld. Im Gegensatz zu Leo Navratil zum Beispiel (1983, 1986), dessen psychodynamisches Erklärungsmo- dell den Beziehungsaspekt zwischen Patient und Therapeut am psychoti- schen Kunstprodukt (Betonung auf Kunst) hervorhebt, sieht der Autor den Aspekt der erneuten Selbstfin- dung „nach Eintauchen in die Ge-

fährdungen der Desintegration und der Zerstörung des Selbst mit Hilfe der künstlerischen Form" in den Vordergrund gestellt. So rückt ne- ben den erkenntnistheoretischen Ansatz ein, wenn man so will, ver- fallstheoretischer. Dieser wird in den einzelnen Kapiteln weiter aus- geführt. Er befaßt sich mit hirnorga- nischen Störungen ebenso wie mit endogenen Psychosen, mit den krea- tiven Verhaltensmustern von Alters- patienten wie mit denen von Kin- dern. Die Argumentation ist klar und verständlich. Alle Bildnerei, so ließe sich zusammenfassen, ist „im Einzelfall auf das Zusammenwirken der Entstehungsbedingungen zu hin- terfragen: auf ' angeborene Fähig- keiten, lebensgeschichtliche Ent- wicklung, Art und Umgang mit der Erkrankung, medizinische und so- ziale Gegebenheiten sowie die ge- samte historische und soziokulturel- le Situation".

In den vielen Schilderungen ein- zelner Lebensläufe von Patienten (von Künstlern wie ebenso von Nicht-Künstlern) beschreibt Kraft dieses komplexe Beziehungsgefüge in konkreter Weise. Es gelingt ihm, die Geschichtlichkeit seines Ansat- zes dadurch zu erweitern, wenn nicht gar zu überwinden, daß er die aktuelle Kunstszene nicht ausklam- mert, sondern an ihr und mit ihr ar- beitet.

Zwar wird besonders in diesem Zusammenhang die interessante Frage nach dem „autonomen"

Kunstwerk pauschal und voreilig verneint, sogar als Fiktion abgetan.

Aber diese Verneinung versteht sich als Ergebnis und als Standort der fachgebietlichen Überschreitung von Kunst, Kunstgeschichte, Kunst- theorie, Medizin und Psychiatrie, nicht zuletzt auch als Diskussions- beitrag in dem immer aktuellen Dis- kurs um die Erfahrbarkeit von Kunst selbst.

Norbert Messler

Hartmut Kraft: Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie, DuMont Buchver- lag, Köln, 1986, 380 Seiten, 198 Abbildun- gen, 23 Farbtafeln, Ganzleinen mit Schutzumschlag, 78 DM

Dt. Ärztebl. 84, Heft 30, 23. Juli 1987 (33) A-2037

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