Familiengeschichten
Offene Fragen bleiben
Ulla Roberts: Starke Mütter – ferne Väter. Über Kriegs- und Nachkriegskindheit einer Töch- tergeneration. 2. Auflage, Haland
& Wirth im Psychosozial-Verlag, Gießen, 2005, 205 Seiten, 24,90 A
Die gesellschaftliche Diskus- sion über die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges ent- wickelt sich in den letzten Jahren differenzierter und di- versifizierter: Mehr und mehr wird auch nach Erfahrungen gefragt, wo Deutsche nicht nur als Täter, sondern auch als Erleidende von traumati- schen Erfahrungen in Er- scheinung treten. Vor diesem Hintergrund liegt die Unter- suchung spezifisch weiblicher Kriegs- und Nachkriegserfah- rungen und ihre Auswirkun- gen auf die Lebensentwürfe und das Selbstverständnis von Frauen aus der zweiten Generation (also der Töchter der „Kriegsmütter“) nahe.
Ulla Roberts legt mit ihrem Buch eine psychosozia- le Untersuchung ausgewähl- ter Fallgeschichten von Frau- en der Jahrgänge 1933 bis 1943 vor. Die Autorin zählt selbst zu dieser Gruppe und schreibt entsprechend ein durchaus persönliches Buch, indem sie die eigenen Erfah- rungen zu denen der vorge- stellten Frauen in Bezug setzt.
Dabei trägt sie verschiedene psychische, politische und so- ziale Faktoren zusammen, welche die Lebensgeschich- ten der während des Krieges geborenen beziehungsweise aufgewachsenen Töchter ge- prägt haben. So fokussiert sie beispielsweise die sich wäh- rend des Krieges wandelnde Rolle der Mütter, die oft von einem Zuwachs an Selbst- bewusstsein und verantwort- licher Stärke geprägt war, ebenso wie die damit verbun- dene Leerstelle im Bezug auf den Platz des Vaters, der oft idealisiert oder aber abgelehnt und entwertet wurde und bei vielen Frauen zu einem ent- fremdeten Vater-Tochter-Ver-
hältnis führte. Die emotiona- len Auswirkungen der Kriegs- erlebnisse werden ebenso dis- kutiert wie der ideologische und politische Kontext der nationalsozialistischen Fami- lienwirklichkeiten.
Die Autorin zeichnet damit ein recht umfangreiches Bild der Auswirkungen einer So- zialisation und psychischen Entwicklung während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, es wirkt in dieser Rundum- schau aber auch etwas ober- flächlich. Das mag an der He- terogenität der vorgestellten Lebensgeschichten liegen, die eher oberflächliche denn dif- ferenziert herausgearbeitete Verallgemeinerungen zulas-
sen. So ist zum Beispiel infra- ge zu stellen, ob nicht syste- matischer im Bezug auf die jeweiligen Geburtsjahre hätte unterschieden werden müs- sen, denn es ist kaum zu be- zweifeln, dass im Rückbezug auf die kindliche Entwicklung
jedes Kriegsjahr die Erfah- rungen sehr unterschiedlich geprägt haben wird.
Als Leserin, die sich durch die Lektüre Aufschluss über die Kriegskindheit der eige- nen Mutter erhofft, erhalte ich zwar eine Einstimmung auf mögliche relevante As- pekte, bei den vielen ver- schiedenen Beispielen kann aber eine spezifische Gestalt unterschiedlicher kriegsbe- zogener Traumatisierungen nicht klar genug herausgear- beitet werden. So bleibt man nach Lektüre des Buches mit offenen Fragen zurück, die immerhin den intergenera- tionellen Dialog anzuregen vermögen. Vera Kattermann
Deutsches ÄrzteblattJg. 103Heft 3028. Juli 2006 AA2035
B Ü C H E R
Medizingeschichte
Schattenseiten und Glanzlichter
Thomas Deres (Hrsg.): krank – gesund. 2000 Jahre Krankheit und Gesundheit in Köln. Kölni- sches Stadtmuseum, Köln, 2005, 352 Seiten, 330 farbige Abbildun- gen, gebunden, 24,80 A
Der Kölner Ärztestreik von 1904 war ein voller Erfolg.
Die Kassenärzte setzten ihre Forderungen nach freier Arztwahl und höherem Ho- norar durch. Dieser und der kurz darauf ebenfalls erfolg- reich beendete Leipziger Streik bedeuteten den Wen- depunkt in den Beziehungen der Ärzte zu den Kranken- kassen. Die Wende setzte ei- gentlich schon 1903 beim Deutschen Ärztetag, gleich- falls in Köln, ein, als Ärztever- einsbund und Hartmannbund den Schulterschluss suchten.
Ein weiterer großer Schritt folgte beim 50. Deutschen Ärztetag 1931, auch in Köln, als die Grundstrukturen für die kassenärztliche Versor- gung verhandelt wurden.
In Köln wurde damals al- so Ärztegeschichte geschrie- ben, fortgesetzt ab 1951, als sich die ärztlichen Spitzenor- ganisationen in Köln nieder- ließen (und beendet 2004, als sie sang- und klanglos die Stadt verließen).
Solches ist nachzulesen in einem voluminösen Band, der die städtische Gesund- heitspolitik und Kranken- versorgung von der Römer- zeit bis in die Gegenwart be- handelt, konzentriert auf den öffentlichen Gesund- heitsdienst. Verfasser sind 20 Mediziner, Historiker und (bei dieser Stadtgeschichte unentbehrlich!) Archäolo- gen, darunter hervorragende Vertreter ihres Faches. An- lass für die Publikation war eine Ausstellung im Köl- nischen Stadtmuseum im Herbst 2005. Der Ausstel- lung ist die reiche Bebilde- rung des Buches zu verdan- ken. Ansonsten stehen die Artikel für sich und sind für jeden von Interesse, der sich über die medizinische Ver- sorgung aus lokaler Perspek- tive und am Beispiel einer großen Stadt informieren will. Anhand der lokalen
Probleme und Lösungen wird „große“ Gesundheits- politik erst anschaulich.
Städtische Krankheitsge- schichte ist nicht zuletzt eine Geschichte der großen In- fektionen: Pest, Lepra, Cho- lera, Spanische Grippe ha- ben in Köln gewütet und sind mit mehr oder öfters weniger Erfolg behandelt worden, zum Teil mit abson- derlichen Methoden. Hinzu- gekommen ist Aids, deren Kölner Frühgeschichte ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Die Seuchen hatten auch ihr Gutes: Die Hygiene wur- de vorangetrieben, die Ge- sundheitsaufklärung hatte hier einen ihrer Ursprünge, den Elenden widmeten sich mitleidige Siechenmägde.
In der Sorge für psychich Kranke hat sich die Stadt Köln nicht immer leicht ge- tan, aber auch einige Meri- ten aufzuweisen – von der Fürsorgestelle für Nervöse bis zur modernen Gemein- depsychiatrie. Beschämend war die Haltung in der NS- Zeit. Die auf ihre Liberalität so stolze Stadt hat bei der Ausmerze genauso mitge- macht wie fast alle anderen in Deutschland. Es ehrt die Verantwortlichen für Aus- stellung und Buch, die Schat- tenseiten wie die Glanzlich- ter gleichermaßen beleuch- tet zu haben. Norbert Jachertz