um 1. Januar 2000 traten zwei von der rot-grünen Koalition initiierte Gesetze zur Ge- sundheitsreform in Kraft, die we- sentliche Änderungen des Sozialge- setzbuches V (SGB V) enthalten:
das „Gesetz zur Reform der gesetz- lichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV-Reformgesetz 2000)“, das sich auf zustimmungs- freie Teile des ursprünglich um- fassenderen Gesetzentwurfs be- schränkt, und das „Gesetz zur Rechtsangleichung in der Gesetz- lichen Krankenversicherung“. Letz- teres regelt den gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich in der Ge- setzlichen Krankenversicherung zu- gunsten der notleidenden vier Orts- krankenkassen in den neuen Bun- desländern.
Die Neuregelung für den ge- samtdeutschen Risikostrukturaus- gleich fand die Mehrheit des Bun- desrates (am 17. Dezember), weil auch unionsregierte Ost-Bundes- länder für die Vorlage der Bundes- regierung stimmten. Mithilfe des Finanzausgleichs, der beginnend ab dem Jahr 2001 bis 2007 schrittweise eingeführt wird, wird das getrennte System der Finanzausgleiche zwi- schen „gesunden“ und „kranken“
Krankenkassen in Ost und West ab- geschafft. Mit der Ost-West-Anglei- chung des Risikostrukturausgleichs in der GKV soll der inzwischen auf
1,9 Milliarden DM angehäufte Schuldenberg der vier Allgemeinen Ortskrankenkassen im Osten abge- baut werden. Die sächsische Lan- desregierung, die der Regelung zu- gestimmt hat (obwohl die dortige AOK kein Defizit aufweist), be- zeichnete den gesamtdeutschen Ri- sikostrukturausgleich als einen „be- deutenden Schritt zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in Deutschland“. Allerdings müssten die finanziellen Auswirkungen die- ser Transaktion noch überprüft wer- den, um zu verhindern, dass die Bei- tragssätze in den neuen Ländern niedriger als die Sätze im alten Bun- desgebiet liegen. Die Beitragsbela- stung der West-Beitragszahler zu- gunsten der Ostkassen sei zumut- bar.
Das Echo zur „abgespeckten“
Reform ist geteilt: Während die Unionsparteien das Gesamtpaket der Gesundheitsreform sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat wegen des „verfehlten Grundansat- zes“ ablehnten, sieht Bundesge- sundheitsministerin Andrea Fischer eine „Vielzahl struktureller Verbes- serungen“ – unbeschadet der Tatsa- che, dass Kernelemente des Ur- sprungsentwurfs nicht realisiert wurden. Die Spitzenverbände der Krankenkassen sehen versorgungs- politische Verbesserungen, bekla- gen jedoch die noch weitgehend un-
gelösten strukturellen Probleme.
Positiv werten die Krankenkassen vor allem die Wiedereinführung von Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung, zur Stär- kung des Verbraucherschutzes und von Selbsthilfegruppen. Auch die neu eingeführte „integrative Ver- sorgung“ wird als eine Möglichkeit gelobt, Wirtschaftlichkeit und Qua- lität durch eine verbesserte Verzah- nung von haus-, fachärztlicher und Krankenhausversorgung zu verbes- sern. Für die meisten Verbände der Leistungserbringer (auch die Ärzte- schaft) ist das Regelwerk nur be- dingt ein Sieg, da die ursprünglich bis Ende 1999 geltenden sektoralen Budgets jetzt unbefristet fortgelten und die Beitragsstabilität verschärft festgeschrieben wurde.
Folgende Kernpunkte der ur- sprünglich geplanten Reform sind – weil zustimmungspflichtig – entfallen:
– Globalbudget;
– stufenweise Umstellung der dualistischen Krankenhausfinanzie- rung auf Monistik bis zum Jahr 2008;
– landesweiter Gesamtbetrag für die Krankenhäuser;
– Änderung der Krankenhaus- planung;
– Etablierung neuer bereichs- übergreifender Datensammelstellen bei den Krankenkassen;
– „Benchmarking“ bei Arznei-
mittelverordnung; !
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P O L I T I K LEITARTIKEL
Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 1–2, 10. Januar 2000
GKV-Gesundheitsreform 2000
Stabile Beiträge über alles!
Am 1. Januar 2000 trat das vom Bundestag
am 16. Dezember 1999 in abgespeckter Form beschlossene
„GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000“ in Kraft.
Es setzt die sektorale Budgetierung zeitlich unbefristet fort.
Z
– Änderung der Organisations- verfassung der Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen (analoge Rekrutierung und Struktu- rierung wie bereits bei den Kranken- kassen).
Folgende Neuregelungen gelten ab dem 1. Januar:
– Risikostrukturausgleich;
– sektorale, an den Grundsatz der Beitragssatzstabilität gebundene Budgets;
– Einführung eines pauschalier- ten Entgeltsystems für die stationäre Versorgung;
– Verzahnung/Integrierte Versor- gung;
– Neuregelung zur Qualitätssi- cherung/Qualitätsmanagement und zur Koordinierung.
Leistungsverbesserungen/
Senkung der Zuzahlungen
Die gesetzlichen Krankenkas- sen werden im Jahr 2000 mit min- destens 1,9 Milliarden DM wegen folgender „Leistungsverbesserungen“
belastet: 4
Vertragsärztliche Versorgung
Für die vertragsärztliche Versor- gung wird die sektorale Budgetierung reanimiert und unbefristet fortge- setzt. Zusammen mit der verschärften strikten Bindung der vertragsärztli- chen Gesamtvergütung an die Grund- lohnentwicklung wird die Kosten- dämpfung in diesem Sektor ver- schärft. Sektorale Budgets gelten auch für Arznei- und Hilfsmittel so- wie für die Krankenhausversorgung.
Im Gesetz wird klargestellt, dass als Obergrenze für die Vereinbarun- gen über die Veränderungen der jeweiligen Vergütungen grundsätz- lich die vom Bundesgesundheits- ministerium jährlich bekannt gegebe- ne bundesdurchschnittliche Verände- rung der beitragspflichtigen Einnah- men (Grundlohn) anzuwenden ist.
Ausnahmsweise kann in den neuen Bundesländern höher abgeschlossen werden, sofern der Zuwachs der Grundlohnsumme oberhalb der ver- gleichbaren Summe in den alten Län- dern liegt. Demnach gilt als Verände- rungsrate für das Jahr 2000: Grund- lohnveränderung im zweiten Halb- jahr 1998 plus Veränderung im ersten Halbjahr 1999. Dies ergibt ein Plus von 1,4 Prozent. Diese Veränderungs- rate wird gesetzlich festgelegt. Per saldo bedeutet dies für den Vertrags- arzt ein Minus, da die Arztzahlen im gleichen Zeitraum um netto 1,5 Pro- zent gestiegen sind.
Die Veränderungsrate zur An- passung der sektoralen Budgets gilt für jede Vergütungsvereinbarung, je- doch gibt es günstigere Abweichun- gen für den Krankenhaussektor.
Ausgenommen von der strikten gesetzlichen Vorgabe ist der Bereich
„Vorsorge- und Früherkennungsmaß- nahmen“. Dagegen ist die auf politi- sche Veranlassung erfolgte Auswei- tung der Indikationsstellung zur Me- thadon-Substitution jetzt in die Bud- gets integriert worden. Die Budgets werden zusätzlich durch neue Lei- stungen belastet, etwa durch die „So- ziotherapie“.
Die Konzertierte Aktion im Ge- sundheitswesen legt alle zwei Jahre, erstmals im April 2001, ein Gutachten vor, in dem der gesetzliche Anpas- sungsrahmen und der medizinische
Bedarf konkretisiert werden. Inwie- weit dies Einfluss auf die Anpassungs- modalitäten der Budgets hat, ist noch offen.
Künftig gibt es wegen der mehr- fach restriktiven Konstellationen kaum noch Chancen für die Ver- tragsärzte, Forderungen vor dem Schiedsamt durchzusetzen. Denn künftig sind Beitragserhöhungen prinzipiell ausgeschlossen, „es sei denn, die notwendige medizinische Versorgung ist auch nach strikter Aus- schöpfung der Wirtschaftlichkeitsre- serven ohne Beitragssatzerhöhungen nicht zu gewährleisten“.
Künftig sind selektive Vertrags- gestaltungen möglich. Das bedeutet:
– Ambulante Rehabilitation: Ver- tragliche Einbeziehung in die ver- tragsärztliche Versorgung ist möglich;
– Modellvorhaben – im Beneh- men mit der Kassenärztlichen Verei- nigung: Rahmenvereinbarungen mit der KBV (Bundesmantelvertrag) sind möglich;
– Integrierte Versorgung: Rah- menvereinbarung mit der KBV ist zwingend erforderlich; die Kassen- ärztlichen Vereinigungen können be- teiligt werden. Sie sind Vertragspart- ner und übernehmen Beratungs- und Verteilungsfunktion.
– Strukturverträge (gemäß § 73 a SGB V): Rahmenvereinbarung mit der KBV ist möglich.
– Stärkung der Struktur der hausärztlichen Versorgung: Die bishe- rigen gesetzlichen Bestimmungen werden weitgehend beibehalten. Bis zum 31. März 2000 sind die Leistun- gen in getrennte EBM-Kapitel für haus- und fachärztliche Leistungen aufzugliedern. Getrennter Honorar- anteil (Frist bis 28. Februar 2000 durch den Bewertungsausschuss; an- derenfalls bis zum 30. April 2000 „Er- satzvornahme“ durch den Verord- nungsgeber). Funktionale Gliederung gemäß § 73 Abs. 1 SGB V Allgemein- arzt/Internist/Kinderarzt. Einführung einer eigenständigen Leistungsgebüh- renordnung für Hausärzte im Zusam- menhang mit den getrennten Hono- raranteilen. Verstärkung der Kommu- nikationspflicht zwischen Haus- und Fachärzten durch erweiterte Doku- mentationspflichten der Hausärzte.
Hausärzte bilden ab dem 1. Januar 2000 mit Ausnahme der Kinderärzte A-18
P O L I T I K LEITARTIKEL
Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 1–2, 10. Januar 2000 Tabelle
Zusätzliche Belastung in 2000
nach Schätzungen der Krankenkassen (in Mio. DM) c Absenkung der Zuzahlung bei
stationärer Rehabilitation . . . 60 c Unterstützung von
Verbraucherorganisationen sowie von Patienten bei
Behandlungsfehlern . . . 100 c Wegfall Mindestbeitrag
für freiwillig versicherte
Rentner . . . 100 c Einführung ambulanter
Soziotherapie . . . 125 c Ausbau Zahnprophylaxe,
Gesundheitsförderung,
Selbsthilfegruppen . . . 630 c Ausnahmebedingungen
für Ausgabenzuwachs über Grundlohnzuwachs im
Krankenhaus . . . 800–1 000 Summe . . . ca. 1 900
Vortrag, Dr. jur. Reiner Hess, anlässlich der Vertreterversammlung der KBV am 4. Dezember 1999 in Köln
eine Arztgruppe. Angabe des Titels
„Hausarzt“ auf dem Praxisschild. Ein- führung eines beratenden Fachaus- schusses bei der KBV.
– Ab 1. Januar 2003 gilt die Be- darfszulassung nach vorgegebenen Bedarfskriterien. Das Bundesge- sundheitsministerium wird bis zum 31. Dezember 2001 von einem Insti- tut die Datengrundlage für die Be- darfszulassung erstellen lassen. Ab 1. Januar 2006 dürfen für die ausge- schriebenen Hausarztsitze grundsätz- lich nur Allgemeinärzte berücksich- tigt werden (Zulassungsprivileg). In- ternisten ohne Schwerpunkt müssen sich bis zum 1. Januar 2001 entschei- den, ob sie entweder im haus- oder im spezialisierten fachärztlichen Sektor vertragsärztlich tätig sein wollen. Bei der Wahl einer Hausarztbetreuung winkt dem Versicherten ein Bonus (Modellversuche).
– Einführung einer „Positivliste“
(mit Anhang) für erstattungsfähige Arzneimittel durch ein unabhängiges, noch einzurichtendes Arzneimittel- Institut, das mit Wissenschaftlern un- terschiedlicher Disziplinen und un- terschiedlicher Gewichtung besetzt ist. Die Liste kann jedoch nur umge- setzt werden, wenn der Bundesrat – voraussichtlich Mitte 2001 – zu- stimmt.
Der Richtgrößen-Regress soll die Kollektivhaftung bei Budgetüber- schreitungen vermindern. Die Prüf- schwellen bei Richtgrößen-Prüfungen werden jeweils um zehn Prozentpunk- te gesenkt – von zehn auf fünf und von 25 auf 15 Prozent. Außerdem: Ver- pflichtung der Apotheker zur Abgabe von Reimporten; Einschränkung der kommerziellen Verwertung der Ver- rechnungsdaten aus Apotheken-Re- chenzentren.
– Qualitätssicherung (QS): Ver- tragsärzte und Krankenhäuser wer- den verpflichtet, sich an den Maßnah- men der QS zu beteiligen. Die Richt- linien-Kompetenz der KBV hierbei entfällt. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen legt die Kriterien für QS fest. Es wird ein neu- er Bundesausschuss „Krankenhaus“
gebildet; dieser soll gemäß § 137 c SGB V neue Untersuchungs- und Be- handlungsmethoden im Krankenhaus bewerten (analog zum NUB-Aus- schuss im Vertragsarztsektor). In ei-
ner neuen Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Qualitätssicherung in der Medizin (§ 137 b SGB V) sind ne- ben der Ärzteschaft künftig auch die PKV und die Pflegeberufe einzu- beziehen; auch Patientenvertreter können beteiligt werden. Die Betei- ligten bilden einen Koordinierungs- ausschuss (§ 137 e SGB V), an dem neben Vertretern der Krankenkassen und der Deutschen Krankenhausge- sellschaft e.V. auch Vertreter der KZBV, der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung beteiligt sind. Dieser koordiniert die beiden Bundesausschüsse und entwickelt evidenzbasierte medizini- sche Leitlinien für mindestens zehn Krankheiten pro Jahr, die in der Pra- xis anzuwenden sind.
Regelungen im Krankenhaussektor
Beachtung des Grundsatzes der Beitragsstabilität. Die Veränderungs- rate für die Klinikbudgets wird am 15. September eines jeden Jahres be- kannt gegeben. Die Veränderungsrate für das Jahr 2000 berechnet sich analog der bei den Vertragsarztbudgets und beträgt 1,4 Prozent. Da die Lohnent- wicklung in den neuen Bundesländern negativ war, wird die Berechnungs- basis für das Budget 2000 in den neuen Ländern um 0,48 Prozent erhöht.
Bei der Einführung des pauscha- lierten Entgeltsystems nach dem Mu- ster der US-amerikanischen Diagno- sis Related Groups (DRG) sollen die Punktwerte für die neuen Länder und für das übrige Bundesgebiet geson- dert festgelegt werden. Berücksichti- gung der Auswirkungen einer BAT- Ost-West-Angleichung als Ausnah- metatbestand. Weitere fünf Ausnah- metatbestände gelten für den Klinik- bereich und durchbrechen die Grund- lohnankoppelung beim Budgetab- schluss zugunsten der Krankenhäuser, wenn erforderlich:
– bei vereinbarter Veränderung der medizinischen Leistungsstruktur oder erhöhten Fallzahlen;
– bei planbedingten zusätzlichen Kapazitäten oder infolge des Investi- tionsprogramms des Landes;
– zur Finanzierung von Rationa- lisierungsinvestitionen (§ 18 b KHG);
– Vorgaben der Psychiatrie-Per- sonalverordnung;
– Mindererlösausgleich: Minder- erlöse werden künftig zu 40 und nicht – wie bisher – zu 50 Prozent ausgeglichen.
c Instandhaltungsfinanzierung:
Der 1,1-prozentige pauschale Zu- schlag zu den Budgets gilt ab dem Jahr 2000 unbefristet weiter. Es besteht Nachweispflicht der zweckgebunde- nen Mittelverwendung.
Die einprozentige Fehlbele- gungsabgabe bleibt auf die Jahre 1997 bis 1999 begrenzt. Für das Budget 2000 ist der Gesamtbetrag des Jah- res 1999 maßgeblich, also unter Berücksichtigung des Fehlbelegung- abschlags in Höhe von einem Prozent des Budgets.
c Pauschaliertes Entgeltsystem:
Durchgängiges, leistungsorientiertes und pauschaliertes Vergütungssystem (mit Ausnahme der psychiatrischen Leistungen). Die Entgelte sind Fest- preise; die Punktwerte sind in den neuen Ländern und im übrigen Bun- desgebiet gesondert festzulegen. Die Selbstverwaltung auf Bundesebene vereinbart bis zum 30. Juni 2000 die Grundstrukturen des Vergütungssy- stems und das Verfahren zur Ermitt- lung der Bewertungsrelation, insbe- sondere der zugrunde zu legenden Fallgruppen. Start des Fallpauscha- lensystems ab 1. Januar 2003. Umset- zung budgetneutral in einem Über- gangszeitraum von 2003 bis 2005.
c Private Krankenversicherung:
Pflicht zur Erhebung eines zehnpro- zentigen Zuschlags bei Neuversicher- ten zur zusätzlichen Beitragsentlastung im Alter. Voraussetzung: Der Vertrag der Neuversicherten ist ab dem 1. Janu- ar 2000 abgeschlossen worden. Bereits Versicherte können den Zuschlag frei- willig wählen. Er ist in fünf Schritten von zwei Prozent ab 1. Januar 2001 ein- zuführen. Arbeitnehmer haben An- spruch auf entsprechend höheren Ar- beitgeberzuschuss. Erweiterung des
„Standardtarifs“ mit entsprechender Beitrags- und Honorarbegrenzung; Zu- gangsberechtigung ab dem 55. Lebens- jahr. Außerdem: Öffnung der privaten Krankenversicherung für Beamte ohne Risikozuschlag. Dr. Harald Clade A-19
P O L I T I K LEITARTIKEL
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