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Archiv "Beweis-Notstand in der angewandten Medizin" (01.06.1989)

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DEUTSCHES

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Beweis-Notstand

in der angewandten Medizin

Ein „Mann der Praxis" hat uns zur Frage des Bewei- ses in der Medizin einige Gedanken übermittelt, die wir in einer Kurzfassung unseren Lesern nicht vor- enthalten wollen. Natürlich kann man über die Wirk- samkeit alternativer Me- thoden bei vielen der ge- nannten Krankheiten, zum Beispiel bei Neoplasien, wo es eine Gruppe mit de- finitiven Heilungen gibt, verschiedener Meinung sein (siehe zum Beispiel das Symposium über Krebs und . alternative Me- thoden in St. Gallen, Deut- sches Ärzteblatt, Heft 1/2 vom 3. Januar 1986). Dieser gekürzte Artikel soll mehr ein Denkanstoß sein als ei- ne Anregung für uferlose Leserbriefe. R. Gross

Die notwendige Kostendämp- fung im Gesundheitswesen kann nicht auf die Mitwirkung der Ärzte und auf verwaltungstechnische Maß- nahmen beschränkt bleiben. Auch die Forschung ist aufgerufen, sich an der Klärung von Fragen zu beteili- gen, die in der Vergangenheit leider mehr polemisch als kritisch behan- delt worden sind. Das Bundesmini- sterium für Forschung und Techno- logie sowie die medizinischen Fakul- täten haben es versäumt, Heilungssy- steme auf die Relation von Wirksam- keit und Kosten zu untersuchen. Bei aller Achtung vor psychischen Ein- flüssen in der Heilkunde kann sich eine verantwortungsbewußte Soli- dargemeinschaft keine systemimma- nenten Fehler leisten. Selbstver-

ständlich ist bei der Anwendung ei- nes Heilmittels die körperliche und geistig-seelische Situation des Kran- ken zu berücksichtigen. Das bedeu- tet nicht, daß unkontrollierbare, in- dividuell unterschiedliche Suggestiv- wirkung die naturgesetzlich definier- te Kausalität eines Systems verschlei- ern dürfte.

Jede Diskussion über tatsäch- liche oder angebliche Gesetzmäßig- keiten setzt übereinstimmende, ob- jektivierbare Erkenntnisse bei sämt- lichen Prüfern in aller Welt voraus.

Damit wird kein inhumaner Materia- lismus befürwortet. Wie bei den Re- ligionsgemeinschaften erscheint es aber vertretbar, die Kosten für ideo- logische Betreuung nicht der Allge- meinheit aufzubürden, sondern dem einzelnen Bürger, der sie bean- sprucht. Als Ausgangspunkt naturge- setzlicher Konstruktionen sind varia- ble philosophische, moralische, ge- sellschaftliche oder politische Vor- stellungen ungeeignet. Galilei und Giordano Bruno hatten eben des- halb ihre Schwierigkeiten mit der Kirche.

Die Medizin ist weder Mathe- matik noch exakte Naturwissen- schaft. Das macht sie zum säkularen Tummelplatz von Laien und Irrleh- rern. In sich logische Denkmodelle sind nur dann wissenschaftlich an- nehmbar, wenn die Prämissen objek- tivierbar und einer so zwingenden Kausalität verpflichtet sind wie die Fahrt zum Mond.

Eine weitere Voraussetzung für sinnvolle, dem Fortschritt dienende Diskussion ist die Übereinstimmung der Gesprächspartner in der verba- len Ausformung verwendeter ab- strakter Begriffe. Handelt es sich um medizinische Sachprobleme, so spielt die exakte Definition von Ge- sundheit und Krankheit eine ent- scheidende Rolle. Beide sind un- scharfe Begriffe. Ohne semantische Übereinkunft der Kontrahenten si- chern solche Worte dem Scharlatan einen rabulistischen Sieg.

Dreifache Genauigkeit

Das akademische Lehrfach Me- dizin ist angewandte Naturwissen- schaft. Bei der Beurteilung von Hei- lungssystemen mit allgemeiner und zeitloser Gültigkeit ist deshalb drei- fache Genauigkeit unerläßlich. Die Grundthese muß im Experiment zu gleichen, wiederholbaren Ergebnis- sen führen. Alle Folgerungen aus der so gewonnenen Grundthese müssen zwingend logisch sein. Der Wortlaut aller daraus abgeleiteten Gesetzmä- ßigkeiten darf nicht unterschiedlich auslegbar sein.

Auf Heilungssysteme bezogen besteht eine gesetzmäßige Abhän- gigkeit zwischen Absicht und Erfolg, also eine weitgehend zuverlässig aus- gelöste Kausalkette. Jede symptoma- tische palliative Behandlung ist ein Notbehelf in jenen Fällen echter Krankheit, deren Ursache noch un- bekannt oder nicht eliminierbar ist.

Der Begriff „echte Krankheit"

bedarf der Definition. Er ist nicht ex- akt abgrenzbar im geistig-seelischen Bereich. Hier ist der Übergang vorn Normalen zum Krankhaften fließend und deshalb dem objektiven Meßbe- reich entzogen. Es sei nur an die wi- dersprüchlichsten gerichtsmedizini- schen Gutachten erinnert, die über die Zurechnungsfähigkeit eines Straftäters zu entscheiden haben.

Von den Charakterstudien des Jo- hann Kasper Lavater über die Vor- weisung der „Großen Hysterie"

durch Jean Marie Charcot bis zur modernen Psychiatrie spannt sich der Bogen fragwürdiger Seelendia- gnostik.

Was im geistigen Bereich gilt, trifft auch für das rein funktionelle Geschehen im organischen Bereich zu, wenn es nicht objektivierbar und wiederholbar ist. Der unbestrittene subjektive Krankheitswert genügt nicht für die logische Darstellung ei- A-1690 (74) Dt. Ärztebl. 86, Heft 22, 1. Juni 1989

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ner Kausalkette. Das Schlagwort:

„Wer heilt, hat recht" inthronisiert Aberglauben, Dämonenzauber, Schamanentum und Scheintherapie.

Sie alle haben Heilungserfolge und können sich auf die Erfahrung von Jahrhunderten oder gar Jahrtausen- den berufen.

„Alternative" Methoden an „echten" Krankheiten prüfen

Wer sich im 20. Jahrhundert un- kritisch dieser Erfahrung anschließt, muß weiterhin mit Dachs- und Mur- meltierfett, getrockneten Kröten, ge- mahlenen Rhinozeroshörnern, Al- raunwurzeln, Stanniolkugeln und Maskentänzen behandeln. Sie alle haben noch in der Gegenwart be- trächtlichen Heilungswert. Aber auch so hochgelobte Anwendungen wie Mesmerscher Körpermagnetis- mus, chinesisches Brennen und Ste- chen, Wasser aus heiligen Quellen, Hahnemannsche Hochpotenzen, kostspielige Abschirmung von Erd- strahlen bedürfen endlich der wis- senschaftlichen Kontrolle. Wenn ih- re Wirkung einer echten Gesetzmä- ßigkeit folgt, ist es unverantwortlich, sie nicht an allen Hohen Schulen der Medizin einzuführen. Die wissen- schaftliche Heilkunde ist in ihrem Streben nach kausaler Therapie noch längst nicht am Ziel. Immerhin beweist das in einem einzigen Jahr- hundert Erreichte, daß echte Krank- heiten von ihrer Ursache her ausge- rottet werden können. Wir älteren Ärzte haben noch erlebt, daß in Deutschland von 100 000 Einwoh- nern fast 400 an Tuberkulose gestor- ben sind. Wir sind noch Zeugen qualvollen Kindersterbens an Diph- therie und Poliomyelitis gewesen, wir haben die ersten Heilungen der per- niziösen Anaemie, des diabetischen Komas, der Syphilis und der progres- siven Paralyse erlebt — Krankheitsbil- der, die heute nicht einmal mehr in den großen Kliniken vorgezeigt wer- den können.

Bei der Diskussion um wirk- lichen medizinischen Fortschritt müssen die Heilungssysteme an ech-

ten Krankheiten wie den genannten getestet werden. Als echte Krank- heiten gelten ausschließlich solche Befindensstörungen, die durch phy- sikalische, chemische oder bakterio- logische Parameter dokumentierbar und in ihrem Verlauf kontinuierlich verfolgbar sind.

Allerdings muß sich jedes thera- peutische Prinzip an der feinen latei- nischen Unterscheidung messen las- sen, die lautet: „Medicus curat, natu- ra sanat". Immer hat die kurative Leistung zum erzielten Erfolg in kausaler Beziehung zu stehen, wenn dem angewandten System allgemei- ne Gültigkeit zugesprochen werden soll. Dieser Zusammenhang ist bei den modernen Forschungsmöglich- keiten absolut sicher feststellbar. Für Doktoranden tut sich ein dankbares Arbeitsfeld auf.

Wir wissen, daß die Selbsthei- lungskräfte der Natur und die Placebo- wirkung unterschiedlichster Einflüsse in 70 bis 80 Prozent des allgemeinärzt- lichen und internistischen Kranken- guts einen Kausalzusammenhang zwi- schen Absicht und Erfolg vortäu- schen. Der kritische und seiner Auto- rität sichere Arzt wird ohne kostspieli- ge Placebos kurieren. Wer aufgerufen ist, kausal heilende Systeme zu ent- decken, zu erweitern oder zu korrigie- ren, muß endlich das Angebot alter- nativer Heilungsmethoden zur Kenntnis nehmen, prüfen und kausale Gesetzmäßigkeit an echten Krank- heitsbildern objektivierbar machen.

Dort, wo die kausale Therapie be- reits gesichert ist, sind weniger sichere Anwendungen weder notwendig noch zu verantworten. Als Beispiele seien einige wenige herausgegriffen: Avita- minosen, Seuchen, akute und chroni- sche Vergiftungen, auch angeborene wie die Phenylketonurie, substituier- bare Hormonstörungen wie Tetanie, Myoedem, Morbus Chushing, Diabe- tes mellitus und insipidus, Alterspar- kinson, funikuläre Myelose.

Gerechtfertigte Alternativen

Keineswegs überflüssig wäre ei- ne alternative Medizin bei Krank- heiten, die nur operativ, also nicht

kausal angegangen werden. Dazu ge- hören gewisse degenerative Gelenk- erkrankungen, die Dupuytrensche Kontraktur, Glaukom und Katarak- te, Otosklerose, Tumoren.

Die Liste echter Krankheiten, an denen alternative Heilungsysteme getestet werden müßten, ist leider noch sehr groß. Man denke an AIDS, multiple Sklerose, Syringo- myelie, amyotrophische Lateralskle- rose, juvenile Muskeldystrophie, die Kollagenosen, fortschreitende Netz- hautdegeneration, Morbus Alzhei- mer, primär chronische Polyarthritis, Leukämie, chronische Glomerulo- nephritis und Nephrosen, Leberzir- rhose.

Einer wissenschaftlichen Erklä- rung bedürfte auch der merkwürdige Umstand, daß Krankheiten, die kau- saltherapeutisch geheilt werden kön- nen, gegen Anwendung anderer Hei- lungssysteme refraktär sind.

Echte Krankheiten mit objekti- vierbaren Parametern sind sicher nicht die zahlreichen Sorgen der täg- lichen Praxis wie Migräne, Asth- ma, Magengeschwüre, nichteitrige Krankheiten der Nasennebenhöh- len, Dyspepsien, Darmstörungen, Allergien, Schlaflosigkeit und weder neurologisch noch kernspintomogra- phisch verifizierbare Lähmungen.

Sie und viele andere sind der Spontanheilung fähig und daher für Systembeweise ungeeignet.

Dr. med. Kurt Weidner Lechnerstraße 31 8026 Ebenhausen

Morbus Hodgkin

In dem Beitrag „Morbus Hodg- kin — Die Wertigkeit einzelner Blut- und Serumuntersuchungen für die Rezidivdiagnostik" (Deutsches Ärzteblatt 86, Heft 5 vom 2. Februar 1989, von H.-J. Schaefer et al.) muß es statt der genannten Serum-Eisen- Erhöhung als Aktivitätszeichen der Erkrankung Serum-Eisen-Erniedri- gung heißen, wie in Abbildung 1 zu- treffend angegeben. MWR Dt. Ärztebl. 86, Heft 22, 1. Juni 1989 (77) A-1693

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