Zur Fortbildung Aktuelle Medizin NOTFALL IM BEREITSCHAFTSDIENST
Die akute Poliomyelitis
Der Poliomyelitis, einer neurotropen Virusinfektion, liegt eine Myelitis der Vorderhörner des Rücken- marks zugrunde. Das Stadium der Lähmung beruht aut einer prototypischen Läsion des peripheren, motor.ischen Neurons mit schlaffer Paralyse und Reflexverlust sowie nachfolgender Muskelatrophie. 1952 war das Jahr der höchsten Erkrankungszahl in d~r Bundesrepublik: 9728 Fälle. Mit Einführung der Massen-Immunisierung nach den Methoden von Salk und Sabin gingen die Erkrankungszahlen ab Anfang der 60er Jahre rasch zurück. Die Schluckimpfung nach Sabin hat sich durchgesetzt, sie ist ab dem dritten Lebensmonat mit Erfolg möglich und stellt eine Durchseuchung mit abgeschwächten, ungefährlichen Poliomyelitisviren dar. Die Impfaktionen in der Bundesrepublik haben bewirkt, daß 1974 nur 18 und 1976 40 Erkrankungen gemeldet wurden. Die Voraussetzung für den anhaltenden Schutz gegen Epidemien ist eine mindestens 75-BOprozentige Erfassung aller Jahrgänge.
Symptomatik
Die Vorphase ist uncharakteri- stisch und von banalen Virus- infekten nicht zu unterschei- den. Für 1 bis 3 Tage bestehen katarrhalische Symptome: ..,. Schnupfen, Halsentzün- dung, Angina. Manchmal auch gastroenteritisehe Stö- rungen. Nur selten höheres Fieber und ausgeprägtes KrankheitsgefühL Oft wird die Vorphase "im St~hen" abge- macht. Die Poliomyelitis-! n- fektion kann mit dieser Phase
der "minor illness" beendet
sein.
Die Hauptphase. Das meningi- tiseh-präparalytische Stadium setzt typischerweise 1 bis 4 Tage nach der Vorphase ein. Es kommt plötzlich zum Rück- fall:
..,. Ernstes Krankheitsgefühl, Fieber um 38 bis 39 Grad, Kopf- und Nackenschmerzen, Gliederschmerzen, Erbre- chen.
Abermals kann die Erkran- kung auf dieser Stufe beendet sein. Die paralysierende Polio- myelitis ist durch folgende Be- sonderheiten gekenn- zeichnet:
..,. Bevorzugter Befall proxi- maler Muskelgruppen.
Diagnose
Die Vorphase ist außerhalb von Epidemien nicht zu erkennen.
Das meningitischpräparalyti- sche Stadium der Hauptphase ist gekennzeichnet durch:
..,. Nackensteifigkeit, Phäno- mene von Kernig und Brud- zinski, Hauthyperästhesie. Li- quorpleozytose mit starkem Überwiegen der Lymphozyten ohne stärkere Eiweißvermeh- rung.
Die Poliomyelitis ist in diesem Stadium nicht von anderen Vi- rus-Meningitiden zu unter- scheiden.
Als Vorbote des Paralysie- rungsstadiums stellt sich eventuell eine charakteristi- sche Adynamie ("prämonitori- sche Schwäche") ein. Der sorgfältige Untersucher findet jetzt eine Abschwächung be- ziehungsweise Seitendiffe- renz der Reflexe.
Das Paralysierungsstadium realisiert im Einzelfall immer neue Lähmungskombinatio- nen, da ihm ein disseminierter Prozeß zugrunde liegt. Der as- zendierende Verlauf im Sinne der Landry-Paralyse ist nicht selten, daneben gibt es ein Überspringen von Etagen und
Therapie
Die Therapie ist ausschließlich symptomatisch.
Außerhalb des Krankenhauses sind die Möglichkeiten der Hilfe begrenzt. Bei der Ver- dachtsdiagnose Poliomyelitis ist eine Isolierung erforder- lich. Man wird ein Kranken- haus mit den Möglichkeiten der Intensivbehandlung be- vorzugen. Besteht bereits eine Schlucklähmung oder eine Atemparese, so ist größere Ei- le geboten. Die Atemparese erfordert den Eiltransport in Begleitung des Arztes. Die Schlucklähmung darüber hin- aus Seitenlagerung und leich- te Kopftieflagerung während des Transportes.
Der Arzt im Notdienst muß sich heutzutage darüber im klaren sein, daß die Poliomye- litis eine sehr seltene Erkran- kung darstellt. Er wird diese Diagnose allenfalls im Sinne einer Verdachtsdiagnose stel- len.
DEUTSCHES ARZTEBLATT
Heft1
vom5.
Januar 1978 17Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
Poliomyelitis
Symptomatik
~ Asymmetrische Ausbrei- tung.
~ Keine objektiven Sensibili- tätsstöru ngen.
Mit absteigender Häufigkeit werden die folgenden Körper- regionen betroffen: Beine,
Schultern, Oberarm, Rücken,
distale Muskeln, Atemmus- keln, Hirnnerven. Die Zeit der Lähmungsausbreitung be- trägt Stunden bis wenige Tage.
Nach der Lähmungsverteilung unterscheidet man den spina- len, den bulbopontinen und den enzephalitischen Typ.
Kombinationen sind nicht sel- ten. Enzephalytische Zeichen (Bewußtseinsstörungen, Hy- persalivation, Myoklonien, Nystagmus) haben wir bei 15 Prozent von 221 paralytischen Fällen beobachtet.
Hinweise auf eine Atemparese ergeben sich durch eine in kurze Perioden abgesetzte Sprache, durch die Unfähig- keit, ein brennendes Licht auszublasen, durch einen schwachen Hustenstoß, schließlich durch eine manife- ste Ruhedyspnoe. Die Schlucklähmung zeigt sich beim vorsichtigen Angebot von einzelnen Teelöffeln Was- ser durch Verschlucken.
Diagnose
"hohen Beginn" mit bulbo- pontinen Lähmungen (Fazia- lislähmung, Schluckläh- mung).
ln der meningitiseh-präparaly- tischen Phase stellt sich die Differentialdiagnose der Me- ningitis im weitesten Sinne, das heißt der bakteriellen Me- ningitiden einschließlich der Meningitis tuberculosa und der anderen Virusmeningiti- den
Im paralytischen Stadium ist vor allem eine Abgrenzung von den Polyneuropathien er- forderlich. Folgende Faustre- gel bewährt sich:
~ Die Poiiomyelitis bewirkt eine schlaffe, areflektorische, proximal betonte, asymmetri- sche Lähmung ohne Sensibili- tätsausfälle.
~ Die Polyneuropathie be- ginnt mit Parästhesien. Auch hier ist die Lähmung schlaff, areflektorisch, aber eher sym- metrisch und mit distaler Be- tonung. Es kommt zu distal einsetzenden objektiven Sen- sibi litätsstörungen.
18 Heft 1 vom 5. Januar 1978
DEUTSCHES ARZTEBLATT
Therapie
Anschrift des Verfassers:
Privatdozent
Dr. med. W. Nachtwey
Chefarzt der 111. Medizinischen Abteilung
Allgemeines Krankenhaus Altona
Paui-Ehrlich-Straße 1 2000 Harnburg 50