Zur Fortbildung Aktuelle Medizin AUSSPRACHE
Wenn man etwas Falsches — sei es auch noch so nachdrücklich und gar aus dem Munde eines Professors — behauptet, so stimmt's — trotz diver- ser Wiederholungen — dennoch nicht. Eine Rentenneurose (korrekt:
ein Rentenbegehren) zum Beispiel wird durch die Bewilligung der Ren- te geheilt. Oh Wunder! Tatsächlich eine echte Krankheit und eine echte Therapie!
Dr. med. Karl-Heinz Maschke Richard-Bertram-Straße 12 5040 Brühl-Köln
11.
Der grundsätzliche Einwand ist eine Wiederholung dessen, was bereits Kurt Schneider gegen die Tendenz vorbrachte, das unübersehbare Ge- biet der Variationen menschlichen Wesens, Werdens und Verfehlens nach dem medizinisch-naturwissen- schaftlichen Modell von Krankheiten aufzugliedern und dabei den einzel- nen Menschen mit diagnoseähnli- chen Bezeichnungen zu etikettieren.
Insofern ist es unangemessen, den augenblicklichen Standort der Psychiatrie pauschal als „nach der Zeit der traditionellen Psychopatho- logie" zu bestimmen. Da ist auch das prinzipielle, durch Freuds neu- ropathologische Vorerfahrungen hi- storisch verstehbare Mißverständnis zu nennen, die Ätiopathogenese der
„Neurosen" mit bestimmten Formen der Konfliktverarbeitung und Ver- drängung in frühkindlichen Phasen der psychologischen Entwicklung umfassend und monokausal zu er- klären. Es kann nur wundern, wenn Tölle behauptet, die „umwälzendein (?) Veränderungen der gesamten Psychiatrie in den letzten Jahrzehn- ten" hätten die Basis der Neurosen-
lehre verbreitert, „ohne daß von den psychoanalytischen Erkenntnissen Abstriche zu machen waren".
Was die behaupteten „fließenden Übergänge von Neurosen zu Ge- sundheitsstörungen" angeht, „die zweifelsfrei alä Krankheiten angese- hen werden, nämlich Psychosen und psychosomatische Krankhei- ten", so hat K. Ernst, gewiß auch in den Augen des Autors ein unver- dächtiger Gewährsmann, gestützt auf Ergebnisse der Weltliteratur, re- sümiert (1980), daß zum Beispiel die Schizophreniemorbidität der Neuro- sen gegenüber der Gesamtbevölke- rung nicht erhöht ist.
Daß die Krankenkassen vor eine ein- gehende Psychotherapie Gutachter- verfahren gesetzt haben, ist sicher nicht nur Ausdruck einer nachvoll- ziehbaren Skepsis gegenüber der Qualität bestimmter psychothera- peutischer Verfahren und der ihrer Anwender, sondern auch des Zwei- fels an der Richtigkeit der inflationä- ren Ausweitung des Begriffes „Be- handlungsbedürftigkeit" bei jedwe- der menschlichen Leidensmöglich- keit, wenn der Betroffene nur genü- gend „introspektionsfähig" ist.
Richtig ist deshalb auch, wenn nur
„in relativ seltenen Fällen" Neuro- sen rentenrechtliche Relevanz haben.
Tölle ist zuzustimmen, wenn er
„Neurosen als biographische Ent- wicklung" versteht. Zu betonen, daß diese auch „in sozialen Bezügen stehe", ist in der offensichtlich ver- muteten Alternative überflüssig, wel- che Biographie täte dies nicht. Tölle weiß offenbar selbst um die Wider- sprüchlichkeit seiner These: „Eine Neurose ist ... nicht in dem glei- chen Sinne Krankheit wie Krankhei- ten sonst. Die Patienten selbst emp-
finden das und versuchen auszu- drücken, daß es sich ... um eine eigene und persönliche Angelegen- heit handelt, die mit früheren Erfah- rungen und derzeitigen Umständen zu tun hat." Stimmt schließlich die elitäre Behauptung, in der Psycho- therapie (welcher?) sei der Arzt weit mehr persönlich beansprucht als bei anderen Behandlungen? Ich frage mich dann, wie es sich zum Beispiel mit der persönlichen Beanspru- chung des Arztes bei der Behand- lung chronischer oder unheilbarer, todgeweihter Kranker verhält?
Noch einmal K. Ernst (1980): „Ein nosologischer Begriff, der anstelle klarer ätiologischer oder wenigstens psychopathologischer Merkmale ein buntes Inventar bietet, . . . , kann in theoretischer Hinsicht niemanden befriedigen." Dem ist auch hinsicht- lich der Praxis nichts hinzuzufügen.
Professor Dr. med. R. Schüttler Psychiatrische Universitäts-Klinik Sigmund-Freud-Straße 25 5300 Bonn-Venusberg
Schlußwort
Die These „Neurosen sind Krankhei- ten" fand nicht nur Zustimmung, sondern stieß auch auf Einwände, wie nicht anders zu erwarten war.
Die Einwände von Herrn Schüttler sind wissenschaftsgeschichtlich zu verstehen: In der Neurosenlehre gab es lange Zeit einerseits die biogra- phisch und konfliktdynamisch orien- tierte Richtung, auf der anderen Sei- te aber wurden Neurosen — klinisch gesehen —zu wenig beachtet: Selbst der Terminus „Neurose" wurde, nachdem er bereits jahrzehntelang international üblich war, von einigen deutschen Psychiatern gemieden (so ist der Schlußsatz der Stellung- nahme von Herrn Schüttler zu ver- stehen). So aber war kein Fortschritt zu erzielen.
Die Zuschriften zeigen deutlich das Problem: Bei Neurosen handelt es sich einerseits um Krankheiten, an- dererseits zugleich um Reaktionen und Entwicklungen. Wie auch in an-
Neurosen sind Krankheiten
Zum Beitrag von Dr. med. Rainer Tölle in Heft 4/1982, Ausgabe A/B, Seite 59 ff.
Ausgabe B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 29 vom 23. Juli 1982 49
Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin AUSSPRACHEderen Bereichen der Medizin ist so- wohl die objektivierende als auch die auf das Subjekt ausgerichtete Betrachtungsweise sinnvoll, mit an- deren Worten: der ontische und der pathische Ansatz. Beide Perspekti- ven einzunehmen ist nötig und auch möglich. Dagegen ist eine eindimen- sionale Betrachtungsweise zwar ein- facher, aber unergiebig. ln der Tat gibt es gute Gründe, an den psycho- analytischen "Erkenntnissen" fest- zuhalten, auch wenn an der psycho- analytischen Theorie Abstriche not- wendig wurden. Daß der Arzt in der Psychotherapie weit mehr persön- lich beansprucht werde, gilt in ei- nem bestimmten Sinn. Keineswegs sollten hiermit Engagement und Mit- gefühl des Arztes bei der Behand- lung von unheilbar Kranken in Frage_ gestellt werden. Was in der Psycho- therapie anders ist: Der Arzt wird mehr mit seiner eigenen Person in das therapeutische Geschehen ein- bezogen. Natürlich kann mar.1 nicht eine sogenannte Rentenneurose durch die Bewilligung einer Rente heilen, wie Herr Maschke schreibt.
Aber das ändert nichts daran, daß bei schwersten Neurosen eine Be- rentung gerechtfertigt sein kann.
Professor Dr. med. Rainer Tölle Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der
Westfälischen Wilhelmsuniversität Albert-Schweitzer-Straße 11 4400 Münster (Westfalen)
Polycythaemia vera - Erhöhtes Leukämierisiko durch Chlorambucil
Zu einem Referat
in Heft 49/1981, Seite 2340
Über das erhöhte Leukämierisiko durch Chlorambucii-Behandlung der Polycythaemia vera bestehen kontroverse Meinungen. Wir veröf-
fantliehen daher gerne eine Einsen- dung der Medizinisch-wissenschaft- lichen Abteilung der Deutschen Welleoma GmbH des folgenden In- halts:
"ln Ergänzung Ihres Literaturrefera-
tes über die Studie der Polycythae- mia vera study group (PVSG) -Ver- gleich der drei Therapiemöglichkei- ten Aderlaß, radioaktiver Phosphor
+
Aderlaß und Chlorambucil+
Aderlaß-scheint uns zur angemes- senen Beurteilung des Sachverhal- tes die Berüc~sichtigung folgender Tatsachen unerläßlich:
O
Die Überlebensraten dieser Be- handlungsgruppen unterschieden sich nicht signifikant voneinander, so daß das Sterberisiko durch die Chlorambucii-Therapie nicht erhöht wurde.8
Nur bei den Patienten, die über- höhte mittlere Chlorambucii-Tages- dosen von mehr als 4 mg erhielten, war das Leukämierisiko höher als nach der Gabe von 32P.8
Die lnzidenz akuter Leukämien ist bei Patienten mit Polycythaemia vera höher als bei hämatologisch gesunden Personen (sie geht termi- nal häufig in eine akute myeloische Leukämie über).0
Zur Behandlung der Polycythae- mia vera ist Busulfan (Myleran®) das Mittel der Wahl.Die EORTC-Studie über den Ver- gleich von Busulfan und 32P er- brachte bisher keine erhöhte Leuk- ämie-lnzidenz, aber signifikant län- gere Endremissionen und Überle- benszeiten durch die Busulfan-The- rapie."
Literatur
Berk, D. P.; Goldberg, 0.; Silverstein, N., et al.: lncreased Jncidence of Acute Leukemia in Polycythemia vera Associated with Chloram- bucil Therapy, The New Eng I. J. Med. Vol. 304
(1981) 441-447- Haanen, C., et al.: Treatment
of Polycy1hemia vera by Radiophosphoris or Busulphan: A Randomised Trial, "Leukemia and Hematosarcoma" Cooperative Group European Organisation for Research on Treat- ment of Cancer (EORTC), Br. J. Cancer 44 (1981) 75--80-Caspary, W. F.; Heimpel, H., und Heyden, H. W. von: Erhöhtes Leukämierisiko bei Chlorambuciltherapie der Polycythaemia vera, Innere Med. 8 (1981) 209--212- Huhn, D.;
Buchner, U.: Polycy1hämie, Chlorambucil in- zwischen obsolet- aber das wichtigste Medi- kament im Kampf gegen die Leukämie, Med.
Trib. 46 (1981) Nr. 22
Deutsche Welleoma GmbH Medizinisch-wissenschaftliche Abteilung
Postfach 109 3006 Burgwedel 1
Ambulante Tonsillektomie- Gefahr für die
Sicherheit des Patienten
Zu der in verschiedenen Publikatio- nen in jüngerer Zeit angeschnitte- nen Frage der ambulanten Tonsill- ektomie, besonders zum Film des 111.
Programms des WDR vom 22. April 1982, haben uns die Fachgesell- schaften
~ Berufsverband Deutscher HNO- Ärzte
Dr. med. H. W. Baake
Korturnstraße 148 a, Bochum,
~ Arbeitsgemeinschaft der HNO- Chefärzte (Chefärzteverband) Professor Dr. med. S. Hellmich HNO-Kiinik des St. Johannes-Kran- kenhauses, Dortmund,
~ Vorstand der Deutschen Gesell- schaft für Hals-Nasen-Ohren-Heil- kunde, Kopf- und Halschirurgie Professor Dr. med. K. H. Vosteen HNO-Kiinik, Düsseldorf,
die nachfolgende Stellungnahme mit der Bitte um Veröffentlichung zugeleitet:
Bei der Entfernung der Gaumen- mandeln (Tonsillektomie) muß auch heute noch mit Komplikationen durch Operation oder Narkose ge- rechnet werden. Solche Komplika- tionen sind nicht immer vermeidbar.
Deshalb soll der Eingriff in jedem Einzelfall sorgfältig überlegt und nur innerhalb eines mehrtägigen Kran- kenhausaufenthaltes vorgenommen werden. Eine ambulante Durchfüh- rung der Operation ist unvorsichtig und gefährdet die Sicherheit des Pa-
tienten. Boe
50 Heft 29 vom 23. Juli l~t!2 79. Jahrgang