Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
ÜBERSICHTSAUFSATZ
Die These „Neurosen sind Krankhei- ten" wird manchen Ärzten selbstver- ständlich und unbestreitbar erschei- nen, andere werden sie ablehnen und Gegenargumente vorbringen.
Die verschiedenen Meinungen hier- zu sind nicht allein auf Unterschiede im theoretischen Verständnis des Krankheitsbegriffes der Medizin zu- rückzuführen. Sie werden eher ver- ständlich, wenn man die Entwick- lung der Neurosenlehre in ihrer zeit- lichen Beziehung zur Entwicklung der Medizin insgesamt bedenkt.
Die wissenschaftliche Neurosefor- schung begann um die Jahrhundert- wende, also in einer Zeit großer Er- folge der organpathologisch orien- tierten Medizin, in der auch die Psychiatrie große Erwartungen in die Hirnpathologie setzte. So war Sigmund Freud zunächst als Neuro- pathologe erfolgreich tätig. Was er aber bei seinen Untersuchungen zur Ätiologie der Neurosen fand, wies in eine andere Richtung: Er entdeckte die pathogenetische Rolle der Kon- flikte und der Konfliktverarbeitung, der Verdrängung und anderer Ab- wehrmaßnahmen, die Bedeutung des unbewußten Seelenlebens und der Phasen der psychologischen Entwicklung, und er fand von hier aus die psychoanalytische Therapie- methode.
Diese Konzeption war mit dem medi- zinischen Krankheitsmodell zu-
nächst so schwer in Übereinstim- mung zu bringen, daß sich die Neu- rosenlehre größtenteils außerhalb der Medizin und auch außerhalb der Psychiatrie entwickelte und lange Zeit angefeindet und abgelehnt wur- de. Rückblickend erscheint dieser Prozeß, der nachteilig für die Neuro- senlehre und für die Medizin insge- samt verlief, beinahe unvermeidlich.
Eine Definition der Neurosen, die von der psychoanalytischen Lehre ausgeht, entnehmen wir dem auch heute noch lesenswerten Buch von Schottländer „Die Welt der Neuro- se" (9)*): „Neurose erscheint unter biographischem Blickpunkt als ein seelisches Geschehen, dessen Wur- zeln in der lebensgeschichtlichen Auseinandersetzung eines einzel- nen Menschen mit seinem Schicksal zu suchen sind... "
Das Wort Krankheit kommt in dieser und in anderen früheren Definitio- nen nicht vor. Auch eine andere Richtung der Psychiatrie hat lange Zeit Neurosen nicht als Krankheiten ansehen wollen; einige deutsche Psychopathologen unterschieden zwischen Neurosen als seelischen Abweichungen und Psychosen als Krankheiten (Jaspers) und bezeich- neten Neurosen als abnorme Spiel- arten seelischen Seins (Schneider).
Sie versuchten, den Begriff Neurose, obwohl dieser längst international gebräuchlich war, in der wissen-
Auch vom klassischen medi- zinischen Krankheitsbegriff ausgehend, sind Neurosen als Krankheiten zu bezeichnen.
Hierfür sprechen neuere Unter- suchungen zur Symptomatik und Ätiologie sowie epidemio- logische und Verlaufsstudien, Neben dieser klinischen wer- den andere Perspektiven des Neurosenproblems erörtert Aus einer umfassenden Krank- heitslehre ergeben sich Kon- sequenzen für die Behand- lung und für die Einstellung zum neurotischen Patienten.
schaftlichen Diskussion wie in der praktischen Diagnostik zu vermei- den. Dieser Versuch führte in eine Sackgasse.
Die psychoanalytische Neurosenleh- re hat jedoch bei aller Akzentu- ierung des Biographischen den Weg zu einer umfassenderen Neurose- konzeption offengehalten. Freud war überzeugt, daß es biochemische Prozesse geben müsse, die den Neu- rosen zugrunde liegen. Das wurde zwar in dieser Form bisher nicht be- stätigt. Freuds Auffassung weist aber in die Richtung eines erweiter- ten Verständnisses der Neurosen als Krankheiten. Auch die zitierte Defini- tion von Schottländer läßt weitere Aspekte zu; der Autor fährt fort: „Es wird keineswegs bestritten, daß es andere Blickpunkte gibt, von denen aus unser Problem aufgefaßt wer- den kann."
In der Zwischenzeit wurde die Basis der Neurosenlehre verbreitert, ohne daß von den psychoanalytischen Er- kenntnissen Abstriche zu machen waren, Das kommt in den neueren Definitionen zum Ausdruck, zum Beispiel bei Bräutigam (1): „Als Neu- rosen bezeichnet man eine Gruppe von seelisch bedingten Krankheiten chronischen Verlaufs, die sich in be- stimmten Symptomen — Angst, Zwang, traurige Verstimmung, hy-
*) Die in Klammern stehenden Zahlen bezie- hen sich auf das Literaturverzeichnis.
Neurosen sind Krankheiten
Rainer Tölle
Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik Abteilung: Klinik für Psychiatrie
(Direktor: Professor Dr. med. Rainer Tölle) der Universität Münster
Ausgabe A/B DEUTSCHES ARZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 4 vom 29. Januar 1982 59
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sterische Zeichen — oder in be- stimmten Eigenschaften — Hem- mung, Selbstunsicherheit, emotio- nale Labilität, innere Konflikthaftig- keit — äußern." Hier und in anderen Definitionen ist von „Krankheit" die Rede, und auch im übrigen entspre- chen die Art des Formulierens und Inhalte der Definitionen weitgehend der Denkweise der Allgemeinmedi- zin. Auf Einzelheiten wird noch ein- zugehen sein.
Das gewandelte Neurosenverständ- nis ist auf die umwälzenden Verän- derungen der gesamten Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten zurück- zuführen.
Mehr als früher arbeitet die Psychia- trie heute experimentell und stati- stisch sowohl in biologischen als auch psychologischen Bereichen.
Genetische, epidemiologische und Verlaufs-Untersuchungen haben in den verschiedenen Gebieten der Psychiatrie, insbesondere auch in der Neurosenforschung zu neuen Erkenntnissen und breiter angeleg- ten Konzeptionen geführt.
Die ursprünglich fast ausschließlich konfliktdynamisch und biogra- phisch angelegte Neurosenlehre wurde zu einer umfassenderen Krankheitslehre ausgeweitet, so daß wir heute von einer Klinik der Neuro- sen im Sinne einer Krankheitslehre der Medizin sprechen können.
Damit ist der Aspekt „Neurosen sind Krankheiten" in den Vordergrund getreten. Er richtet sich nicht gegen die psychoanalytische Neurosekon- zeption, sondern erweitert diese.
„Die seelischen Krankheiten des Menschen" hat Kuiper sein bekann- tes Buch über die psychoanalytische Neurosenlehre betitelt.
Neurosen sind zwar nicht die einzi- gen, aber doch die häufigsten seeli- schen Krankheiten. Die Prävalenz der behandlungsbedürftigen Neuro- sen liegt bei 12 Prozent (3).
Für den Krankheitscharakter der Neurosen kann eine Reihe von Argu- menten angeführt werden.
1. Das klinische Bild
Neurosen zeigen wie andere Krank- heiten eine klinische Symptomatik, nämlich psychische oder körperli- che Gesundheitsstörungen. Erstere wurden in der Definition von Bräuti- gam genannt, letztere sind funktio- nelle Organstörungen, zum Beispiel des Herzens oder Magens, auch neurotisch bedingte Lähmungen und Anfälle. Andere Neurosen, soge- nannte Charakterneurosen, gehen nicht mit solchen umschriebenen klinischen Symptomen einher, wohl aber mit gleichwertigen Störungen des Erlebens und Verhaltens.
Wie bei anderen Krankheiten sind die Schweregrade unterschiedlich, das Spektrum ist bei Neurosen be- sonders breit. Es reicht von den schwersten Formen, deren Leidens- zustand denen der Psychosen gleichzusetzen ist, bis zu sehr leich- ten Neurosen, die sich schwer von Gesundheit abgrenzen lassen. Letz- teres aber gilt mehr oder weniger auch für andere psychische und so- matische Krankheiten. Der Krank- heitscharakter der Neurosen ist wei- terhin daran zu erkennen, daß es fließende Übergänge von Neurosen zu Gesundheitsstörungen gibt, die zweifelsfrei als Krankheiten angese- hen werden, nämlich Psychosen und psychosomatische Krankheiten.
2. Verläufe
Langzeituntersuchungen (zum Bei- spiel von Ernst (3a)) haben gezeigt, daß bei Neurosen die gleichen Ver- laufsformen vorkommen, wie sie auch sonst in der Medizin bekannt sind: Heilungen und Teilremissio- nen, rezidivierende, wellenförmige und chronische Verläufe sowie blei- bende Krankheitsreste (Residuen).
Frühinvalidität infolge Neurose ist nicht selten.
3. Ätiologie
Auch nach heutiger Auffassung kommt dem psychodynamischen Faktor in der Neurosenentstehung größte Bedeutung zu. Daneben wur- den andere Verursachungsfaktoren erkannt.
Ein hereditärer Faktor, der theore- tisch immer vermutet, aber wenig
beachtet und nicht empirisch unter- sucht wurde, ist heute unbestritten.
Insbesondere durch die Zwillingsun- tersuchungen von Schepank (8) ist ein genetischer Faktor bewiesen worden, dem offensichtlich aber bei Neurosen nicht eine gleich große Bedeutung zukommt wie bei Psy- chosen. Die Untersuchungen zeigen auch, daß die Entstehung von Neu- rosen keinesfalls allein genetisch er- klärt werden kann.
Ebenfalls in jüngerer Zeit wurde die Bedeutung hirnorganischer Fakto- ren für die Neurosenentstehung er- kannt. Zumeist handelt es sich um früherworbene, perinatale Hirnschä- den im Sinne der minimalen zere- bralen Dysfunktion. Diese Hirnno- xen bedingen nicht ein ausgepräg- tes hirnorganisches Krankheitsbild wie geistige Behinderung, organi- sche Psychose oder Anfallsleiden, wohl aber bedeuten diese leichten Hirnschäden ein Handikap für die normale seelische Entwicklung, sie prädisponieren zu seelischen Fehl- entwicklungen, also auch zu Neuro- sen (6). Diese Erfahrungen wurden zunächst in der Kinderpsychiatrie gewonnen, später auch für erwach- sene psychisch Kranke bestätigt.
Verläßliche Zahlen über die Häufig- keit eines hirnorganischen Teilfak- tors bei Neurosen lassen sich heute noch nicht nennen, zumal diese Hirnschäden psychopathologisch schwer erkennbar und mit den Maß- nahmen der modernen Hirndiagno- stik nicht immer verifizierbar sind.
Die detaillierte Anamnese deckt aber oft Verzögerungen in der motori- schen, sprachlichen und intellektu- ellen Entwicklung des Kindes auf, insbesondere Teilleistungsschwä- chen (kognitive oder motorische Werkzeugstörungen), zudem Teilre- tardierungen im emotionalen Be- reich, die bis in das frühe Erwach- senenalter oder länger bestehen- bleiben können. Zumal wenn diese Beeinträchtigungen nicht erkannt und berücksichtigt werden, kommt es zu Überbeanspruchungen und Konflikten in Ausbildung, zwischen- menschlichen Beziehungen und an- deren Lebensbereichen und damit zu einem erhöhten Risiko neuroti- scher Entwicklungen.
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Mit diesem Bedingungsgefüge un- terscheiden sich Neurosen vom mehrdimensionalen Ätiologiekon- zept anderer psychischer (und auch körperlicher) Krankheiten nicht grundsätzlich, sondern nur in der Akzentuierung.
4. Diagnose
Wie in anderen Krankheitsbereichen gibt es auch für Neurosen eine Dia- gnosenklassifikation. Am bekannte- sten sind die Internationale Klassifi- kation (ICD, 9. Revision, 1978) der WHO und das Diagnostic and Statis- tical Manual (DSM III, 1979). Beide Systeme versuchen, sowohl den symptomatologisch abgrenzbaren Neurosetypen als auch der Multi- konditionalität der Ätiologie gerecht zu werden.
5. Therapie
Die Behandlung von Neurosen er- folgt heute nicht mehr ausschließ- lich mit den von der Psychoanalyse abgeleiteten psychodynamischen Therapieverfahren, sondern auch mit anderen Therapien, die mehr symptomgerichtet sind (zum Bei- spiel Verhaltenstherapien), also auf das abzielen, was den Patienten zum Arzt geführt hat. In bestimmten, al- lerdings nicht sehr häufigen Situa- tionen sind auch Psychopharmaka indiziert. Mit diesen verschiedenen Methoden, die auch kombiniert wer- den können, ist die Behandlung der Neurosen eine mehrdimensionale Therapie geworden, entsprechend der multikonditionalen Ätiologie.
6. Rechtliche Aspekte
Krankenversicherungsrechtlich gel- ten Neurosen uneingeschränkt als Krankheiten. Zu der Forderung, daß eine eingehende Psychotherapie ei- nes Neurosekranken vorher bean- tragt und einem Gutachterverfahren unterzogen werden muß, sehen sich die Krankenkassen wegen der schwer überschaubaren Qualifika- tion ärztlicher und nichtärztlicher Psychotherapeuten veranlaßt, nicht etwa wegen irgendwelcher Zweifel am Krankheitscharakter der Neu- rosen.
Rentenrechtlich kann nach der höchstrichterlichen Rechtspre- chung auch bei Neurosen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit anerkannt werden, wenn auch in relativ seltenen Fällen. Voraussetzung hierfür sind I> eine schwere, die Leistungsfä- higkeit erheblich beeinträchtigende neurotische Symptomatik,
• der Ausschluß lediglich tenden- ziöser Verhaltensweisen,
> der Nachweis, daß der Kranke die neurotische Fehlhaltung nicht aus eigener Kraft überwinden kann, und
> der Nachweis, daß die therapeu- tischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Die Beurteilung kann schwierig sein; das Kriterium mit oder ohne
„Krankheitswert" führt nicht weit.
Die ärztliche und juristische Proble- matik dieser Begutachtungen wurde in einer grundlegenden Arbeit von P.
Krauß (4) dargestellt.
Strafrechtlich galt bis vor einiger Zeit verminderte Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit) bei Neurose als Ausnahme und Schuldunfähig- keit als extrem selten gegeben. Ent- sprechend den neueren Erkenntnis- sen hat das zweite Gesetz zur Re- form des Strafrechtes (gültig ab 1975) zusätzlich „schwere andere seelische Abartigkeit" in die straf- mildernde Bestimmung aufgenom- men. Mit dieser denkbar unglückli- chen Formulierung sind inhaltlich unter anderem Neurosen gemeint.
Diskussion
Einwände gegen die Auffassung, Neurosen sind Krankheiten, sind auch nach der Zeit der zitierten tra- ditionellen Psychopathologie nicht verstummt. So hat zum Beispiel Ey- senck aus experimental-psychologi- scher Sicht die Existenz von Neuro- sen überhaupt bestritten und nur neurotische Symptome gelten las- sen wollen, die mit psychologischen Verfahren zu beseitigen seien. So- zialpsychologisch denkende soge- nannte Antipsychiater sahen in Neu- rosen „abweichendes Verhalten", im Sinn von abweichend von einer verkehrten und im soziologischen
Sinne kranken Gesellschaft, welche die Abweichler als krank hinstellen möchte, während sie tatsächlich die Normalen seien. Dieser Gedanke ist als ein Rückfall in das wertende und abwertende Verständnis von psychi- schen Störungen anzusehen, nun mit umgekehrter Zielrichtung. So befremdlich diese Auffassung auch klingt, die klinische Medizin kann hieraus doch etwas lernen: Neuro- sen sind als biographische Entwick- lung zu verstehen und als Krankhei- ten anzusehen, sie stehen aber auch
in sozialen Bezügen; wie Neurosen verstanden und unter Umständen gewertet werden, hängt auch vom Zeitgeist ab; einen Menschen, der in seinem Verhalten vom Üblichen ab- weicht, mit einer medizinischen Dia- gnose zu versehen, kann allzuleicht eine abwertende Etikettierung be- deuten. Ein Schlagwort wie „der Neurotiker" sollte vermieden wer- den. Auch die genannte verhaltens- psychologische These, so einseitig und unvollständig sie sein mag, kann eines lehren: Anstatt die Thera- pie allein auf die Aufhellung der zu- grundeliegenden psychodynami- schen Konflikte auszurichten, kann es indiziert und für den Patienten sehr nützlich sein, ohne Rückgriff auf die komplizierte Psychodynamik die Symptome selbst zu behandeln.
Noch einmal soll die Perspektive ge- wechselt werden. Eine Neurose ist, auch wenn sie mit eindeutigen und erheblichen Gesundheitsstörungen einhergeht, nicht in dem gleichen Sinne Krankheit wie Krankheiten sonst. Die Patienten selbst empfin- den das und versuchen auszudrük- ken, daß es sich zugleich um eine eigene und persönliche Angelegen- heit handelt, die mit früheren Erfah- rungen und derzeitigen Umständen zu tun hat, anders als vergleichswei- se eine Lungenentzündung oder ein Knochenbruch.
Auch für den behandelnden Arzt sind Neurosen insofern besondere Krankheiten, als er in der Psychothe- rapie weit mehr persönlich bean- sprucht wird als bei anderen Be- handlungen. Der gesunde Laie schließlich weiß, sofern er nach- denklich und introspektionsfähig ist, Ausgabe A/B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 4 vom 29. Januar 1982 63
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daß er dem, was man in ausgepräg- ten Fällen Neurose nennt, nicht ganz fernsteht, sondern in Krisensituatio- nen seines Lebens konflikthaft und ambivalent reagiert hat, möglicher- weise verbunden mit vegetativen und psychischen Störungen leichte- rer Art. Hier ist an die eingangs zi- tierte Neurosedefinition von Schott- länder zu erinnern.
Wer soll Neurosepatienten behan- deln? Diese Frage ist mit dem stei- genden therapeutischen Interesse von Psychologen aktuell geworden.
Die Antwort muß lauten: Wer medizi- nisch und neurosen-psychologisch gut ausgebildet ist, eine oder besser mehrere Methoden der Psychothe- rapie beherrscht und über genügen- de klinisch-psychiatrische Erfah- rung verfügt. Wie jede Therapie hat auch die Neurosenbehandlung nur auf dem Boden einer umfassenden Krankheitslehre Bestand.
Literatur
(1) Bräutigam, W.: Neurosen, in: Müller, C.
(Hrsg.): Lexikon der Psychiatrie, Berlin/Heidel- berg/New York, Springer (1973) — (2) Bräuti- gam, W.: Reaktionen — Neurosen — abnorme Persönlichkeiten, Seelische Krankheiten im Grundriß, 4. Aufl. Stuttgart, Thieme (1978) — (3) Dilling, H.: Prävalenzergebnisse aus einer Feldstudie in einem ländlich-kleinstädtischen Gebiet, in: Mester u. Tölle (s. unten) (3a) Ernst, K.; Kind, H.; Rotach-Fuchs, M.: Ergebnisse der Verlaufsforschung bei Neurosen, Berlin/Hei- delberg/New York, Springer (1968)— (4) Krauß, P.: Zur Begutachtung von Neurotikern auf Be- rufs- und Erwerbsunfähigkeit, Fortschr. Neu- rol. Psychiat. 30 (1962) 135-154 — (5) Kuiper, P.
C.: Die seelischen Krankheiten des Menschen, Psychoanalytische Neurosenlehre, 4. Aufl.
Stuttgart, Klett (1976) — (6) Lempp, R.: Früh- kindliche Hirnschädigung und Neurose, 3.
Aufl. Bern/Stuttgart, Huber (1978) — (7) Mester, H.; Tölle, R.: Neurosen, Berlin/Heidelberg/New York, Springer (1981) — (8) Schepank, H.: Erb- und Umweltfaktoren bei Neurosen, Berlin/Hei- delberg/New York, Springer (1974) — (9) Schottländer, F.: Die Welt der Neurose, Eine Einführung in die Problematik der Psychothe- rapie, Stuttgart, Hippokrates (1950) — (10) Strotzka, H.: Neurose, Charakter, soziale Um- welt, München, Kindler (1973)
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med. Rainer Tölle*) Direktor der
Abteilung Klinik für Psychiatrie der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Münster
Roxeler Straße 11
4400 Münster (Westfalen)
*) Herrn Professor Dr. Paul Krauß, Göppingen, zum 80. Geburtstag gewidmet
Cholezystektomie
senkt Karzinomprävalenz
Das Gallenblasenkarzinom führt in der Regel innerhalb von 6 Monaten zum Tode; eine kurative Chirurgie ist nur in Ausnahmefällen möglich, die Chemotherapie versagt. Im ver- gangenen Jahrzehnt ist die Mortali- tät infolge eines Gallenblasenkreb- ses in England, Wales, Schottland und den USA sowie Kanada deutlich gesunken, während sie in Schweden um 33 Prozent gestiegen ist. Dieser Entwicklung konträr verläuft die Ra- te an Cholezystektomie, die in Schweden deutlich rückläufige Ten- denzen erkennen läßt. Die Autoren kommen aufgrund ihrer umfangrei- chen epidemiologischen Daten zu dem Schluß, daß durch 100 Chole- zystektomien ein Gallenblasenkarzi- nom verhindert werden kann. Nach- dem sich Gallenblasenkarzinome fast ausschließlich bei Steinträgern entwickeln, sollte auch bei asympto- matischen Patienten mit einer Cho- lezystolithiasis das Risiko eines ope- rativen Eingriffs gegen die Möglich- keit einer Karzinomprävention abge- wogen werden.
Diehl, A. K.; Bearl, V.: Cholecystectomy and changing mortality from gallbladder cancer, Lancet II (1981) 187-189, Department of Com- munity Medicine, Middlesex Hospital Medical School London W 1
Wann
Notfallendoskopie?
An den meisten gastroenterologi- schen Zentren ist in den letzten Jah- ren ein 24-Stunden-Notfallendosko- pie-Service eingerichtet worden, ob- wohl bislang nicht gesichert werden konnte, daß die frühzeitige endosko- pische Lokalisation einer Blutungs- quelle die Prognose des Patienten verbessert. In einer kontrollierten randomisierten Studie an 206 Pa- tienten mit einer Blutungsanamnese wurde die Notwendigkeit einer früh- zeitigen endoskopischen Untersu- chung in Frage gestellt, wenn die Blutung einmal spontan zum Still- stand gekommen war. In der Patien- tengruppe, in der auf eine Endosko-
pie verzichtet worden war, lag die Anzahl der Rezidivblutungen, der blutungsbedingten Todesfälle, der verabreichten Blutkonserven sowie die Verweildauer nicht höher als bei den Patienten, bei denen eine Notfallendoskopie durchgeführt worden war. Aus Kostengründen sollte deshalb zumindest bei den Pa- tienten, bei denen sich keine aktive
Blutung mehr nachweisen läßt (Ma- gensonde), auf eine notfallendosko- pische Untersuchung außerhalb der Dienstzeit verzichtet werden.
Peterson, W. L.; Barnett, C. C.; Smith, H. J.;
Allen, M. H.; Corbett, D. B.: Routine early en- doscopy in upper gastrointestinal tract bleed- ing. A randomized, controlled trial, N. Engl. J.
Med. 304 (1981) 925-929 — Departments of I nternal Medicine and Radiology, Veterans Ad- ministration Medical Centerand Southwestern Medical School, Dallas, TX 75216
Orales Flecainid bei ventrikulärer Arrhythmie
Bei 10 Patienten mit persistierenden ventrikulären Rhythmusstörungen (über 600 ventrikuläre Extrasystolen/
12 Stunden und ventrikuläre Cou- plets sowie ventrikuläre Tachy- kardien) wurde ein Therapieversuch mit Flecainid (zwischen 200 und 500 mg/24 Stunden oral) durchgeführt.
In 9 Fällen konnten die ventrikulären Extrasystolen völlig und in 1 Fall un- vollständig supprimiert werden. Die Zahl der ventrikulären Extrasystolen nahm von 11 817 auf 94 pro 12 Stun- den ab. Episoden von komplexen ventrikulären Rhythmusstörungen (Couplets und ventrikuläre Tachy- kardien) wurden nach Flecainid von 1920 auf 0,2 pro 12 Stunden redu- ziert. Die PQ-Zeit und die QRS-Dau- er waren unter Therapie mäßig ver- längert. Die Nebenwirkungen be- standen vor allem in Kopfschmerzen und gelegentlich auch in Sehstörun- gen. Flecainid ist ein hochwirksa- mes, gut tolerables Antiarrhythmi- kum gegen ventrikuläre Rhythmus- störungen. Sha
Anderson, J. L.; Stewart, J. R.; Perry, B. A.; van Hamersveld, D. D.; Johnson, T. A.; Conard, G.
J.; Chang, S. F.; Kvam, D. c.; Pitt, B.: Oral Flecainide acetate for the treatment of ven- tricular arrhythmias. New Engl. J. Med. 305 (1981) 473
FÜR SIE GELESEN
64 Heft 4 vom 29. Januar 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
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