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Archiv "Neurosen und Widerstand: Merkmale und Betreuung mehrfacherkrankter Arbeitnehmer in der DDR" (15.04.1983)

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Aufsätze • Notizen

Heft 15 vom 15. April 1983

Neurosen und Widerstand

Merkmale und Betreuung

mehrfacherkrankter Arbeitnehmer in der DDR

Karl-Heinz Wenzel

Es war im Sommer 1980 in der Arbeitshygiene-Inspektion beim Rat des Kreises Leipzig. Von der Sonder-Ärzteberatungskommis- sion (ÄBK) wurden mehrfacher- krankte Arbeitnehmer bei Kon- trolluntersuchungen ausführlich befragt. Ein Arzt begrüßte seinen Patienten: „Nun sagen Sie mir doch mal, warum Sie so oft krank sind?" Erregt antwortete der Pa- tient: „Das weiß ich doch nicht.

Das müssen Sie doch wissen. Sie sind doch der Arzt!" W. Gäbler und R. Härtwig befanden in der Zeitschrift für ärztliche Fortbil- dung, dieser Arzt sei „verständ- licherweise frustiert und in seiner Einstellung bekräftigt, daß ein gro- ßer Teil der mehrfacherkrankten Werktätigen eine negative Haltung habe".

Tatsächlich konzentrieren sich in der DDR die häufigsten Erkran- kungsfälle auf einen kleinen Teil der Arbeitnehmer. Bei einer Unter- suchung im Jahre 1977 bezogen sich 35 Prozent aller Arbeitsbefrei- ungsbescheinigungen (ABB) auf 6 Prozent der Arbeitnehmer, die jährlich mehr als dreimal krank waren. Solche Mehrfacherkran- kungen treten in der DDR seit Jah- ren kontinuierlich regelhaft bei den gleichen Arbeitnehmern auf.

Allerdings wurden nur bei einem Teil der mehrfacherkrankten Ar- beitnehmer in umfangreichen Ex- plorationen objektivierbare soma- tische Ursachen der bescheinig- ten Arbeitsunfähigkeit ermittelt; in den meisten Fällen traten Konflikt- situationen und mangelhafte Ar- Nach einem neuentwickel-

ten Drei-Schritt-Konzept werden mehrfacherkrankte Arbeitnehmer in der DDR, bei denen mangelhafte Ein- stellungen zu gesellschaftli- chen Normen im allgemei- nen und zur Arbeit im beson- deren vorliegen und es zu Mißerfolgen, zu Unzufrie- denheit, Widerstand und Ausweichverhalten kommt, in zwei Gruppen eingeteilt, die sich darin unterschei- den, ob „bei neurotischen Fehlhaltungen Symptome auftreten". Diese Patienten- gruppe wird den Fachpsy- chotherapeuten des Ge- sundheitswesens überwie- sen; die zweite Gruppe „mit mangelhaften Einstellungen zur Gesellschaft und zur Ar- beit" wird den „betriebli- chen Leitungen und gesell- schaftlichen Organisationen mit erzieherischen und ar- beitsgestalterischen Maß- nahmen" überantwortet. Un- tersuchungsergebnisse über den Anteil dieser beiden künftig nach dem Dispen- saire-Prinzip erfaßten Arbeit- nehmergruppen in der DDR liegen bisher nicht vor.

beitseinstellungen zutage. Zwar räumen neuere ärztliche Analysen des Verhältnisses von Arbeitsfä- higkeit und Persönlichkeitsent- wicklung ein, daß die Arbeitsfähig- keit (AF) nur ein Zugang zum Pro- blem der Ausprägung der Persön- lichkeit ist, weil 93,1 Prozent der Befragten über Arbeitsbefreiung und Krankenstand der Meinung sind, daß der Arzt über den medizi- nischen Betreuungsprozeß Le- bensweise und Persönlichkeits- entwicklung der Arbeitnehmer be- einflußt. Gleichzeitig wird jedoch auch die praktische ärztliche Tä- tigkeit, insbesondere die Beurtei- lung und Begutachtung, als Hebel zur Einflußnahme auf den Kran- kenstand beurteilt, in dem sich auch das Verhältnis der Arbeitneh- mer zur Arbeit, zur Arbeitsumwelt und zur übrigen sozialen Umwelt einschließlich ihrer individuellen und gesellschaftlichen Bezüge re- flektiert. Mithin zielt die ärztliche Therapie nicht nur auf die Über- windung der Arbeitsunfähigkeit (AU), sondern zugleich auch auf die Arzt/Patient-, Familien- und Freizeitbeziehu ngen.

Entzug des Krankengeldes Nach den Bestimmungen des Ge- setzbuches der Arbeit (GBA) und der Anordnung über die Arbeits- befreiung bei AU ist jeder Arbeit- nehmer der DDR verpflichtet, zur Erhaltung, Festigung und Wieder- herstellung seiner Gesundheit bei- zutragen. Alle in Einrichtungen des Gesundheitswesens tätigen oder in eigener Praxis niederge- Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 15 vom 15. April 1983 63

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Neurosen und Widerstand

lassenen Ärzte und Zahnärzte kön- nen für die Dauer von sieben Ta- gen Arbeitsbefreiung bei AU infol- ge Krankheit bescheinigen. In die- ser Zeit darf der arbeitsbefreite Ar- beitnehmer nur in der Zeit von 8 bis 18 Uhr mit Genehmigung des Arztes ausgehen.

Nach dem Arbeitsgesetzbuch hat der Arbeitnehmer der DDR bei ei- ner Erkrankung durch sein gesam- tes Verhalten die medizinische Be- handlung zu fördern und jeden Mißbrauch von Leistungen der So- zialversicherung zu unterlassen.

Der behandelnde Arzt muß bei je- der Konsultation neu prüfen, ob eine weitere Behandlungsbedürf- tigkeit mit oder bereits ohne Ar- beitsbefreiung vorliegt, ob die Übertragung einer Schonarbeit angezeigt ist oder andere, rehabi- litative Maßnahmen eingeleitet werden müssen.

Leiter, Ärzte und Gewerkschafts- leitungen der Betriebe analysieren gemeinsam mit den Räten der So- zialversicherung regelmäßig die Entwicklung des Krankenstandes in den Betrieben und sorgen da- für, daß die täglich eingehenden

Arbeitsbefreiungs-Bescheinigun- gen sorgfältig ausgewertet und unverzüglich wirksame Maßnah- men eingeleitet werden.

Zu den wirksamen Maßnahmen gehört der Entzug des Kranken- geldes — das in den ersten sechs Wochen 90 Prozent des letzten Durchschnittsverdienstes beträgt

— bei groben und wiederholten Verstößen gegen die Pflichten des Versicherten. Gegen diese Pflich- ten verstößt u. a., wer sich verspä- tet krank meldet, die ärztlichen Anordnungen nicht befolgt, die Ausgehzeiten nicht einhält, seinen Wohnort verläßt oder nicht zur Kontrolle bei der ÄBK erscheint.

Die Regularien bei Arbeitsbefrei- ung und Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit verpflichten den Arzt, den Krankheitsverlauf genau zu dokumentieren und eng mit dem Betriebsarzt zusammenzuarbei- ten.

Die leitenden Ärzte sind gehalten, die Dokumentation der ihnen un- terstellten Ärzte über die AU zu kontrollieren und zu Problemen der AU-Dauer, der schnellen Dia- gnostik und wissenschaftlich-be- gründeten Therapie sowie der rei- bungslosen Organisation der Ar- beit in ihrer eigenen Einrichtung und der Zusammenarbeit mit an- deren Gesundheitseinrichtungen Stellung zu nehmen.

Dabei spielen nach § 8 des Ar- beitsgesetzbuches Einladungen zu einer betriebsärztlichen Aus- sprache an häufig arbeitsbefreite oder solche Arbeitnehmer eine große Rolle, bei denen die Ursa- che ihrer Erkrankung betriebs- bzw. arbeitsbedingt sein kann bzw. wo eine unberechtigte Inan- spruchnahme einer Arbeitsbefrei- ung vermutet wird. Folgt ein Pa- tient nicht der Aufforderung zur Vorstellung bei der ÄBK, so darf der behandelnde Arzt die AU nicht verlängern. Wenn jedoch der Pa- tient nicht damit einverstanden ist, daß der behandelnde Arzt die AU für beendet erklärt, dann kann er eine Vorstellung vor der zuständi- gen ÄBK fordern; diese soll späte- stens am dritten Tag nach Beendi- gung der Arbeitsunfähigkeit er- folgen.

Persönlichkeitsmerkmale

Besondere Aufmerksamkeit rich- ten die in der AU-Problematik fe- derführenden Autoren auf die Persönlichkeitsmerkmale mehr- facherkrankter Arbeitnehmer. Sie eruierten nicht nur eine Häufung von Konfliktsituationen und man- gelhaften Arbeitseinstellungen, sie fanden auch eine höhere Aus- prägung von Nervosität, vegetati- ver Labilität, Depressivität, Erreg- barkeit, emotionaler Labilität so- wie verringerter Durchsetzungs- kraft und geringem Selbstver- trauen.

Die Kombination dieser Merkmale subsumierten sie zum „Persön- lichkeitssyndrom", das für neuro- sennahe und neurotische Fehlhal-

tungen bzw. für präneurotische und neurotische Erkrankungen charakteristisch sei. Im Zusam- menhang mit Maßnahmen zur Senkung des Krankenstandes ent- deckten diese Autoren die bis da- hin „offensichtlich noch zu wenig beobachtete Tatsache, daß sich in den zurückliegenden 20 Jahren die Morbiditätsstruktur deutlich in Richtung neurotischer Störungen verschoben hat". Die beobachte- ten Krankheitsbilder veränderten sich immer mehr im Sinne einer Somatisierung (vegetativ-funktio- nelle und psychosomatische Er- krankungen).

Überhöhte Erwartungen

und konträre Verhaltensweisen Im ambulanten Krankengut der all- gemeinärztlichen, internistischen, gynäkologischen, urologischen, neurologisch-psychiatrischen und HNO-Fachabteilungen ergaben differentialdiagnostische Abklä- rungen Anteile solcher Störungen zwischen 25 und 40 Prozent. Bei den mehrfacherkrankten Arbeit- nehmern ließen sich — im Unter- schied zu den Samples mit Erkäl- tungskrankheiten — doppelt so häufig Erkrankungen diagnosti- zieren, die „als charakteristische somatische Ausprägungsbereiche vegetativer Disregulationen be- kannt sind", statistisch aber nicht als neurotische Fehlentwicklun- gen oder Erkrankungen erfaßt wurden, weil sie in den üblichen Sprechstunden bislang kaum dia- gnostiziert werden konnten.

Daß mehrfacherkrankte Arbeit- nehmer mit Merkmalen dieses neurosennahen Persönlichkeits- syndroms zugleich zu der Gruppe der Arbeitsunzufriedenen gehör- ten, die vor allem über Schwierig- keiten im zwischenmenschlichen Bereich und im Verhältnis zum Leiter klagten, bestätigte mehrere Autoren in der Überzeugung:

„Menschen mit neurotischen Fehlhaltungen sind durch unreali- stische Ansprüche, durch Beein- trächtigung in der sozialen Kon- taktfähigkeit, in der Konfliktverar-

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beitung und im Leistungsbereich gekennzeichnet. Überhöhte Er- wartungen sind hier in der Regel verbunden mit ungeeigneten, in- adäquaten, ja konträren Verhal- tensweisen, die zu Konflikten und Spannungen mit der sozialen Um- welt und zu Mißerfolgen und Fru- strationen führen müssen. Die Fol- ge ist Unzufriedenheit, für die ur- sächlich die soziale Umwelt ver- antwortlich gemacht wird."

Danach bleibt es zunächst frag- lich, inwieweit Arbeitsunzufrie- denheit und Fehlhaltungen auf Ar- beitsanforderungen und Fehlbe- anspruchungen zurückzuführen sind oder ob diese Merkmale schon in einer früheren Lebens- phase erworben und dann erst in den Arbeitsprozeß eingebracht wurden.

Bemerkenswert ist die Feststel- lung von W. Gäbler und R. Härt- wig: „Bei aller Notwendigkeit der verstärkten Beachtung psychi- scher und vegetativ-funktioneller Symptome bei Mehrfacherkran- kungen ist der Anteil der Werktäti- gen mit mangelhaften Einstellun- gen zu gesellschaftlichen Normen im allgemeinen und zur Arbeit im besonderen nicht zu übersehen.

Auch in diesen Fällen liegt eine Fehlanpassung zugrunde. Unreali- stische, überhöhte, nicht mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen übereinstimmende Bedürfnisse in Verbindung mit un- zureichenden Aktivitäten und mangelhaften konstruktiven sozia- len Fähigkeiten führen auch hier zu Mißerfolgen, zu Unzufrieden- heit, Widerstand und Ausweich- verhalten. Dadurch gelingt auch hier die Anpassung immer schwe- rer, und es kommt leicht zu einer sich negativ bekräftigenden Wechselwirkung. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen bei- den Gruppen besteht darin, daß bei neurotischen Fehlhaltungen Symptome auftreten, unter denen die betreffenden Personen leiden.

Damit ist für diese Personengrup- pe das Gesundheitswesen zustän- dig, während für die Werktätigen mit mangelhaften Einstellungen

zur Gesellschaft und zur Arbeit (ohne psychische oder funktionel- le Symptome) die betrieblichen Leitungen und gesellschaftlichen Organisationen mit erzieherischen und arbeitsgestalterischen Maß- nahmen verantwortlich sind." (Z.

ärztl. Fortbild. 75 [1981] S. 81)

Einheit von Sprache und Anschauung gestört

Neurologen und Psychiater der DDR räumten auf Fachkongressen wiederholt ein, daß diese Fehlan- passungen eine Folge des ständi- gen Zwanges zu Lippenbekennt- nissen staatstreuen Inhalts seien.

Sie betonten jedoch, daß es sich dabei um eine Atmosphäre hande- le, in der auf den einzelnen kein direkter Zwang ausgeübt, viel- mehr die vom einzelnen erwartete Haltung bereits als Zwang zur Er- füllung dieser Erwartung empfun- den werde.

Dies werde besonders bei der mitt- leren Generation deutlich, die in den ersten Jahren nach Gründung der DDR geboren wurde und aus eigenem Erleben meist nur die DDR kennt. Sie habe unter den Verhältnissen der Sozialisierung und Sowjetisierung ein natürli- ches Reaktionsvermögen erwor- ben, manövriere geschickt mit den Phrasen der kommunistischen Ideologie, beherrsche sicher alle Register der Verstellung und ken- ne seit jeher für Schule und Eltern- haus, Freizeit und Betrieb unter- schiedliche, situations- und aus- drucksgebundene Verhaltenswei- sen. Sie wisse, daß sie in einer doppelt gespaltenen Welt lebe und daß es außer Ost- und West- deutschland innerhalb der DDR ei- ne scharfe Trennung zwischen wi- derstandsfähigen, vertrauenswür- digen, denkungewohnten und ideologisch gefärbten Menschen gebe. Sie verstehe sich ständig und ohne Anleitung am Beispiel der Gefahr zu schulen und habe ein feinnervliches Gefühl für die leichtentzündlichen Stoffe in ihrer konfliktgeladenen Umgebung. Die ständige Spannung, die dadurch

erzeugt werde, daß das, was sie sage, nicht das ist, was sie meine, mache sie erstaunlich anpas- sungsfähig. Der ständige Zwang zu SED-genehmen Bekundungen löse aber auch höchst wider- spruchsvolle Reaktionen aus, weil die Einheit von Sprache und An- schauung gestört sei. Jeder Ange- hörige dieser DDR-Generation sei notwendigerweise Schauspieler und operiere mit Worten und Be- griffen, die ihres Klanges und Ge- haltes beraubt seien.

Diese permanente Art des Gespal- tenseins wird durch die Einflüsse der westlichen Fernseh- und Rundfunksendungen mit ihrer ver- wirrenden Vielfalt und Liberalität noch verstärkt. Auf diese Einflüsse verweisen die Neurologen und Psychiater der DDR immer wieder, wenn sie die praktischen Schwie- rigkeiten in der Diagnostik und Betreuung mehrfacherkrankter Arbeitnehmer erläutern.

Es gehört aber auch zum Wesen des Gesundheitssystems soziali- stischer Länder, insbesondere der DDR, daß Dispensairegruppen der Mehrfacherkrankten schon wie- derholt gefordert und vereinzelt mit unterschiedlichem Erfolg be- treut wurden. Eine wirksame spe- zifische Betreuung hat sich offen- bar infolge der rein subjektiven und im Einzelfall schwer objekti- vierbaren ursächlichen Bedingun- gen der Mehrfacherkrankungen als äußerst schwierig erwiesen.

Bei den Ärzten überwog augen- scheinlich die Neigung, eine man- gelhafte Arbeitseinstellung anzu- nehmen und andere Beurteilungs- möglichkeiten gar nicht erst zu prüfen.

Skepsis gegenüber

Maßnahmen und Fragebögen Die Erfahrungen einer Sonder- ÄBK als spezifische Betreuungs- maßnahme mehrfacherkrankter Arbeitnehmer belegen diese Schwierigkeiten; denn 57,7 Pro- zent der vorgeladenen mehrfach- Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 15 vom 15. April 1983 67

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Neurosen und Widerstand

erkrankten Arbeitnehmer erschie- nen — in Kenntnis der in der DDR gesetzlich bestimmten Pflichten und damit jederzeit möglichen Sanktionen — gar nicht zur Unter- suchung. Von den zur Abklärung des Anteils neurosepsychologi- scher Ursachenanteile verwende- ten neurosendiagnostischen Sieb- tests, Beschwerdenfragebogen und Verhaltensfragebogen waren 14,1 Prozent nicht auswertbar, und 11,3 Prozent enthielten keine neurotischen Befunde; nur in 4,2 Prozent der Fälle wurde eine frag- liche und in 12,7 Prozent eine wahrscheinliche Neurose ange- nommen.

Die Autoren werten dies als Zei- chen des „Mißtrauens", der

„Skepsis" und des „Widerstan- des" der Patienten sowohl gegen- über den Betreuungsmaßnahmen als auch gegenüber den Fragebo- gen. Solche Maßnahmen seien un- populär und würden als „Druck- mittel" erlebt. Daß Ärzte dieses Verhalten mitverursacht haben, wird nicht geleugnet; ihr Bestre- ben um einen möglichst niedrigen Krankenstand habe sie in ihrem Vorurteil oft noch bestärkt, daß die meisten Probanden nur aus einer mangelnden Arbeitsmotivation ei- ne Arbeitsbefreiung anstreben.

Die Tatsache, daß sich die Mitglie- der der ÄBK deshalb wenig ver- ständnisvoll gegenüber den Mehr- facherkrankten gezeigt hätten, ha- be dazu geführt, daß sich die Pa- tienten nicht akzeptiert und für- sorglich betreut, sondern eher an- gegriffen und bedroht gefühlt hätten.

Die mit langfristig erkrankten Ar- beitnehmern von der ÄBK durch- geführten Untersuchungen verlie- fen dagegen erfolgreicher: 81,5

Prozent der Vorgeladenen kamen der Aufforderung nach, nur 18,5 Prozent ignorierten sie. Von den Siebtests, Beschwerdenfragebo- gen und Verhaltensfragebogen waren 15,2 Prozent nicht auswert- bar, 10,8 Prozent enthielten keine neurotischen Befunde, in 17,4 Prozent der Fälle wurde eine frag-

liche, bei 38,0 Prozent eine wahr- scheinliche Neurose diagnosti- ziert.

Persönlichkeitsorientierte Betreuung

Aus diesen Erfahrungen leiteten W. Gäbler und R. Härtwig ihr Be- treuungskonzept ab, orientierten sich auf konflikthafte neurosen- psychologische Ursachen und

„Mitbedingtheiten" der Erkran- kungen, besonders dann, wenn vom Patienten nicht eindeutig ob- jektivierbare Symptome geklagt wurden. Sie grenzten die konflikt- haften Krankheitsursachen und -bedingungen von mangelhaften Einstellungen zu gesellschaftli- chen Normen ab, veranlaßten die Betriebsleitungen als primär Ver- antwortliche zu erzieherischer Be- einflussung und arbeitsgestalteri- schen Maßnahmen, behielten je- doch selbst gegenüber den Arbeit- nehmern mit vermutlich mangel- hafter Arbeitseinstellung eine ärzt- liche, persönlichkeitsakzeptieren- de, verständnisvolle Einstellung und Gesprächsführung mit

„freundlicher Konsequenz".

Das von den Autoren entwickelte und erprobte Betreuungsmodell besteht aus drei Schritten. Zu- nächst informiert sich der Arzt bei den Leitungen des Betriebs und seiner Gewerkschaft über Anhalts- punkte für die familiären bzw. tä- tigkeitsbezogenen Konflikte des Patienten und seiner Einstellung zur Arbeit. In einem weiteren Ge- spräch mit dem Patienten wird versucht, die Diagnose — auch un- abhängig von somatischen Sym- ptomen — zu klären; dabei wird darauf geachtet, daß der Patient

„frei und unbeeinflußt" spricht, der Arzt geduldig, unvoreinge- nommen zuhört, um herauszufin- den, was den Patienten bewegt.

Gleichzeitig warnen die Autoren:

„Eine unpersönliche, distanzierte Haltung, autoritäre Verhaltenswei- sen, Tendenzen zur „Bestrafung"

(schimpfen), moralische Druck- mittel (angedrohter Arbeitsplatz-

wechsel) lassen den Arzt neuro- tisch bedingte oder begünstigte Erkrankungen übersehen und füh- ren dazu, daß die Patienten mit Verstärkung ihrer Symptome in ih-

rer Fehlhaltung bzw. in ihrer Aus- weglosigkeit bekräftigt werden und Werktätige mit mangelhafter Einstellung zur Arbeit sich in ihrer Widerstandshaltung eher bestärkt fühlen".

Bei deutlichen Zeichen für eine Fehlhaltung sowie zeitlich und in- haltlich nicht abgrenzbaren Kon- flikten wird die Überweisung zu einem Fachpsychotherapeuten empfohlen; im Falle einer erziehe- risch bedingten Fehlhaltung, ohne somatische Begleiterscheinungen und psychische Symptome, „wer- den die zuständigen betrieblichen Leitungen zur Veranlassung erzie- herischer Aussprachen und Maß- nahmen informiert". Damit wird nun auch das Privatgeheimnis des Patienten enteignet, seine Intim- sphäre weitgehend sozialisiert.

Die Regelungen über die Arbeits- befreiung, insbesondere die Be- fugnisse der ÄBK, stehen im Grun- de im Widerspruch zur ärztlichen Schweigepflicht, die z. B. in der Bundesrepublik nur im „rechtferti- genden Notstand" durchbrochen werden darf, in der DDR aber in der Alltagspraxis dem „Schutz ge- sellschaftlicher Interessen" geop- fert wird. Das Zusammenwirken von ÄBK und den Leitungen der Volkseigenen Betriebe (VEB) of- fenbart das Ausmaß des Miß- brauchs der ärztlichen Schweige- pflicht in der DDR.

W. Gäbler und R. Härtwig berich- ten, daß sie ihr Therapiekonzept mehrfacherkrankter Arbeitnehmer in einem Betrieb der Nahrungs- und Genußmittelindustrie mittle- rer Größe erprobten und jeden Ar- beitnehmer mit Beginn der dritten Erkrankung im laufenden Jahr nach ihrem Modell betreuten. Au- ßerdem wurden jene Arbeitneh- mer einbezogen, bei „denen die Arbeitsbefreiungsbescheinigung offenbar mit Unsicherheit des Arz- tes verbunden bzw. für den zu- ständigen Betriebsarzt aufgrund

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der Information über den Werktäti- gen nicht einsichtig war".

Das Ergebnis war „eine hochsigni- fikante Senkung des Krankenstan- des". Dieser „Erfolg" wird auf die Tätigkeit einer „Arbeitsgruppe zur Senkung des Krankenstandes" zu- rückgeführt, der, außer dem Be- triebsarzt, der Betriebsgewerk- schaftsleiter und ein „Vertreter der staatlichen Leitung" angehö- ren. Dieses Konsilium aus Arzt, Gewerkschafter und Staatsfunk- tionär behandelt in regelmäßigen monatlichen Zusammenkünften Probleme „wie Auswertung des Krankenstandes, Auswertung von Analysen, Häufigkeit des Auftre- tens von Krankheiten, Konzentra- tion von Erkrankungen in einzel- nen Bereichen".

Die Autoren heben hervor, daß erst seit Anwendung des von ih- nen entwickelten Therapiekon- zepts, nach dem bei Symptomen

„neurotischer Fehlhandlungen"

der Fachpsychotherapeut des Ge- sundheitswesens, bei „mangelhaf- ter Einstellung zur Gesellschaft und zur Arbeit" aber der für erzie- herische Maßnahmen zuständige staatliche Funktionär tätig wer- den, die „entscheidende Senkung des Krankenstandes" erzielt wor- den sei, und sie bedauern: „Leider liegen bisher keine Untersu- chungsergebnisse über den Anteil dieser beiden Gruppen unter den Werktätigen mit gehäufter Arbeits- befreiung vor".

Erst die exakte Abgrenzung dieser beiden Gruppen kann Aufschluß über die Zahl hinreichend abge- klärter Neurosen und das Ausmaß des offensichtlich ungebrochenen Widerstands gegen das herr- schende Gesellschaftssystem ge- ben.

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Karl-Heinz Wenzel Ahornallee 22 1000 Berlin 19

„Aerobics", das Zugpferd von

Trimming 130", droht

auszubrechen

„Aerobic-Gymnastik" ist ein Teil von „Trimming 130", beschwört der Deutsche Sportbund (DSB), doch fast sieht es so aus, als wür- de ihm dieses „Zugpferd" davon- galoppieren.

Vor wenigen Monaten hatte der DSB im Verbund mit Bundesärzte- kammer, den Allgemeinen Orts- krankenkassen, dem Bundesfami- lienministerium und anderen Insti- tutionen seine Aktion „Trimming 130" der Öffentlichkeit vorgestellt.

Damals wies die agile Sydne Rome, ein „amerikanischer Film- star" laut Programmansage, deut- sche Journalisten in die neue Kunst der „Aerobic-Gymnastik" (manch- mal wird auch von „Aerobic- Dance" gesprochen) ein. Auch das Fernsehen war mit von der Partie.

Die Breitenwirkung war enorm.

Kaum ein Sender, kaum ein Maga- zin, das sich diesem Thema inzwi- schen noch entziehen könnte; in den Bahnhofskiosken prangen be- reits Bücher über „Aerobics" in der ersten Reihe. Und auch die Anzeigenbranche ist zufrieden:

Die Aerobic-Studios teilen in Ruhe per Werbeanzeige den Markt unter sich auf.

Wo bleibt da „Trimming 130" und wo der traditionelle Vereinssport?

Die Geister, die ich rief ...

„Trimming 130" heißt spieleri- scher Ausgleichssport, bei dem nur 60 Prozent der Leistungsfähig- keit beansprucht werden; auf den Puls bezogen, sind das 130 Schlä-

ge pro Minute. Damit steht der Ge- sundheitsaspekt sportlicher Akti- vitäten im Vordergrund.

Schon vor Monaten, als das neue Modewort „Trimming 130", in An- lehnung an Begriffe wie „Jog- ging" und „Training", kreiert wur- de, warnten Ärzte davor, „Aero- bics" mit in dieses Konzept hinein- zunehmen. Sehr drastisch hat das Professor Dr. med. Manfred Stein- bach, Ministerialdirektor im Bun- desfamilienministerium und Mit- glied des Bundesausschusses Breitensport, auf einer Pressekon- ferenz des DSB in Frankfurt kürz- lich ausgedrückt: Der Aufforde- rungscharakter der Musik verfüh- re zur Überforderung der Lei- stungsfähigkeit; die Ermüdung werde verschleiert.

Nach einer Studie aus Amerika — dort tanzen angeblich schon über 30 Millionen im „Aerobic-Stil" — werden nicht selten durch diesen

„Drogencharakter" (so Steinbach) Pulswerte über 200 erreicht. Das spricht diametral gegen das Kon- zept von „Trimming 130".

Kommerziell gesehen dürfte

„Aerobics" für die neuen „Stu- dios" durchaus rentabel sein:

Raum- und Zeitaufwand sind ge- ring, während gleichzeitig das Image dieser neuen Bewegung mit viel Flitter und Sexappeal kassen- wirksam ist; kurz gesagt: Das Mar- keting-Konzept zielt auf eine zah- lungskräftige Klientel.

Dem Deutschen Sportbund ist das aus mehreren Gründen ein Dorn im Auge: Zum einen muß er mit ansehen, wie Sydne Rome, einst- mals werbewirksames Medium für seine „Trimming-130-Aktion" ihm die „Show" stiehlt. Was aber noch viel schlimmer ist: daß er zum an- deren unversehens eine Bewe- gung gefördert hat, die mit Puls- werten über 200 seinem eigenen Konzept widerspricht. „Trimming 130" zielt mit gutem Grund auf Pulswerte um die 130 ab. Sie rich- tet sich vor allem an die 30- bis 60jährigen, die sich bisher zu we- nig bewegen und nun vorsichtig DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 15 vom 15. April 1983 71 Ausgabe A

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