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Archiv "Krankheiten und Leiden" (24.11.1988)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Krankheiten und Leiden

Rudolf Gross

1. Semantik

Es gibt in jeder Sprache Worte, die so spezi- fisch sind, daß sie wörtlich in die anderen über- nommen werden, so zum Bespiel aus dem Deut- schen „Gestalt"-Theorie, „Gestalt"-Psycholo- gie usw. In einer ähnlichen Lage ist das Engli- sche: Während wir die Angaben der Kranken und die von uns unmittelbar erhobenen Befunde durchweg als „Symptome" bezeichnen, unter- scheidet die englische Sprache viel deutlicher zwischen den Schilderungen und Klagen der Pa- tienten als „symptoms" und dem, was wir aktu- ell bei der unmittelbaren Untersuchung finden, den „findings".

Ähnlich verhält es sich mit den Krank- heiten, für die es im englischen zwei Schlüssel- worte gibt: „Disease" und „Illness". Mit de- ren, wenn auch in der Muttersprache nicht ganz scharfen Unterscheidung, wollen wir uns kurz beschäftigten. Dabei sollten wir — da an anderen Stellen ausführlich besprochen — nicht auf die vielschichtige Problematik der Begriffe „Ge- sundheit" und „Krankheit" eingehen (Literatur hierzu siehe zum Beispiel bei 2, 5, 6, 7, 9, 11, 13)

— auch nicht auf operationale Begriffe wie „Fi- nalität" und „Kausalität" (siehe zum Beispiel bei 8).

Anliegen dieses Editorials sind vielmehr deutsche Begriffe und Inhalte für „Illness" und

„Disease". Auch im Englischen werden so pra- xisgewichtige Begriffe nicht einheitlich ange- wandt, was zum Bespiel Kräupl-Taylor (11) ver- anlaßte, darüber hinaus den Begriff des „Mor- bus" vorzuschlagen. Dieses Wort hat sich aber nach unserer Kenntnis (abgesehen von rein la- teinischen Krankheitsbegriffen) als Oberbegriff oder Zusammenfassung nicht durchgesetzt.

2. „Disease"

Nach der überwiegenden Literatur (zum Beispiel 1, 15) sind Krankheit im Sinne von

„disease" ojektiv nachweisbare, von der Norm abweichende Befunde, unabhängig davon, ob der betroffene Mensch etwas davon bemerkt oder nicht. Dieser Krankheitsbegriff entspricht somit einer medizinischen Ontologie, das heißt einer Beschreibung morphologischer, physiolo- gischer, chemischer, mikrobiologischer usw.

Daten. Ihre Dominanz, etwa zwischen 1850 und 1950, geht letztlich auf den großen medizini- schen Ontologen der Neuzeit, Thomas Syden- ham (1624 bis 1689), zurück. Sie erhielt und er- hält ihre Basis in den ätiologischen und pathoge- netischen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte, aus denen beispielhaft nur die neuesten Ent- wicklungen genannt seien: Genetik, 3-dimensio- nale Darstellung von Organen und Organfunk- tionen, Immunologie, Molekularbiologie.

Entgegen der Kuhnschen Hypothese (12), daß ein Paradigma eines Tages nicht mehr be- friedigt und sozusagen über ein Mehrheits-Vo- tum der Forscher durch ein neues abgelöst wer- de, halten die Fortschritte in der naturwissen- schaftlichen Erkennung von Krankheiten und ihren Ursachen an, während sich schon seit der Jahrhundertwende eine Flucht der Patienten weg von der immer erfolgreicheren naturwissen- schaftlichen Medizin zu nicht naturwissenschaft- lich begründbaren Heilverfahren feststellen läßt (14). Das Verständnis vom kranken Menschen, die Anthropologie, feiert zunehmende Tri- umphe — und in ihrem Gefolge ein verstehendes Eingehen auf den Kranken, eine Art von Her- meneutik (siehe auch DÄ 83, 383 [1986] sowie 15). Die Anamnese soll „patienten- und nicht Dt. Ärztebl. 85, Heft 47, 24. November 1988 (59) A-3351

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arztzentriert" sein (ein für viele Ärzte unzutref- fender Vorwurf!). Einer der führenden amerika- nischen Medizintheoretiker, Engel, hat sein bio- medizinisches Konzept (3) abgelöst durch ein

„biopsychosoziales" (4) Krankheitsmodell.

3. Illness

Illness ist nach der überwiegenden Meinung der Literatur das, worunter der Kranke leidet.

Wir haben im Deutschen den ausgezeichneten Ausdruck „Leiden". Wir müssen ihn nur meta- phorisch verändern von der häufigen Vorstel- lung einer chronischen, mehr oder minder bela- stenden Krankheit zum rein subjektiven Erle- ben, akut oder chronisch. Dann würden wir uns auch in vollständiger oder doch weitgehender Übereinstimmung mit dem englischen Wortsinn befinden. Nach Barondess (1) ist „illness" kein biologisches, sondern ein anthropologisches Phänomen. Es besteht aus einem Mißverhältnis zwischen der Person und ihrem inneren bezie- hungsweise äußeren Milieu. Der Prozeß des Verstehens der Bedeutung von „illness" ist da- her nicht wissenschaftlich im konventionellen Sinn (16).

Van der Steen und Thung (15) schätzen, daß fünfzig Prozent aller Krankheiten aus solchen Mißverhältnissen bestehen, deren Grundlage einerseits eine Krankheit im Sinne von „dis- ease" sein kann, andererseits existentielle Pro- blem sein können (15). Das deckt sich weitge- hend mit meinen Erfahrungen in einer internisti- schen Sprechstunde: zwanzig bis dreißig Prozent der Zugänge hatten nachweisbare organische Struktur- oder Funktionsstörungen, weitere fünfzig Prozent Verbindungen mit leichten — für andere Menschen subjektiv bedeutungslosen — organischen Veränderungen, der Rest war rein psychsomatisch. Selbstverständlich ist das Ver- hältnis in den Kliniken und Krankenhäusern an- ders, fast umgekehrt. Die Ursache ist eine Art von „Vorsortierung" . Auch diese Kranken kön- nen unter ihrer (objektivierbaren) Krankheit mehr oder minder leiden: Die Reihenfolge ist dann somato-psychisch.

Es ist von größter Wichtigkeit, diese Zusam- menhänge nicht nur im Prinzip zu kennen (was für die meisten Ärzte auch zutrifft), sondern auch auf den einzelnen anzuwenden (was viel- fach in der Hektik des Krankenhaus- oder Pra- xisbetriebes unterlassen wird). Dies erfordert Zeit, Einfühlungsvermögen, Empathie. Man muß einen Teil davon mit auf Welt bringen, um zum Arzt berufen zu sein, den Rest in ständiger Übung vertiefen. Auch in England sollen die überwiegend von erfahrenen Klinikern, Spezia-

listen oder Subspezialisten ihres Faches getrage- nen, „disease"-orientierten Fortbildungen überwiegen, die „illness"-orientierten zu kurz kommen (1). Schon Max Bürger sagte: „Wir ha- ben viele Spezialisten für Herzleiden, aber nur wenige für Herzeleid" (zitiert bei 6).

4. Synthesen

Ein Entweder-Oder-Standpunkt ist unreali- stisch. Es lassen sich aber Schwerpunkte setzen, etwa in der folgenden Einteilung:

• Organische Krankheit ohne Kenntnis oder Leidensdruck;

• organische Krankheit mit Leidensdruck,

• keine organische Krankheit, aber Leiden.

Ausbildung, Fortbildung, Anwendung soll- ten — unter Betonung der jeweils dominanten Seite — das „Sowohl — als auch" herausheben.

Die seit der Schule von Kos und der Schule von Knidos fortbestehende Alternative (6): „Es gibt nur Kranke — es gibt nur Krankheiten" könnte in unseren Tagen ihre Auflösung finden, indem eine Vielzahl von Ärzten sich beiden Aspekten des Krankseins zuwendet: dem naturwissen- schaftlichen und dem anthropologischen.

Literatur

1. Barondess, J. A.: Disease and Illness — a crucial distinction.

Am. J. Med. 66 (1976) 375

2. Caplan, A.; Engelhardt, H. T.; Cartney, J. J. (Edit.): Con- cepts of Health and Disease. London, Addison-Wesley, 1981 3. Engel, G. L.: The need for a new model: a challenge for bio-

medicine. Science 196 (1977) 129

4. engel, G. L.: The clinical application of the biopsychosocial model. J. Med. Philos. 6 (1981) 101

5. Feinstein, A. R.: Clinical judgement. Baltimore, William and Wilkins, 1967

6. Gross, R.: Medizinische Diagnostik, Berlin, Springer 1969 7. Gross, R.: Kranke, Krankheiten und Syndrome. E. W. Baa-

der Gedächtnisvorlesung, Verh. Dtsch. Ges. Arbeitsmed. 1 (1987) 25

8. Gross, R.: Kausalität und Finalität in der Medizin. Med.

Welt. 37 (1986) 1044

9. Gross, R.; Wichmann, H. E: Was ist eigentlich normal? Med.

Welt 30 (1979) 2

10. Jacob, W.: Kranksein und Krankheit, Heidelberg, Hulthig, 1978

11. Kräupl-Taylor, F.: The concepts of illness, disease and mor- bus. Cambridge Univ. Press 1979

12. Kuhn, Th. S.: The structure of scientific revolution, in: Intern.

Eccycloped of Unilied Science, Univ. of Chicago Press, 1970 13. Rothschuh, K. E.: Was ist Krankheit? Darmstadt, Wissensch.

Verlagsges. 1975

14. Rothschuh, K. E.: Naturheilbewegung, Reformbewegung, Alternativbewegung. Stuttgart, Hippokrates, 1983

15. Van der Steen, W. J.; Thung, P. J.: Faces of Medicine, Dord- recht, Holland, Kluwer 1988

16. McWhinney, I. R.: Are we an the blink of a major transfor- mation of clinical method? Cmaj Vol. 135 (1986) 873

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Rudolf Gross Herbert-Lewin-Straße 5

5000 Köln 41 A-3352 (60) Dt. Ärztebl. 85, Heft 47, 24. November 1988

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