• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Die organischen Krankheiten in der Psychiatrie" (05.04.1990)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Die organischen Krankheiten in der Psychiatrie" (05.04.1990)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

1

1

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Die organischen Krankheiten in der Psychiatrie Rainer Tolle

s ist ein weit verbreiteter Irrtum, psy- chische Krankheiten würden so ge- nannt, weil sie psychisch entstanden sind. Richtig aber ist: Krankheiten, die allein oder überwiegend psychi- sche Symptome aufweisen, werden psychische Krankheiten genannt. Psychiatrie umfaßt die Diagnostik, Therapie und Prävention der so ver- standenen seelischen Krankheiten des Men- schen einschließlich deren Erforschung und Leh- re. Das Nachbarfach Neurologie wird definiert als die Lehre von den organischen Erkrankungen des zentralen, peripheren und vegetativen Ner- vensystems (einschließlich bestimmter Muskeler- krankungen), und zwar von denjenigen Krank- heiten, bei denen psychische Störungen nicht im Vordergrund stehen.

Selbstverständlich überschneiden sich Psych- iatrie und Neurologie, sowohl in den angewand- ten Methoden der Diagnostik und Forschung als auch in den Krankheitsgebieten, insbesondere im Bereich der Hirnkrankheiten, von denen hier die Rede sein soll.

Organische Psychosen

Bekanntlich sind die meisten psychischen Krankheiten nicht auf eine, sondern auf mehrere Entstehungsbedingungen zurückzuführen. Die hauptsächlichen ätiopathogenetischen Katego- rien sind: genetische Faktoren, psychische Fehl- entwicklungen, erworbene Hirnschädigungen oder Hirnfunktionsstörungen, aktuelle psychoso- ziale Belastungen und Konflikte. Oft sind patho- genetische Faktoren aus mehreren dieser Kate- gorien bei demselben Patienten nachweisbar.

Die multikonditionale Krankheitsentstehung, von der heute viel die Rede ist, wurde zuerst in der Psychiatrie überzeugend nachgewiesen.

Wenn psychische Störungen ausschließlich oder überwiegend somatisch bedingt sind, nennt man sie organische Psychosen oder organische Psy- chosyndrome. Sie finden heute das verstärkte In- teresse der Psychiater und auch der Neurologen.

Zur Ätiologie

Die Ursachen sind zahlreich: Hirnschädigun- gen können infolge Durchblutungsstörungen entstehen (Gefäßerkrankungen, Herzstillstand, Anämien), durch raumfordernde oder degenera-

tive Prozesse, entzündliche und traumatische Hirnkrankheiten. Toxische Hirnfunktionsstörun- gen werden nicht etwa nur durch Genußmittel und Drogen, sondern auch durch verschiedene Medikamente hervorgerufen. Zahlreiche allge- mein-körperliche Krankheiten gehen mit Hirn- funktionsstörungen einher, zum Beispiel Leber- oder Nierenversagen, Avitaminosen, endokrine Krankheiten, Karzinome. Praktisch jede schwere körperliche Krankheit kann zu organisch-psychi- schen Störungen führen.

Nach wie vor gilt, daß die organisch-psychi- schen Störungen im wesentlichen unspezifisch sind. Es ist nicht etwa so, daß jede Grundkrank- heit (Hirnerkrankung oder allgemein-körper- liche Krankheit mit Hirnfunktionsstörung) ihr eigenes Muster psychischer Störungen aufweist, sondern das Gehirn reagiert auf die verschieden- sten Schädigungen mit einer begrenzten Anzahl psychischer Störungen (Syndrome).

Diagnostik

Diese Syndrome werden psychopathologisch diagnostiziert, das heißt an der Art der psychi- schen Störungen ist zu erkennen, daß eine Hirn- schädigung (oder Hirnfunktionsstörung) besteht.

Letztere kann in vielen, nicht aber allen Fällen durch die technischen Methoden der Hirndia- gnostik erfaßt werden, insbesondere durch die bildgebenden Verfahren, die nicht mehr nur die Struktur sondern auch Stoffwechselvorgänge des Gehirns abbilden können. Die psychischen Stö- rungen selbst werden heute durch psychopatho- metrische Verfahren der Befundobjektivierung und -quantifizierung (etwa standardisierte Ska- len, neuropsychologische Tests) im einzelnen diagnostiziert.

Neue Terminologie

Mit den neuen Methoden und Arbeitsgebie- ten entstanden auch neue Begriffe und Eintei- lungen. Die organisch-psychischen Syndrome zu kennen, und zwar mit ihren zur Zeit gültigen Na- men, ist für jeden Arzt allein schon im Hinblick auf die zunehmende Häufigkeit dieser Störun- gen wichtig.

Delir: Delir ist heute die Bezeichnung aller akuten organischen Psychosen. Früher wurde De- lir abgegrenzt von dem Verwirrtheitszustand (amentielles Syndrom). Delir ist nicht allein im A-1114 (64) Dt. Ärztebl. 87, Heft 14, 5. April 1990

(2)

Sinne von Alkoholentzugsdelir zu verstehen, son- dern kommt bei zahlreichen Hirnfunktionsstörun- gen vor. Die Hauptsymptome des Delirs sind Be- wußtseinsstörungen mit Desorientiertheit, kogni- tive und Gedächtniseinbußen, motorische Unru- he, zum Teil auch Wahn und Halluzinationen.

Der diagnostische Begriff Delir verdrängt all- mählich alle älteren Begriffe wie Durchgangssyn- drom, Funktionspsychosen, exogene Psychose, symptomatische Psychose usw. Nur organische Psychose wird noch als Oberbegriff verwendet.

Demenz: Unter Demenz, dem zweiten hauptsächlichen Begriff in diesem Gebiet, ver- steht man die hirnorganisch bedingten psychi- schen Störungen der Gedächtnis- und Denk- funktionen, weiterhin bestimmte affektive und Antriebsstörungen. Vom Delir unterscheidet sich Demenz durch das Fehlen von Bewußtseins- störungen und durch die zumeist chronische Verlaufsform. Demenz wurden früher nur die besonderen Schweregrade dieser Störungen ge- nannt, im übrigen sprach man von organischen Psychosyndromen. Heute werden alle derartigen Störungen als Demenz bezeichnet. Die Verursa- chungen sind auch hier vielfältig.

Hinfällig wurden die Begriffe organische Lei- stungsminderung, organische Wesensänderung, hirnorganisches Syndrom, psychoorganisches Syndrom, Hirnleistungsschwäche und andere.

Von der Demenz werden zwei Syndrome ab- gegrenzt. Das amnestische Syndrom (Amnesie) besteht fast ausschließlich in schwersten Ge- dächtnisstörungen. Die sogenannte subkortikale Demenz ist gekennzeichnet durch Verlangsa- mung, Haften, Umstellungserschwerung, An- triebsverarmung, Initiativeverlust, affektive Stö- rungen bevorzugt in Form von Depressionen.

Prototyp ist das Psychosyndrom bei der Parkin- son-Krankheit. Subkortikale Demenz, ein um- strittener Begriff, wird auf Hirnschädigungen insbesondere im Stammhirnbereich zurückge- führt. Die alten Termini Stammhirnsyndrom, Stirnhirnsyndrom und so weiter, auch allgemei- nes hirnlokales Psychosyndrom wurden aus gu- ten Gründen aufgegeben.

Neuropsychologische Syndrome: Wenn eine Hirnfunktionsstörung eine bestimmte, eng um- schriebene psychische Störung verursacht, spricht man von neuropsychologischem Syndrom oder Werkzeugstörung. Die wichtigsten sind Agnosien, Apraxien und Aphasien.

Organische Persönlichkeitsveränderungen:

Gemeint sind deutliche Veränderungen der Per- sönlichkeit infolge erworbener Hirnschädigung.

Nicht selten ist an den Veränderungen der Per- sönlichkeit der Hirnprozeß zuerst diagnostisch zu erkennen. Frühere Bezeichnungen wie orga-

nische Wesensänderung, Enzephalopathie, Pseudopsychopathie sind überholt.

Organisch-psychische Syndrome 2. Ranges:

Die bisher besprochenen Syndrome gelten als die typischen organisch-psychischen Krankheits- bilder (1. Ranges). Daneben gibt es hirnorga- nisch bedingte Syndrome, die in ihrem Erschei- nungsbild weniger typisch sind, sondern auch bei anderen Krankheiten, zum Beispiel bei schi- zophrenen oder affektiven Psychosen oder bei Neurosen oder Persönlichkeitsstörungen vor- kommen. Pathogenetisch sind sie im allgemeinen nicht allein auf einen organischen Faktor zurück- zuführen. Von den typischen Syndromen unter- scheiden sie sich durch das Fehlen von Bewußt- seinsstörungen und ausgeprägten Gedächtnis- und kognitiven Ausfällen, die jedoch in leichter Form vorkommen können.

Solche organisch-psychischen Syndrome 2.

Ranges (Lauter) sind zum Beispiel bestimmte Halluzinosen, manche Wahnerkrankungen, häu- figer depressive Störungen. Für diese Syndrome, die im allgemeinen noch zu wenig Beachtung fin- den, gab es bisher keine gemeinsame Benennung und keine Klassifikationskategorie.

Zur Klinik

Mehr kann über Symptomatik und Verlauf, Therapie und Prognose hier nicht mitgeteilt wer- den. Abschließend ist zu betonen, daß bei orga- nisch-psychischen Krankheiten (wie bei allen see- lischen Erkrankungen) über die Hauptursache hinaus weitere Entstehungsbedingungen zu be- rücksichtigen sind, die das Krankheitsbild prägen:

Hier sind es insbesondere die körperliche Konsti- tution, die Primärpersönlichkeit mit ihren Schwachpunkten und auch Kompensationsmög- lichkeiten, die Lebenssituation mit Überforderun- gen und Belastungen. Von diesen Bedingungen hängt es mit ab, in welchem Maße und in welcher Weise sich die organischen Störungen auswirken.

Umgekehrt sind die Auswirkungen der Krankheit auf die Lebensgestaltung des Betrof- fenen zu berücksichtigen. Reduzierte Vitalität und Leistungsfähigkeit sowie abnehmende Fä- higkeit, sich auf neue Situationen und auf die Belange der Mitmenschen einzustellen, führen zunehmend zu familiären Konflikten und sozia- len Komplikationen. Daher gehören zur Be- handlung organisch-psychisch Kranker neben der medizinischen Therapie auch persönliche Führung und psychosoziale Betreuung des Pa- tienten und seiner Angehörigen.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Rainer Tölle Klinik für Psychiatrie der Universität Albert-Schweitzer-Straße 11, 4400 Münster Dt. Ärztebl. 87, Heft 14, 5. April 1990 (67) A-1115

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Die Organisation muss eine Grundlage für vollkommen neue Projekte bieten, was durch redundante Organisationsnischen (organizational slack) erreicht werden kann.. Innovative

Seit lan- ger Zeit ist bekannt, daß 90 bis 95 Prozent der Insulinome — also nicht alle — mit einer Hypoglykämie im Hungerversuch reagieren und daß ein falsch

terien die Sexualstraftäter ih- re Opfer aussuchen, muß man ihr psychologisches Profil kennen – auch das der mögli- chen Täter im Umfeld der Kinder – und kann dann, so der

Das Anilin stellt eine ölartige , farblose, das Licht stark brechende Flüssigkeit dar von starkem unangenehm aromatischen Geruch; mit Aether und Alkohol ist es in allen

Das Anilin stellt eine ölartige , farblose, das Licht stark brechende Flüssigkeit dar von starkem unangenehm aromatischen Geruch; mit Aether und Alkohol ist es in allen

— Dufios zieht Opium mit kaltem Wasser vollständig aus, versetzt den Auszug mit 1/„ gepulvertem doppelt kohlensauren Kali, filtrirt, erhitzt das Filtrat zum Kochen, so lange

Platinauflösung fällt sie nicht, Gallustinktur fällt sie stark in weifslichen Flocken. In Weingeist ist es sehr leicht löslich, auch löslich in Aether. — Säuren neutralisirt

Akute Ver- giftungen durch organische Lö- sungsmittel kommen auf akziden- teller, suizidaler oder auch krimi- neller Basis vor, wobei die Auf- nahme der Lösungsmittel durch