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Archiv "Arzt und Gesellschaft" (14.07.1977)

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In seiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender des Deutschen Sozialgerichts- verbandes gab der Präsi- dent des, Bundessozialge- richts auf der Tagung des Sozialgerichtsverbandes in München im Oktober 1976 ein Einführungsreferat. Der hier veröffentlichte Beitrag gibt im wesentlichen den Inhalt dieses Referates wieder.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 28 vom 14. Juli 1977

Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen

Arzt und Gesellschaft

Georg Wannagat

Die Stellung des Arztes in der Ge- sellschaft wird stark durch den Wan- del der wirtschaftlichen, sozialen und technischen Verhältnisse sowie der Wertvorstellungen beeinflußt;

sie hängt aber auch vom Selbstver- ständnis der Ärzteschaft ab.

Hierbei sieht derjenige, der im Arzt- beruf steht — hier wiederum differen- ziert nach Stellung, Funktion und Sparte —, die Dinge anders als derje- nige, der von der ärztlichen Tätigkeit mittelbar oder unmittelbar betroffen wird oder der sich lediglich als un- beteiligter Beobachter seine Mei- nung bildet.

Gewiß macht auch heute noch das Arzt-Patient-Verhältnis den Kernbe- reich der ärztlichen Tätigkeit aus.

Aber dem Arzt fallen — besonders seit den letzten Jahrzehnten — ver- mehrt neue Aufgaben zu. Sein Ar- beits- und Tätigkeitsbereich wächst ständig, zugleich wird er zuneh- mend aufgefächert und differen- ziert. Sein rapide steigender Funk- tionszuwachs ist unverkennbar.

Der Arzt berät nicht nur den Kranken und seine Familie wie in der Vergan- genheit, sondern auch Betriebe und Verbände, Regierungen und Parla- mente, ja Weltorganisationen.

Die Umweltmedizin erhält neue, bis- her unbekannte Dimensionen. Hier- zu gehören die brennenden Fragen der Bevölkerungsexplosion, der Luftverschmutzung, der Lärmbe- kämpfung, der Ernährung, der Frei- zeitgestaltung, des Medikamenten- mißbrauchs, der Suchtgefahren, ja der gesamten Lebensraumplanung.

Obendrein erwächst der Medizin die Aufgabe, die Bevölkerung über ihre Verhaltensweisen aufzuklären, ihre

Mitarbeit an der Erhaltung der Ge- sundheit zu mobilisieren, die Ver- antwortung des einzelnen für die Krankheit zu fördern und die gesell- schaftlichen Gefährdungen der Ge- sundheit deutlich zu machen. Auf- gaben übrigens, die mit Unterstüt- zung durch die Massenmedien — und das ist bezeichnend für unsere Zeit —, also unter Mitwirkung des Laienelements, wirksamer gestaltet werden können.

Es sollte uns nachdenklich stimmen, wenn der Sozialmediziner Pflanz') unter anderem zu folgenden Ergeb- nissen kommt: Gemessen an der Le- benserwartung hat allein die Zunah- me des Rauchens den medizini- schen Fortschritt der letzten fünf Jahrzehnte zunichte gemacht; von der Einschränkung des Rauchens oder der Rückkehr zu normaler Er- nährung und Bewegung ist auf die Lebenserwartung der Bevölkerung eine weit größere Wirkung zu erwar- ten als von den Früherkennungs- maßnahmen.

Es mag dahingestellt bleiben, inwie- weit diese Feststellungen zutreffen;

sie lassen aber aufhorchen und un- terstreichen eindrucksvoll die Be- deutung der gezielten, aktivierenden Information und deren Einwirkungs- möglichkeiten auf die Bevölkerung sowie auf die sich hier ergebenden neuen und noch keineswegs bewäl- tigten Aufgaben der Medizin, insbe- sondere der Sozialmedizin.

In diesem Zusammenhang klingen geradezu visionär die Äußerungen von Virchow: „Die soziale Medizin allein wird die hygienische Kultur

1) Die soziale Dimension in der Medizin, 1975, Stuttgart, Hippokrates-Verlag, S. 101

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Arzt und Gesellschaft

der Zukunft schaffen, und der Arzt erfüllt in erster Linie seine Mission als ein Pionier dieser Kultur".

Krankheit ist eben nicht mehr — wie früher — der einzige Anlaß zur Be- gegnung mit dem Arzt. Die ärztliche Betreuung erstreckt sich in verstärk- tem Maße auf die Gesunden. Das gilt für die Aufklärung der Bevölkerung, für den immer weiter gespannten und sehr vielschichtigen und vielfäl- tigen Bereich der Vorsorge, die übri- gens schon Leibniz in seinem Pla- nungsprogramm gefordert hatte.

Konkret seien hier beispielhaft er- wähnt: die Krebsvorsorge, die Mut- terschaftsvorsorge, die gesundheit- lichen Maßnahmen im Bereich des Jugendarbeitsschutzes, die Tätig- keit der Werksärzte und neuerdings die der Betriebsärzte, ferner der Dienst der staatlichen Gewerbeärz- te. Im öffentlichen Gesundheits- dienst kommen der Jugendzahn- pflege, dem Impfschutz, der Tuber- kulosebekämpfung, der Lebensmit- telüberwachung und der Umwelthy- giene, um nur einige Bereiche zu erwähnen, besondere Bedeutung zu.

Bei Kranken, die eine Gefährdung für ihre Umwelt darstellen, wird der Arzt eingeschaltet, nicht nur um ih- nen zu helfen, sondern um auch die Umwelt zu schützen. Die Untersu- chung dient nicht oder nicht nur den Interessen des Kranken, sondern vor allem der Gemeinschaft. Der Arzt ist berufen, durch seine Diagnose zur Isolierung des Kranken beizutragen.

Bei diesen Entscheidungen und ih- ren Auswirkungen schwingen ebenso anerkannte Wertvorstellun- gen mit wie handfeste gesellschaft- liche Interessen und gruppenspezifi- sche Überzeugungen. Nur zu leicht kann sich hier ein Spannungsver- hältnis, eine Konfliktsituation zwi- schen dem Arzt und der sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftli- chen Umgebung auftun. Der Arzt stellt die Schwelle der Gefährlichkeit für die Gesellschaft fest, zum Bei- spiel bei ansteckenden Krankheiten, bei Kriminellen, bei Nichtvolltaug- lichkeit im Straßenverkehr und so weiter. Auch treffen ihn gewisse Meldepflichten. Verfolgen sie nur

statistische oder auch kriminalpoliti- sche Zwecke? Werden dadurch das Arztgeheimnis und die Persönlich- keitssphäre des Patienten ge- fährdet?

Hinzu kommt der gesamte Bereich der Gutachtertätigkeit in der Sozial- versicherung, Arbeitslosenversiche- rung und der Versorgung, zum Bei- spiel bei der Feststellung der Be- rufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit. Gutachten werden aber auch von der Privatver- sicherung, von den Arbeitgebern und vielen anderen Stellen verlangt.

Auskünfte, Atteste, Befundberichte, sachverständige Gutachten und Aussagen gehören heute zum Alltag des Arztes. Diese Tätigkeit hat ein- schneidende Auswirkungen auf die Belastung der Wirtschaft, der Ge- meinschaft und des Staates. Der ärztlichen Diagnose kommt nicht nur medizinische, sondern auch so- ziale und ökonomische Funktion zu;

sie strahlt in viele Bereiche der Wirt- schaft, der Justiz und des gesell- schaftlichen Lebens aus. Gesund- heit und Krankheit werden zuneh- mend zu ökonomischen Größen, wo der Arzt entscheidend mitwirkt. Die Diagnose bezieht sich nicht mehr unmittelbar auf die Therapie, sie hat oft mit ihr nichts zu tun. Gutachten können auch nachteilig für den Pa- tienten sein. Der Arzt kann dem Kranken bewußt oder unbewußt schaden. In dieser Situation treten sich die Beteiligten nicht mehr als Arzt und Patient gegenüber, son- dern der Arzt wirkt als Sachverstän- diger, als medizinischer Experte, der Patient als „Untersuchungsobjekt".

Hier können Konfliktsituationen ent- stehen. Sie werden vielfach durch gegensätzliche wirtschaftliche, so- ziale oder rechtliche Interessen der Beteiligten hervorgerufen, die alle auf den medizinischen Experten an- gewiesen sind, um die gegenseiti- gen Rechte und Pflichten festzule- gen. Hierbei stellt sich die Frage, ob nicht eine Trennung zwischen der behandelnden und begutachtenden Tätigkeit des Arztes in vielen Berei- chen gerechtfertigt und notwendig wäre.

Nicht zu übersehen ist auch die Doppelstellung vieler Ärzte, die in einem Arbeits- und Dienstleistungs- verhältnis zu einem staatlichen, kommunalen oder dem Versiche- rungsträger gehörenden Kranken- haus stehen. Diese Einrichtungen sind vielfach scharf kalkulierte Wirt- schaftsunternehmen, deren Ver- pflichtung zu Uneigennützigkeit sich nicht am einzelnen Kranken, sondern allenfalls an schematischen allgemeinen Richtlinien . orientiert.

Es sei zum Beispiel auf das Problem der umstrittenen Entlassungen an Montagen statt an Freitagen hinge- wiesen.

Hier wird die Loyalität des Arztes zwischen dem Krankenhaus, dem Kranken sowie dessen Krankenkas- se geteilt. Die Gefahr auftretender Schwierigkeiten, Mißverständnisse und Gewissenskonflikte ist nicht gering.

Der Arzt, der dem Verlangen des ein- zelnen nach Heilung sowie dem In- teresse der Gesellschaft an der Ge- sundheit ihrer Glieder verpflichtet bleibt, ist in verschiedene Span- nungsfelder einbezogen, in denen sich sein Handeln bewegt. Private Berufsausübung und Sachwaltung öffentlicher Belange greifen eng ineinander.

Funktionsverlust

Mit diesem ungeheuren Funktions- zuwachs geht aber auch ein gewis- ser Funktionsverlust einher, der durch Konkurrenz der Spezialisten (die jeweils nur ein begrenztes Fach- gebiet betreuen dürfen und nicht mehr den ganzen Patienten für sich in Anspruch nehmen können), des Krankenhauses (die praktischen Ärzte klagen, sie seien nur Verteiler für die Krankenhäuser und Fachärz- te) und der Heilmittelindustrie ge- kennzeichnet ist. Die Naturwissen- schaften werden als der eigentliche Bildner und Entwickler der geistigen und moralischen Eigenschaften der Menschen angesehen. Die Biologie, die Chemie und die Pharmaindustrie sowie, die Technik schaffen erst die Voraussetzungen für die erfolgrei-

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Arzt und Gesellschaft

che Tätigkeit des Arztes. Schaden nimmt die Stellung des Arztes auch durch die Funktionalisierung, die sich innerhalb des Gesundheitswe- sens ausbreitet.

Der Ahnherr des Arztes ist nicht mehr der Beichtvater, der Seelen- arzt, der Familienfreund, als der er früher beschworen wurde. Der Arzt ist längst zum medizinischen Inge- nieur in der Reparaturwerkstätte der Polikliniken, zum Teamworker in ei- ner durchorganisierten Ärzteschaft mit Mammutorganisationen und ge- werkschaftlicher Betreuung ge- worden 2).

Sein Honorar ist auch kein Ehren- sold, sondern eine Entschädigung für geleistete Dienste, die auf sehr nüchternen rechtlichen Grundlagen beruht.

Deshalb kann bei der Kommerziali- sierung, die bei allen Berufen zu be- obachten ist, von der Ärzteschaft nicht ein freiwilliger Verzicht auf die bestehenden Möglichkeiten einer günstigen Einkommensentwicklung erwartet werden. Hinzu kommt, wor- auf bereits vor 10 Jahren zutreffend die Sozialenquete3) hingewiesen hat: „Die entscheidende strukturelle Schwäche des ‚Marktes' für ärzt- liche Leistungen besteht jedoch darin, daß der Arzt als ‚Anbieter' nicht nur die Möglichkeit, sondern geradezu die Aufgabe hat, Art und Maß der ,Nachfrage' im wesentli- chen selbst zu bestimmen. Er ist der Sachkundige und weiß besser als der Patient, was diesem frommt.

Diese eigenartige und auf keinem anderen (wirklichen) Markt anzutref- fende Anbieterposition stellt fast übermenschlich hohe Ansprüche an die Selbstlosigkeit und moralische Widerstandskraft des Arztes .. . Kann man mit Ernst von ihm verlan- gen, daß er mit Eifer darauf bedacht ist, sein Einkommen zu schmälern und seinen Berufserfolg in einem möglichst geringen Einkommen zu suchen?"

2) Schipperges, Moderne Medizin im Spiegel der Geschichte, 1970, S. 71 ff.

3) Bericht der Sozialenquete-Kommission, So- ziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland 1966, S. 210

Änderungen, die notwendig erschei- nen, müssen verpflichtend vorge- nommen werden.

Einbruch der Technik

Die ärztliche Tätigkeit erhält heute zunehmend ihr Gepräge vom techni- schen Inhalt ihrer Funktion. Aus der Technik resultiert der medizinische Fortschritt, dieser hat wiederum die Spezialisierung und Arbeitsteilung zur Folge. Beides zwingt zu Koope- ration und Integration, die sich nicht mehr auf die ärztlichen Kollegen be- schränken, sondern auch auf andere Disziplinen übergreifen. So führt schon jetzt bei schwierigen Eingrif- fen — zum Beispiel einer Transplan- tion — der Weg vom Hausarzt bis zum Operationstisch über eine Viel- zahl von Spezialisten. Die Operation selbst wird von einem ärztlichen Team durchgeführt, die beteiligten Ärzte sind aufeinander angewiesen, weil keiner allein den Eingriff mit gleicher Kompetenz durchführen könnte.

Wachsende Bedeutung gewinnen die medizinischeh Informationssy- steme. Das gilt vor allem für den Einsatz des Computers und der Au- tomation. Ohne diese Einrichtungen zu überschätzen, wird davon auszu- gehen sein, daß diese Technisierung eine erhebliche Verbesserung der Diagnostik bewirkt und für die Ra- tionalisierung im Gesundheitswesen immer unentbehrlicher wird. Gewiß stellt sich auch hier die Frage, inwie- weit das persönliche Verhältnis zum Patienten darunter leidet.

Durch den Einsatz des Computers, des automatischen Rechners, dürfte ebenso keine Enthumanisierung der Medizin eintreten, wie auch keine Enthumanisierung der Rechtspre- chung durch Verwendung dieser technischen Hilfsmittel erfolgt.

Diese gravierenden Einbrüche der fortschreitenden Technik wirken sich allerdings auf die Stellung des Arztes aus, auf sein Verhältnis zu den von ihm betreuten Kranken oder Gesunden. Trotzdem sollte es mög- lich sein, den kranken Menschen nicht als Person aus den Augen zu

verlieren und — wie man es häufig nennt — der „sozialen Entfremdung"

zu begegnen.

Eine weitere entscheidende Ände- rung der ärztlichen Situation und seines Berufsbildes brachte — neben der Technik — der Einbruch der So- zialversicherung in die Arztpraxis.

Das bisher weitgehend unmittelbare Arzt-Patient-Verhältnis wurde durch die Zwischenschaltung der gesetzli- chen Krankenversicherung und spä- ter der Kassenärztlichen Vereini- gung in eine mittelbare Dreier- oder Viererbeziehung umgewandelt.

Die „ärztliche Ursituation" der medi- zinischen Praxis, in der der Patient den Arzt um dessen Rat und Hilfe gebeten hatte, wurde verdrängt durch den öffentlich-rechtlichen Rechtsanspruch der Patienten auf ärztliche Versorgung. Diese stellt sich nicht mehr allein als private Lei- stung dar, sondern als öffentliche Funktion mit gemeinschaftsgebun- denen Elementen. Das Kollektiv tritt hervor; es hat auch ein Interesse an der Gesunderhaltung, an der Ar- beitseinsatzfähigkeit des Patienten.

Zugleich wird der autonome Bereich der privatärztlichen Praxis durch die Sozialversicherung eingeengt. Es erfolgt die Entprivatisierung der ärztlichen Verantwortung als Folge der wachsenden materiellen und ideellen Bedeutung der Gesundheit und Krankheit.

Andererseits erhält die breite Ärzte- schaft eine beständige sichere und gute materielle Grundlage, die durch zahlungsfähige Patienten der Krankenversicherung gewährleistet und durch die private Krankenversi- cherung attraktiv angereichert wird.

Der Patient

Aber auch die breite Masse der Pa- tienten hat sich gewandelt. Der Arzt steht nicht mehr dem „Hinterwäld- ler" gegenüber, der sich mit blin- dem, absolutem kritiklosen Vertrau- en dem Arzt unterwirft, sondern dem emanzipierten, gesundheitlich auf- geklärten mündigen Bürger, der ein gesteigertes Informationsbedürfnis zeigt, das gewiß auch durch die

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Arzt und Gesellschaft

Massenmedien und die populärwis- senschaftlichen Publikationen ge- fördert wird.

Der Trend zum Abbau absoluter Au- torität — der auch in vielen anderen Bereichen zwischenmenschlicher Beziehungen zu beobachten ist — greift auch in das interpersonelle Arzt-Patient-Verhältnis ein, und zwar zugunsten einer auf persönli- cher Überzeugungskraft des Arztes beruhenden Autorität.

Der Bürger unserer Tage ist nicht mehr bereit, die Krankheit wie auch die übrigen Wechselfälle des Lebens als schicksalhaft hinzunehmen. Er versucht, diese abzuwehren oder zumindest zu mildern. Ausgestattet mit einem globalen Recht auf Ge- sundheit, auf körperliches, seeli- sches und soziales Wohlbefinden, verlangt der „homo patiens" sein Recht auf Gesunderhaltung, auf Hei- lung und Linderung seiner Leiden, auf eine bestmögliche ärztliche, krankenhäusliche sowie medika- mentöse Versorgung, und zwar un- abhängig davon, ob er einer sozia- len oder privaten Krankenversiche- rung angehört. Hierbei nimmt er den Schutz der Gemeinschaft, des Staa- tes in Anspruch 4).

Er verlangt aber auch vom Arzt aus- reichende Aufklärung über seine Krankheit, um sich ein eigenes Urteil bilden zu können. Deshalb sollte sich der Arzt der Mühe unterziehen, Diagnose und Therapie dem Patien- ten zu erklären und mit ihm zu be- sprechen. Besonders vor operativen Eingriffen wird dies durch die Rechtsprechung zur Pflicht ge- macht, denn davon hängt zum gro- ßen Teil der Erfolg etwaiger Scha- denersatzforderungen des Patienten ab.

Hiermit ist das Problem der Haftung für sogenannte ärztliche Kunstfehler angesprochen, das nicht nur in den USA, sondern auch bei uns zuneh- mend an Bedeutung gewinnt. Nicht zu verkennen ist auch ein anderes Phänomen: Der Bürger erwartet und

4) Wannagat, Sozialstaat als Auftrag, Rheini- sches Zahnärzteblatt 1975, S. 27, 29

fordert einerseits den Einsatz aller modernsten technischen Mittel, eine optimale ärztliche und medikamen- töse Versorgung von der Wiege bis zur Bahre; andererseits ist er er- staunt und überrascht von der Ko- stenexplosion, die er als unerträg- lich empfindet, obwohl er sie durch sein Verhalten mit heraufbeschwört.

Hierbei sollen die vielen anderen Faktoren, die zur „Kostenexplosion"

beitragen, gar nicht verniedlicht werden. Aber auch dieser Gesichts- punkt sollte im Dschungel der Aus- einandersetzungen über das Ge- sundheitswesen nicht untergehen.

Das Arzt-Patient-Verhältnis Die bereits aufgezeigten Entwick- lungen lassen auch das Arzt- Patient-Verhältnis nicht unberührt.

Besonders hat die Technisierung der Diagnose und Therapie die alte Zweipersonenbeziehung, die menschliche Betreuung, das Per- sönliche lockerer werden lassen, wobei die Distanz des Arztes zu sei- nen Patienten von Fall zu Fall anders gelagert ist. Diese Erscheinung ist nicht nur auf den sehr differenzier- ten und technisierten Ablauf der Un- tersuchung, auf die Funktionalisie- rung der Medizin in Großkliniken, sondern auch auf die überfüllten Wartezimmer mit 50 und mehr Pa- tienten täglich zurückzuführen.

Bei all diesen Entwicklungstenden- zen bleibt jedoch die Tatsache be- stehen, daß Krankenbehandlung eben nur zu einem Teil Anwendung der Technik, der jeweiligen Ergeb- nisse des naturwissenschaftlichen Wissens ist. In ihren grundlegenden Strukturen ist sie menschlich-ärzt- liche Leistung für einen hilfesuchen- den Menschen, die auf einem ge- genseitigen Vertrauen basiert, ge- tragen von einer berufsethischen Verantwortung des Arztes.

Dieser persönliche Sektor „echten Arzttums" darf weder durch den Computer noch durch umfangreiche Karteien noch durch berufsständi- sche, kassen- und kassenärztliche Bindungen oder Vergesellschaf- tungs- oder Vergemeinschaftungs-

tendenzen geschmälert oder abge- baut werden.

Auch der mündige Bürger unserer Tage trägt seine eigene innere Ge- schichte, seine persönliche Biogra- phie mit sich zum Arzt. Er verlangt — bei allem Verständnis für die „groß- organisatorische Superstruktur"

(Schelsky) der modernen Medizin — außer den modernsten technischen und medizinischen Hilfsmitteln, au- ßer der materiellen Absicherung sei- ner Behandlungskosten, nach sei- nem Arzt, nach „seinem Doktor", der sein Leiden kennt und dem er sein Vertrauen schenkt, zu dem eine existentielle, unmittelbare, betont menschlich gefärbte Kommunika- tion besteht. Eindrucksvoll beklagt Alexander Solschenizyn in der

„Krebsstation": „Wir haben auch noch einen anderen verloren, der eine wichtige Rolle spielte: den per- sönlichen Arzt".

Auswahl

des medizinischen Nachwuchses Es erhebt sich die sorgenvolle Frage, ob die jetzt durch den Nume- rus clausus ausgewählte, mit elitä- rem Bewußtein erfüllte künftige Ärz- tegeneration dieser Aufgabe gerecht werden wird. Sie wird gewiß ausge- zeichnet mit dem Computer umge- hen können; wird sie es auch mit dem ihr anvertrauten Menschen, insbesondere mit dem Kranken können?

Der ungeheuere Funktionszuwachs, verursacht durch immer neue Auf- gaben, die sich der Ärzteschaft stel- len, die wachsenden Anforderungen und Erwartungen aller Bürger, un- abhängig von ihrem sozialen und wirtschaftlichen Status nach den neuesten Erkenntnissen der medizi- nischen Wissenschaft behandelt zu werden, und das Verlangen nach Betreuung von einem Arzt, zu dem keine anonyme Beziehung, sondern zu dem ein sehr persönliches Ver- trauensverhältnis besteht, machen eine sofortige andere Ausgestaltung des Numerus clausus in der Medizin zu einem dringenden Gebot der Stunde.

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Utopische Forderungen der Arzneimittelkommission Seitens der Bundesärztekammer und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft wurden die am Zustandekommen des neuen Arzneimittelgesetzes Beteiligten in scharfer Form angegriffen. Diesbe- zügliche Kommentare wurden vom Vorsitzenden der Arzneimittelkom- mission der deutschen Ärzteschaft, Prof. Aschenbrenner (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 25/1976, 1655), und vom Vorstandsmitglied der Bundes- ärztekammer, Prof. Kreienberg (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 32/

1976, 2049), veröffentlicht. Dabei wurde der Eindruck erweckt, als seien die Änderungen am Gesetz- entwurf das Ergebnis unsachlicher Pressionen.

Als wissenschaftliche Sachverstän- dige des Unterausschusses „Arznei- mittelrecht" fühlen wir uns ver- pflichtet, zu diesen Vorwürfen vom wissenschaftlichen Standpunkt aus Stellung zu nehmen.

Am 10. Oktober 1973 wurde auf dem 76. Deutschen Ärztetag eine Ent- schließung zum neuen Arzneimittel- gesetz gefaßt. Es sollten u. a. folgen- de Maßnahmen verwirklicht werden:

„1. Der Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit und Unschädlichkeit ist für alle neu auf den Markt kommenden wie auch für alle bereits registrierten oder schon zuvor im Handel befindlichen Arz- neimittel durch Vorlage einwandfreier pharmakologisch-toxologischer und kli- nischer Untersuchungsbefunde zu er- bringen, unter besonderer Berücksichti- gung der biologischen Verfügbarkeit.

Soweit Arzneimittel nur bekannte Arznei- stoffe enthalten, sollte für die Registrie-

FORUM

rung der zusätzliche Nachweis erbracht werden, daß sie hinsichtlich therapeuti- scher Wirksamkeit und Unbedenklichkeit sowie Preiswürdigkeit Präparaten, die sich bereits im Handel befinden, überle- gen sind."

Da die angeführten Kommentare ei- ner diskussionsfähigen wissen- schaftlichen Argumentation entbeh- ren, müssen wir diese Entschließung als den eigentlichen Kern der Kon- troverse behandeln.

Pharmakologisch-toxikologischer Nachweis der

Wirksamkeit und Unbedenklichkeit Die „Arzneimittelkommission" for- dert, daß die Wirksamkeit und Unbe- denklichkeit sowohl bei neuen als auch bei altbekannten Arzneimitteln pharmakologisch-toxikologisch, d.

h. durch den Tierversuch nachge- wiesen wird. Dieser Forderung steht die Tatsache entgegen, daß der Tier- versuch keine wissenschaftlich be- gründete Vorhersage von Wirksam- keit und Unbedenklichkeit erlaubt, wie dies auch die „Gesellschaft für medizinische Dokumentation und Statistik" zu Beginn der Gesetzes- beratungen dargelegt hat.

In der Weltliteratur sind nur zwei vergleichende Studien über Arznei- mittelnebenwirkungen an Mensch und Tier bekannt (1, 2), die im Er- gebnis zeigen, wie unbestimmt und

(1) Litchfield, J. T.: Forecasting drug effects in man from studies in laboratory animals. JAMA 177 (1961) 104-108

(2) Schein, P. S., et al.: The evaluation of anti- cancer drugs in dogs and monkeys for the prediction of qualitative toxicities in man. Clin.

Pharmacol. Ther. 11 (1970) 3-40

Arzt und Gesellschaft

Abgesehen von vielen anderen Ge- sichtspunkten, die für diese Ände- rung sprechen und auf die hier im einzelnen nicht eingegangen wer- den kann, sei nur darauf hingewie- sen, daß es an eine Verletzung der Berufsfreiheit grenzt, wenn man jun- gen Menschen, die zwar nicht den Numerus clausus bonus (aus sehr vielen und unterschiedlichen Grün- den) geschafft haben, aber eine in- nere Berufung und Hingabe zum medizinischen Beruf verspüren, den Weg hierzu versperrt. Hierbei erhebt sich die Frage, ob eine Nation, die der Gesundheit einen so hohen Rang und Stellenwert einräumt wie die unsrige, auf längere Sicht eine derartige Entwicklung hinnehmen kann.

Bei der komplizierten, diffizilen, aber zugleich sehr komplexen Mate- rie sollte es zunächst weniger darum gehen, den anderen von der Richtig- keit der eigenen Meinung zu über- zeugen, als vielmehr zu erfahren, warum der Gesprächspartner ande- rer Auffassung ist. Ohne Voreinge- nommenheit sollten wir wach und geduldig die Argumente des ande- ren auf uns wirken lassen, sie ge- geneinander abwägen und dann in die Waagschale der eigenen Mei- nungsbildung werfen. Denn die so- kratische These: „Niemand von uns besitzt die volle Wahrheit" hat im- mer noch Gültigkeit. Vielleicht wird es dann möglich sein, ausgestattet mit einem bestimmten Wissen, mit Erfahrungen, mit Unvoreingenom- menheit und Aufgeschlossenheit im Gespräch der Wahrheit näherzu- kommen. Hierbei wird nicht das

„Entweder-Oder", sondern das

„Und" als Bindevokabel zu prakti- zieren sein.

Anschrift des Verfassers:

Professor

Dr. jur. Georg Wannagat Graf-Bernadotte-Platz 5 3500 Kassel-Wilhelmshöhe

Unordnung statt Neuordnung

Zu dem gleichnamigen Kommentar von Prof. Dr. med. Reinhard Aschenbrenner in Heft 25/1976, Seite 1655 (Untertitel: „Ein unzu- längliches Zulassungsverfahren für Arzneimittel") sowie zu dem Kommentar „Arzneimittelkommission — was sonst?" von Prof. Dr.

med. Walter Kreienberg in Heft 32/1976, Seite 2049

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