• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Medizinische Leitlinien: Entscheidungshilfen für Arzt und Patienten" (09.02.2001)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Medizinische Leitlinien: Entscheidungshilfen für Arzt und Patienten" (09.02.2001)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

P O L I T I K

A

A288 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 6½½9. Februar 2001

E

videnzbasierte medizinische Leitlini- en werden im Gesundheitswesen ei- nen höheren politischen Stellenwert erhalten. Schon beabsichtigen einige Protagonisten von Leitlinien bei den ge- setzlichen Krankenkassen, dieses Instru- ment einseitig für die Kostendämpfung und als ein Entscheidungs- und Aus- wahlkriterium für wissenschaftlich über- prüfte, zweckmäßige, wirtschaftliche und medizinisch indizierte Leistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung her- anzuziehen. Auch der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen entscheidet darüber, welche neu- en Untersuchungs- und Behand- lungsmethoden gemäß § 137 c SGB V den aktuellen EbM- und Leitlinienkriterien entsprechen.

Erstmals im Gesetz

Erstmals erhielten medizinische Leitlinien, die bisher in keinem Gesetz oder einer Verordnung enthalten waren, durch die GKV- Gesundheitsreform, die zum 1. Januar 2000 in Kraft trat, durch den neu gefassten § 137 e SGB V eine Legalfunktion und eine Ver- ankerung im Sozialgesetzbuch.

Denn nach § 137 e SGB V muss ein Koordinierungsausschuss ge- bildet werden, dem neben Ver- tretern der Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesell- schaft auch Repräsentanten der Bundesärztekammer, der Kas- senärztlichen und Kassenzahn- ärztlichen Bundesvereinigung an- gehören. Diesem ist aufgetra- gen worden, zusammen mit den Bundesausschüssen und im Zu- sammenspiel mit den Fachgesell-

schaften Kriterien für mindestens zehn evidenzbasierte medizinische Leitlinien pro Jahr zu entwerfen.

Unabhängig davon ist der Zentralstel- le für Qualitätssicherung die Aufgabe er- teilt worden, die inzwischen mehr als 1 300 in Deutschland entwickelten wis- senschaftlichen Leitlinien auf ihre Stim- migkeit, Praktikabilität, Umsetzbarkeit und ihren Patientenbezug zu überprüfen.

Mit den Instrumenten und Kriterien der evidenzbasierten Medizin und Leitlinien werden zum Teil widerstrebende Inter-

essen verfolgt, die die abweichenden In- terpretationen und die Meinungsvielfalt noch vergrößern. Während die Bundes- ärztekammer und die Arbeitsgemein- schaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften, unterstützt durch Wissenschaftler der Jurisprudenz, Wert darauf legen, dass medizinische Leitlini- en ausschließlich medizinisch-wissen- schaftlichen, überprüfbaren Kriterien folgen und den Stand der aktuellen Me- dizin repräsentieren, haben sowohl der AOK-Bundesverband als auch die Er- satzkassenverbände (VdAK und AEV) die Leitlinienfunktion in- sofern enger umrissen, als diese die Einbeziehung ökonomischer Resultate und Kosten-Nutzen- Überlegungen für unverzichtbar halten. Jedenfalls seien auch sol- che Kriterien neben medizini- schen Parametern bei der Leitli- nienanwendung einzubeziehen.

Auch gibt es inzwischen erste Rechtsstreite von Gutachter- und Schlichtungskommissionen bei den Ärztekammern, bei de- nen allgemeinmedizinisch rele- vante Leitlinien für die Beurtei- lung von Behandlungsfehlern („Kunstfehlern“) von Ärzten zum Nachteil der beteiligten Ärzte herangezogen wurden.

Aktive Beteiligung

Erst kürzlich hat der Münchener Arztrechtler Prof. Dr. jur. Dr.

Klaus Ulsenheimer auf dem Hin- tergrund des sich abzeichnenden Konfliktfeldes die Ärzteschaft aufgerufen, sich bei der Leitlinien- entwicklung aktiv zu beteiligen.

Die Ärzteschaft müsse hier ihren

Medizinische Leitlinien

Entscheidungshilfen für Arzt und Patienten

Juristen warnen davor, evidenzbasierte medizinische Leitlinien als Disziplinierungsinstrumente gegen die Ärzte einzusetzen.

Eine Leitlinie zum Thema „Brennen beim Wasserlassen“ hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin e.V. in einer Version für Ärzte und einer Version für Patienten im Januar 1999 veröffentlicht. Es ist geplant, diese Leitlinie erstmals im Jahr 2003 zu revidieren.

(2)

P O L I T I K

Sachverstand einbringen und die Mei- nungsführerschaft übernehmen, denn sie werde in erster Linie in ihrer Berufs- ausübung, ihrer beruflichen Unabhän- gigkeit und Freiberuflichkeit tangiert.

Leitlinien müssen denn auch mit Au- genmaß und gründlicher medizinischer Evidenz entwickelt werden – unter Berücksichtigung auch haftungsrechtli- cher Aspekte und der Rahmenbedin- gungen für die ärztliche Berufsaus- übung. Keinesfalls dürfen Leitlinien ausschließlich als Kostendämpfungs- und Disziplinierungsinstrumente in- strumentalisiert werden.

Orientierungsmarken

Nach herrschender Definition sind me- dizinische Leitlinien wichtige Entschei- dungshilfen für Arzt und Patienten, um eine individuelle, gute gesundheitliche Versorgung zu ermöglichen. Dieser Therapiestandard muss dem aktuellen Stand der Medizin entsprechen. Leitli- nien, die versorgungssystemunabhän- gig sind und sich keinen formalen Krite- rien der Systemfinanzie-

rung unterordnen lassen, konkretisieren so in einer Art Handlungsanleitung für den Arzt „Orientie- rungsmarken“ als bloße Handlungsempfehlungen und so genannte Behand- lungskorridore. Von die- sen muss der Arzt im kon- kreten Fall abweichen können; er muss abwei- chen, wenn dies das Krank- heitsgeschehen erfordert.

Allerdings darf sich kein Arzt der Illusion hingeben, er könne auch heute Medi- zin nach eigenem Gusto praktizieren und Leistun-

gen zulasten von Kostenträgern unbe- schränkt abrechnen, wenn er dabei aus- schließlich seinem Erfahrungs- und Kenntnisstand zur Zeit seiner Aus- und Weiterbildung von vor etwa 20 bis 30 Jahren folgt.

Ulsenheimer weist darauf hin: Stan- dard und Leitlinie sind keine sich wi- dersprechenden Gegensätze, sondern bedeuten für die Rechtsprechung in- haltlich und funktionell dasselbe, näm-

lich eine konkrete Ausfüllung und Er- gänzung der gesetzlichen Generalklau- sel, „die erforderliche Sorgfalt bei fach- gerechtem medizinischen Handeln“

walten zu lassen.

Es gibt eine allgemein anerkannte Hierarchie und systematische Abgren- zung zwischen Gesetzen, Verordnun- gen, Richtlinien, Leitlinien und Emp- fehlungen. Gesetze, Verordnungen und (offizielle) Richtlinien, die auf gesetzli- chen Grundlagen basieren, müssen be- achtet werden, Leitlinien sollen beach- tet und Empfehlungen können beachtet werden. Allerdings erhielten zum 1. Ja- nuar 2000 medizinische Leitlinien durch ihre Verankerung im SGB V ge- genüber der früheren Rechtslage einen mehr justiziablen, rechtsvollzugsver- bindlichen Stellenwert.

Infolge des rasch voranschreitenden medizinischen und technischen Fort- schritts und der raschen Erneuerung und Überholung des aktuellen Wissens- standes müssen Leitlinien ständig fach- gerecht angepasst und aktualisiert werden. Sie müssen mit einem relativ kurzfristigen, den Anwendern bekannt zu gebenden Verfalldatum versehen sein. Experten veranschlagen die Dauer der Gültigkeit von Leit- linien auf zwei Jahre;

schließlich wird im Durch- schnitt alle fünf Jahre das medizinische Wissen durch die neueren Ent- wicklungen überholt.

Richt- und Leitlinien bilden in der Praxis eine Richtschnur für den Re- gelfall, von der aufgrund der Gegebenheiten des Einzelfalles Abweichun- gen nicht nur zulässig sind, sondern auch unter Um- ständen sogar erforderlich sind. Insofern können Leit- und Richtli- nien eine Verlagerung der Entschei- dung von der individuellen auf die Kol- lektivebene darstellen. Allerdings müs- sen die Besonderheiten des jeweiligen Falles bei Schadenersatzprozessen und im Strafverfahren gegen den Arzt be- leuchtet werden, insbesondere auch die Eigenheiten und der Wille des Patien- ten, sich einer leitlinienbezogenen Me- dizin zu unterwerfen. Dem Patienten ist

es freigestellt, dem Arzt, der leitlini- engerecht handelt, zu widersprechen.

Leitlinien bilden, so das Urteil von Prof. Ulsenheimer, keinen absoluten, sondern lediglich einen relativen Maß- stab zur Bestimmung der Generalklau- sel der „berufsspezifischen Sorgfalt“.

Nicht rechtsnormierend

Leitlinien äußern im Regelfall daher keine unmittelbare rechtliche Wirk- samkeit. Sie sind zwar auf der Basis von § 137 SGB V zu entwickeln, stellen aber selbst kein unmittelbar wirken- des rechtsnormierendes Normengefüge dar. Medizinische Leitlinien rationali- sieren den Haftpflichtprozess insofern, als sie die Feststellung des allgemeinen medizinischen Standards einer ärzt- lichen Behandlung erleichtern, ihn aber nicht schematisieren. Arzthaf- tungsrechtlich haben sie eine Rationali- sierungsfunktion. Auf der Basis von Leitlinien kann der Sachverständige ein ärztlich-institutionelles Urteil und nicht nur ein individuell fundiertes Urteil abgeben.

Juristen wie Ärzte ebenso wie Ver- treter der medizinischen Wissenschaft mahnen: Leitlinien müssen mit Vernunft und Augenmaß entwickelt und konsen- sual angewandt werden. Leitlinien dür- fen nicht per se gegen den ärztlichen Sachverstand und die Einsicht und Ak- zeptanz der praktizierenden Ärzte ange- wandt werden. Auf dem Gebiet der me- dizinischen Leitlinien und der anwen- dungsbezogenen evidenzbasierten Me- dizin gilt, die gleiche Sensibilität zu be- achten wie auf dem weiten Feld der Qualitätssicherung in der Medizin.

Allemal verfehlen widersprüchliche und parallele, oftmals inoffizielle und nicht konsensual abgestimmte Richtli- nien und Leitlinien ihre Rationalisie- rungs- und Qualitätssicherungsfunkti- on. Sie können zu kostenträchtigen Fehlurteilen und Beurteilungsunsicher- heiten führen. Sie behindern den Arzt, die im Behandlungsvertrag geschuldete notwendige Sorgfaltspflicht und ein kunstgerechtes ärztliches Handeln ge- genüber den Patienten zu erbringen und dem Gebot zu folgen, dem Pati- enten durch die Behandlung nicht zu schaden. Dr. rer. pol. Harald Clade

A

A290 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 6½½9. Februar 2001

Prof. Dr. Dr. Klaus Ulsen- heimer: „Leit- und Richtli- nien haben für den Ab- weichler beziehungsweise Befolger weder stets haf- tungsbegründende noch stets haftungsbefreiende, entlastende Wirkung.“

Foto: privat

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Berücksichtigt man die praktischen Ärzte, die in den nächsten fünf bis acht Jahren altersbedingt aus dem Beruf ausscheiden werden, dürfte sich die Ausscheidequote auf 12

Doch ließen die Leit- linien „großen Spielraum für die in- haltliche Ausgestaltung der einzel- nen Therapiebausteine und damit für ein individuelles Zuschneiden

Leider wissen wir natür- lich auch nicht, welches eine Patentlösung für unser krän- kelndes Gesundheitswesen sein könnte, es schmerzt aller- dings schon, wenn die

E ine von Nature durchgeführte Unter- suchung hat ergeben, dass mindestens ein Drittel aller Autoren medizinischer Leitlinien finanzielle Beziehungen zu den Herstellern der

Dass weiterhin der medizinische Ge- richtssachverständige (7) von maßgeben- der Bedeutung im Arzthaftungsprozess auch bei Einbeziehung von Leitlinien der

Der künftige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (ab 1. Juli 2004), der außerdem Mit- glied in der AWMF sowie im Medizin- ausschuss des Wissenschaftsrates ist, wies

Sie ist zugleich Ansprechpartner für viele, die im Gesundheitswesen tätig sind: für niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten, für Vertreter von Selbsthilfeorganisationen, für

Dabei lassen sich heute zwei Ansätze unterscheiden: Der eine Ansatz basiert darauf, dass jede Empfehlung einer Leitlinie in einen vom Computer verarbeitbaren Algo-