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Archiv "Das medizinische Gutachten bei Arzt-Haftpflichtschäden" (29.07.1976)

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin ÜBERSICHTSAUFSATZ

Wenn der irreführende Begriff Kunstfehler nicht Beurteilungs- grundlage sein soll (Wachsmuth, Pribilla, Perret, F. F. König u. a.) ist die Frage offen, worauf der Gut- achter abstellen muß. Weil dazu bei allen Erörterungen und Diskus- sionen um den Begriff Kunstfehler in den letzten Jahren nicht immer ausreichend Stellung genommen wurde, soll zusammenfassend dazu berichtet werden. Diese Feststel- lungen sind nicht neu, sie waren schon immer gültig, nur sind sie nicht allgemein bekannt.

Die Haftpflicht des Arztes unter- liegt keiner besonderen gesetzli- chen Regelung gegenüber dem all- gemeinen Haftpflichtrecht des BGB.

Nach diesem Gesetz handelt fahr- lässig, wer die im Verkehr erforder- liche Sorgfalt außer acht läßt, zu der er nach den besonderen Um- ständen des Falles verpflichtet ist.

Gutachterlich ist also zu entschei- den, ob die im Verkehr erforderli- che Sorgfalt außer acht gelassen wurde.

Was darunter zu verstehen ist, fin- det sich in vielen höchstrichterli- chen Entscheidungen. Es ist auf die Sorgfalt des betreffenden Be- rufskreises abzustellen (BGH 29. 6.

1953), auf die Gewissenhaftigkeit des Durchschnittsarztes (Burme- ster), darauf, was der regelrechte und gesunde Verkehr unter Be- rücksichtigung der jeweiligen Ver- hältnisse erfordert (RGZ 119,400) und darauf, daß das „Erforderli- che" immer mehr ist als das „Übli- che" (Englisch). Das, was billiger- weise und vernünftigerweise von

einem pflichtgetreuen Durch- schnittstyp dieses betreffenden Le- benskreises zu verlangen ist und auch angewandt wird (Metzger, F.

F. König, Kohlhaas, Perret).

Zwischen einem Maximum an Sorgfalt, nur rückschauend erkenn- bar, in der Regel utopisch, und ei- ner Sorgfalt, die unter dem Durch- schnitt liegt, erstreckt sich der wei- te Bereich der im Verkehr erforder- lichen Sorgfalt. Was über dem Durchschnitt liegt, ist in einem al- ten Rechtssatz angesprochen: ultra posse nemo obligatur. Was unter dem Durchschnitt liegt, ist durch unzureichende Überlegung, Ver- wechslung von Befunden und Deu- tungen, Nicht-daran-Denken, Un- aufmerksamkeit, unangebrachte Sorglosigkeit und anderes mehr gekennzeichnet. Die Gewissenhaf- tigkeit eines Durchschnittsarztes bildet den Maßstab. Der Arzt kann sich also nicht darauf berufen, daß persönliche Unterschiede in der Geistes- und Erkenntniskraft zu be- rücksichtigen sind, auch geringere Erfahrung scheidet aus. Nur im Strafrecht ist strengste Individuali- sierung der speziellen, persönli- chen Voraussetzungen gegeben, dort ist ein subjektiver Maßstab anzulegen.

Der Gutachter soll im Prozeß Tat- sachen vermitteln, er ist nur Gehil- fe des Gerichts; das Gericht will spezielle Fragen beantwortet ha- ben, auf die dann die Entscheidung gestützt werden kann. Es will ei- nerseits von einer bestimmten Mei- nung überzeugt werden, sich ande- rerseits aber auch selbst eine eige- ne Meinung bilden können. Ob letztlich eine Außerachtlassung der

Immer wieder wird betont, daß der Begriff des Kunstfeh- lers nicht Beurteilungsgrund- lage in Arzthaftpflichtschä- den sein soll. Welche Kriteri- en der Arzt als Gutachter bei Arzthaftpflichtschäden be- achten muß, ist auf Grund langjähriger Erfahrung zu- sammengestellt. Dies sollte beachtet werden, weil nur dann der Richter entscheiden kann, ob eine Außerachtlas- sung der im Verkehr erfor- derlichen Sorgfalt, um die es allein geht, angenommen werden kann oder nicht.

im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, also Fahrlässigkeit, angenommen werden muß, ist eine allein vom Richter zu beurteilende Rechtsfra- ge (BGH, 22. 4. 1975). Die Entschei- dung liegt also nicht beim Gutach- ter, was irrtümlich angenommen wird; es gibt und soll keine Sach- verständigenjustiz geben. Die be- fragten Gutachter sind sich im Ein- zelfall nicht immer in der Beurtei- lung einig.

Das Gericht muß aber in der Sache entscheiden, es wird daher darauf abgestellt, daß „wenn Streit dar- über herrscht, welches Ausmaß von Sorgfalt zur Verhütung von Schäden notwendig ist, der Arzt im allgemeinen die größere Sorgfalts- pflicht zu beachten hat, wenn er nicht fahrlässig handeln will — denn der Kranke darf verlangen, daß der Arzt alle auch entfernten Schädigungsmöglichkeiten in die Erwägungen mit einbezieht und sein Verhalten danach richtet".

(BGHZ, 8, 138 ff.).

In ärztlichen Gutachten, teils auch in Gerichtsentscheidungen, ist zu- weilen darauf abgestellt, was in nachträglicher Betrachtung noch für erforderlich gehalten wird, nicht auf das, was vom ordentlichen Arzt sonst verlangt wird. Schließt man retrospektiv aus dem Schadenser- eignis auf das Maß der Sorgfalt, ist

Das medizinische Gutachten bei Arzt-Haftpflichtschäden

Wolfgang Perret

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 31 vom 29. Juli 1976 2033

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Arzt-Haftpflichtschäden

die Gefahr der Übersteigerung der Sorgfaltspflicht gegeben. Geht es mit der für erforderlich gehaltenen Sorgfalt immer gut, nur eben ein- mal nicht, dann ist die Gefahr ge- geben, daß Gutachter und Richter nunmehr im bisherigen Tun und Unterlassen des Arztes keine „er- forderliche" Sorgfalt mehr sehen, sondern nur mehr die „übliche". Es wird dann eine darüber hinaus- gehende erforderliche Sorgfalts- pflicht, die man als die nur erdenk- liche bezeichnen kann, unterstellt und Fahrlässigkeit angenommen.

Solche Unterstellungen zwingen zur Annahme, daß es eine doppelte Sorgfaltsanforderung gibt, eine theoretische und eine praktische.

Auf die Zwiespältigkeit solcher Be- trachtungen ist schon früher von Esser hingewiesen worden. Als Ju- rist warf er der Rechtsprechung vor, daß man sich vom echten Cul- paprinzip entfernt habe, indem man die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht nicht mehr vom normalen Standort aus betrachte, sondern vom Schadensfall ausgehe und die Haftung von der Notwen- digkeit des Erkannten aus beurtei- le.

Der medizinische Gutachter wird jedenfalls das richtige Ausmaß der im Einzelfall zur Diskussion stehen- den erforderlichen Sorgfalt bestim- men können, wenn er sich an die folgenden Leitsätze hält. Nach mei- ner langjährigen Erfahrung als Gut- achter wird er dadurch dem Rich- ter die Entscheidung erleichtern.

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Der Gutachter muß sich in die Lage des in Anspruch genomme- nen Arztes versetzen, in dessen spezielle Umwelt (des praktischen Arztes in der Stadt oder auf dem Lande, des Facharztes oder des Klinikarztes) und vor allem in den Zeitpunkt, zu dem der behauptete

„Fehler" begangen worden sein soll. Es ist oft schwer, die spätere Entwicklung mit den dabei gewon- nenen Erkenntnissen wegzuden- ken.

Bedeutungslos ist dabei, daß sehr oft die ursprüngliche Situation An-

laß zu einer ganzen Reihe von Möglichkeiten und Überlegungen gab, von denen der Behandler nach seinen persönlichen Erfah- rungen und seiner Auffassung nur eine einzige erwählen konnte.

e Die ärztliche Kunst ist und bleibt trotz erstaunlicher Fort- schritte von Technik und Wissen- schaft, trotz Intellekt und Intuition, nur eine Ars coniecturalis, eine Kunst, bei welcher man oft auf Ver- mutungen angewiesen ist.

O Möglichkeiten der ärztlichen Fortbildung sind Grenzen gesetzt.

Der Gutachter, der oft auf Grund seines überdurchschnittlichen Kön- nens und Wissens befragt wird, darf nicht voraussetzen, daß der Durchschnittsarzt in allem schon auf dem letzten Stand ist, die Auto- ren schon kennt, die vielleicht ein- mal warnend auf Gefahren, eine besondere differentialdiagnosti- sche Erwägung und anderes mehr hingewiesen haben. Die Zeitspan- ne, die zwischen maßgeblichen Veröffentlichungen über gesicher- te neue Erkenntnisse, neue For- derungen, neue Sicherungsmaß- nahmen, in neuen Lehr- und Hand- büchern und der Verbreitung die- ser Neuigkeiten in die Peripherie der medizinischen Fachpresse und von dort in Zeitschriften, die im allgemeinen der Durchschnitts- arzt nur lesen kann, gewöhnlich verstreicht, ist lang, sogar sehr lang.

O Weil es keine starren Regeln gibt und geben kann, werden Ex- perten über Einzelfragen und noch mehr über Grundsatzfragen, oft ge- teilter Meinung sein. Der Gutachter muß gegensätzliche, gültige, ver- schiedenartige Meinungen berück- sichtigen und darf nicht ohne be- sonderen Grund einer einzigen Meinung den Vorrang geben.

O Zu Fehlbeurteilungen kann es führen, wenn der Gutachter sich nicht mit der Hauptfrage be- faßt, welches Maß von Sorgfalt im Einzelfall vom Durchschnittsarzt verlangt werden muß, sondern sich in theoretischen, hypothetischen

Betrachtungen darüber verliert, wie man eine unerwünschte Komplika- tion vermeidet, was man alles tun könnte, damit dies oder jenes nicht eintritt — aber nicht bekennt, daß man selbst diese besonderen Maß- nahmen nicht anwendet, weil sie nicht üblich sind, deshalb auch nicht erforderlich sein können und tatsächlich sonst nirgends in An- wendung kommen. Der Richter kann in solchen Fällen leicht dazu neigen, das für erforderlich zu be- trachten, was sich in theoretischer Betrachtung zur Vermeidung von Komplikationen — vom grünen Tisch aus — ergeben hat.

Oberstes Gebot bleibt: der Gutach- ter sollte jedenfalls einen Kunstfeh- ler weder bejahen noch verneinen, sondern diesen Begriff absolut meiden. Schon die Verbindung der beiden Worte Kunst und Fehler ist unangebracht. Es ist keine beson- dere Kunst, Blutkonserven oder Me- dikamente nicht zu verwechseln, vielmehr handelt es sich bei einer solchen Verwechslung wie bei vie- len anderen um Nachlässigkeiten, die regelmäßig ohne besondere Kunst zu vermeiden sind (Dürwald- Hering).

Verbleiben große, metallene Ge- genstände nach Operationen in der Bauchhöhle, wird man kaum noch einen besonderen Zusam- menhang mit der Tätigkeit des Arz- tes annehmen können, sondern von einer Sorgfaltspflicht, welche jeder vorsichtige Mensch anzuwen- den pflegt, sprechen dürfen; die Handhabung liegt also weitgehend sogar außerhalb eines ärztlichen Kunstfehlers (BGH, 13. 12. 1951).

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Wolfgang Perret Arzt für Chirurgie

Königinstraße 61 8000 München 22

2034 Heft 31 vom 29. Juli 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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