• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Der ärztliche Kunstfehler und seine forensisch-medizinische Problematik" (24.10.1974)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Der ärztliche Kunstfehler und seine forensisch-medizinische Problematik" (24.10.1974)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

KOMPENDIUM

Wie in den USA, kann man auch in der Bundesrepublik Deutschland eine steigende Tendenz von Kla- gen wegen sogenannter ärztlicher Kunstfehler feststellen. Diese Ent- wicklung liegt im schwindenden Vertrauen zwischen Patient und Arzt begründet. Der moderne Mensch ist weniger geneigt, Krank- heit, Unglück und Schaden als schicksalsbedingte Ereignisse zu tragen. Außerdem ist die Einstel- lung des Patienten sicherlich durch die häufig sensationell aufgemach- te Berichterstattung unserer Mas- senmedien verändert worden. Seine Aufmerksamkeit wird immer wieder auf angebliche ärztliche Fehllei- stungen gelenkt, obwohl Verfahren, die wegen der Grundsätzlichkeit der arztrechtlichen Fragestellung bis zur höchstrichterlichen Ent- scheidung gelangen, seltener sind, als es den Anschein hat. Innerhalb von elf Jahren (1951 bis Ende 1961) konnten nur 192 Entscheidungen der zuständigen Zivilsenate des Bundesgerichtshofes auf dem Ge- biet der Arzthaftung zusammenge-

tragen werden. Auch Strafanzeigen wegen des Verdachtes eines soge- nannten ärztlichen Kunstfehlers, das heißt wegen einer Körperver- letzung oder gar einer fahrlässigen Tötung durch ärztliches Handeln oder Unterlassen sind im Vergleich zu der Zahl der täglich vorgenom- menen diagnostischen oder opera- tiven Eingriffe recht selten.

Der Begriff „Kunstfehler" ist in den einschlägigen Gesetzestexten nicht zu finden. Die Skala der Definitio- nen des Begriffs Kunstfehler reicht von einer abstrakten Benennung für ein medizinisch-fehlerhaftes Vorgehen bis zu der Ansicht, daß zum Kunstfehler auch ein Ver- schulden gehöre.

Wohl der erste Versuch einer exak- ten Begriffsbestimmung des ärztli- chen Kunstfehlers stammt von Ru- dolf Virchow: „Ein Verstoß gegen

*) Herrn Professor Dr. med. Wilhelm Doerr anläßlich seines 60. Geburtstages ge- widmet.

Kryochirurgie

auf diese Weise konnte die Unter- kieferresektion vermieden werden (Gage).

Komplikationen

Entsprechend dem besonderen pa- thobiologischen Verhalten des Ge- webes nach kryochirurgischer Be- handlung sind nennenswerte Kom- plikationen selten; beschrieben worden sind:

• Schmerzen während der Auftau- phase.

• Bei Mundbodenmalignomen ge- legentlich Blutungen während der ersten postoperativen Tage, die in der Regel aus der A. lingualis stammen. Auch wir haben eine sol- che Blutung beobachtet. Derartige Blutungen sind für die Kryotherapie nicht spezifisch; sie können sich bei tiefen Tumorkratern auch während einer Strahlentherapie oder zytosta- tischen Behandlung ergeben.

■ Nach ausgedehnten Vereisun- gen postoperativer Temperaturan- stieg, der unter Umständen 40 Grad Celsius erreichen kann.

■ Kieferklemme nach Einfrieren retromolarer Tumoren.

Hinzu kommt bei endoskopischen Eingriffen am Kehlkopf noch das bereits erwähnte Larynxödem, das bei Kindern zur Tracheotomie zwingen kann.

Literatur

Berendes, J.: Zur Tonsillitis lingualis.

Mschr. Ohrenheilk. 104 (1970) 71 — Gage, A.A.:Cryosurgery as Primary Treatment for Oral Cancer. Proc. Int. Congr. Cryosurg.

Vienna 1972, Verlag Wien, Med. Akad. 1972

— Ganz, H.: Grundlagen und Anwendung der kryochirurgischen Technik, mit beson- derer Berücksichtigung des HNO-Faches.

HNO (Berl.) 20 (1972) 191 — von Leden, H.:

Kryochirurgie bei Kopf- und Halstumoren.

Arch. klin. exper. Ohr.-, Nas.- u. Kehlk.- Heilk. 205 (1973) 84 — Miller, D.: Does Cryosurgery Have a Place in the Treatment of Papillomata or Carcinomata of the La- rynx? Ann. Otol. (St. Louis) 82 (1973) 656

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Horst Ganz 355 Marburg an der Lahn Universitätsstraße 34

Der ärztliche Kunstfehler und seine forensisch-medizinische Problematik

Otto Pribilla

Aus dem Institut für Rechtsmedizin

(Direktor: Professor Dr. med. Dipl.-Chem. Otto Pribilla) der Medizinischen Hochschule Lübeck*)

Der Begriff „Kunstfehler" ist in den einschlägigen Gesetzestexten nicht zu finden. Mit ihm wird zunächst nur ein Sachverhalt bezeich- net. Heute wird im allgemeinen unter einem ärztlichen Kunstfehler ein Verstoß gegen anerkannte Regeln der ärztlichen Wissenschaft verstanden. Ein derartiger Verstoß braucht noch keine Verletzung der Sorgfaltspflicht zu sein. Nach einer Entscheidung des Reichs- gerichts ist „nicht jeder Kunstfehler ein Verschulden und nicht je- des Verschulden ein Kunstfehler."

3078 Heft 43 vom 24. Oktober 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(2)

",===

ZZ=

fcllrlq¢4 Amor.

fxmü biea.

Der Trend:

Mehr Prozesse , unstfehler..

Irnere teMenteiquiw.

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Kunstfehler

die allgemein anerkannten Regeln der Heilkunst infolge eines Man- gels an gehöriger Aufmerksamkeit oder Vorsicht". Auch in dieser De- finition ist bereits eine subjektive Verschuldenskomponente einge- schlossen. Heute tendiert man im- mer mehr dazu, unter einem ärztli- chen Kunstfehler „einen Verstoß gegen anerkannte Regeln der ärzt- lichen Wissenschaft" zu verstehen, der zunächst völlig wertfrei ver- wendet werden muß; an dem Ter- minus technicus „Kunstfehler" muß festgehalten werden. Selbstver- ständlich gibt es auch Verstöße ge- gen die Kunstregeln im definierten Sinne, die keine Verletzungen der Sorgfaltspflicht sind. Im Einzelfall kann der Arzt nach gründlicher ra- tionaler Prüfung von anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft abweichen, unterliegt aber dann der erhöhten Sorgfaltspflicht.

Bezeichnung eines Sachverhalts Als „Kunstfehler" wird lediglich die Tatbestandsmäßigkeit eines Han- delns oder Unterlassens des Arztes bezeichnet, die auch zu einem Er- folg geführt haben muß. Die Fest- stellung, daß ein Kunstfehler vorlie- ge, ist zunächst noch kein juristi- sches Werturteil, sondern lediglich die Bezeichnung für einen Sach- verhalt. Hier sei an die alte Ent- scheidung des Reichsgerichts erin- nert, „nicht jeder Kunstfehler ist ein Verschulden, und nicht jedes Verschulden ist ein Kunstfehler".

Zur Bejahung eines Verstoßes ge- gen die Regeln der ärztlichen Kunst bedarf es nun in der straf- rechtlichen und zivilrechtlichen Praxis grundsätzlich der gleichen Kriterien. Zur Analyse des Tatbe- standes ist davon auszugehen, daß der Arzt bei der Ausübung seiner Tätigkeit zur Sorgfalt verpflichtet ist. Er hat sich also so zu verhal- ten, daß der Patient nicht oder zu- mindest nicht mehr Schaden erlei- det, als es nach den Umständen unvermeidbar ist. Gegen diese all- gemeine Sorgfalts- beziehungswei- se Erfolgsabwendungspflicht kann grundsätzlich auf zweierlei Weise verstoßen werden:

O Der Arzt ergreift positiv fal- sche Maßnahmen, wie zum Bei- spiel Verwechslung von Medika- menten, oder er führt wegen Fehl- diagnose einen nicht indizierten Eingriff aus.

e Der Arzt unterläßt die notwendi- gen Maßnahmen, wie den Besuch beim Patienten, um sich unmittel- bar über Art und Schwere der Krankheit zu vergewissern. Er führt beispielsweise eine sachlich gebo- tene Tetanusprophylaxe nicht durch.

Dabei ist selbst die fehlerhafteste Diagnose oder die falscheste Be- handlung irrelevant, wenn alles gut ausgeht. Auch wenn die fehlerhafte ärztliche Handlung Folgen hatte, braucht nicht unbedingt ein schuldhafter Verstoß contra legem artis vorzuliegen. Schon das Reichsgericht hat am 1. März 1912 hervorgehoben, daß kein Mensch mit der Sicherheit einer Maschine arbeitet und trotz aller Fähigkeit und Sorgfalt ein Griff, ein Schnitt mißlingen kann, der sonst regelmäßig gelungen ist.

Schon bei der Frage, ob der Arzt in concreto contra legem artis versto- ßen hat, gerät man häufig in Schwie- rigkeiten. Es ist herrschende Spruchpraxis, daß keine Kunstregel unbedingt verpflichtet, sondern Me- thodenfreiheit besteht. Der Richter würde auch mit der Entscheidung über die „objektive Richtigkeit" der einen oder anderen Meinung (Me- thodenstreit) überfordert sein.

Einschränkungen gelten für die Fälle, in denen (wie etwa bei der Behandlung von Geschlechts- krankheiten) einem besonderen Gesetz zufolge nach den Grundsät- zen der wissenschaftlichen Er- kenntnis zu verfahren ist.

Medizinische Wertung

Bei der medizinischen Wertung, was in concreto der Lex artis ent- sprochen hat, kommt man eben- falls häufig in einen Beweisnot- stand, da es, überspitzt formuliert, eine normativ-kodifizierte Lex artis im Grunde genommen nicht gibt.

Der Arzt muß die Wirksamkeit des jeweiligen Verfahrens, das er an- wenden will, mit den Möglichkeiten derjenigen Methoden vergleichen, welche die Wissenschaft vor- schreibt. Selbstverständlich darf er ein allgemein anerkanntes Mittel dann nicht anwenden, wenn er aus rationalen Überlegungen für den Patienten eine Schädigung be- fürchten muß (zum Beispiel bei

Überempfindlichkeit gegen tieri- sches Eiweiß). Man sollte sich also davor hüten, in der Rechtspre- chung ausschließlich auf den Be- griff der Schulmedizin abzustellen, der ohnehin durch die Polemik der letzten Jahre immer mehr in Miß- kredit gerät.

Eingeschränkt wird die weitgehen- de Methodenfreiheit des Arztes da- durch, daß er, bei einer bestimm- ten Krankheit, gegen die ein be- stimmtes Heilmittel gegenüber an- deren weit überlegen ist, dieses auch anwenden muß. Will ein Arzt von einer bewährten Methode ab- weichen, müssen die Gründe dafür rational einsehbar und nachprüfbar sein, so daß sie auch ein Beurtei- ler, den sie nicht überzeugen, ernst nehmen kann. Die Beziehung der ärztlichen Sorgfaltspflicht auf die

„Kenntnisse eines gewissenhaften Durchschnittsarztes" führt auch zu der in der Berufsordnung fixierten Fortbildungspflicht.

Hat sich nach den geltenden Kunst- regeln ein Verstoß contra legem artis ergeben, ist für die straf- und zivilrechtliche Haftungsbegründung

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 43 vom 24. Oktober 1974 3079

(3)

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Kunstfehler

der Kausalitätsnexus zu prüfen. Die objektive Fehlerhaftigkeit muß zu dem Gesundheitsschaden oder dem Tod des Patienten geführt ha- ben. Strafrechtlich entfällt bei nachträglicher Analyse oft der Tat- bestand einer Kausalverknüpfung.

Praktisches Beispiel: Ein Zahnarzt hatte einer Patientin vier Zähne ex- trahiert; es soll ein weiterer Zahn gezogen werden. Bei Anlage einer Lokalanästhesie, die von der Pa- tientin früher gut vertragen wurde, verstirbt sie, noch bevor weitere zahnärztliche Maßnahmen ergriffen worden waren. Die Obduktion deckte eine Hirnmassenblutung auf der Grundlage eines Hochdrucklei- dens auf. Es handelte sich also um eine rein zeitliche Koinzidenz.

Kausalitätsprüfung

Noch schwieriger ist die Kausali- tätsprüfung, wenn der Kunstfehler des Arztes in der Unterlassung ei- ner an sich gebotenen Maßnahme bestanden hat, wie etwa bei einer nicht oder zu spät vorgenommenen Einweisung in das Krankenhaus.

Die dann von den Ermittlungsbe- hörden an den Gutachter gestellte Frage, ob der Patient bei rechtzei- tiger Krankenhauseinweisung hätte gerettet werden können, ist häufig nicht zu beantworten.

Beispiel: Patient mit einer Harnröh- renstriktur bekam nach den bei den Harnverhaltungen notwendig werdenden Aufdehnungen der Harnröhre stets einen leichten In- fekt mit Fieberanstieg. Beim letzten dieser Zwischenfälle gab der Arzt der in der Praxis vorsprechenden Ehefrau ein geeignetes Medika- ment mit. Im Verlauf der Abend- stunden kam es zu bakteriell be- dingten Nebennierenblutungen, die am nächsten Tag nach verzögerter Krankenhauseinweisung zum Tod führten. In solchen und ähnlichen Fällen wird man sagen müssen, daß bei der besonderen Art und Schwere des Krankheitsbildes auch eine frühere Einweisung den tödlichen Ausgang nicht verhindert hätte.

Verschuldungsprinzip

In das Verschuldungsprinzip im Rahmen der Kunstfehlerproblema- tik gehen die Begriffe „Vorsatz"

und „Fahrlässigkeit" - ebenso ein, wie der Begriff „der im Verkehr er- forderlichen Sorgfalt", die außer acht gelassen wurde. In diesem Zusammenhang ist der allgemeine Fahrlässigkeitsbegriff weiter durch die Rechtsprechung auf den Arzt konkretisiert worden. Nach einer Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1931 wird der Fahr- lässigkeitsvorwurf gegen den Arzt damit begründet, daß er in pflicht- widriger Weise nicht vorhergese- hen hat, daß sein Verhalten den Patienten schädigen werde, wobei im Gegensatz zur zivilrechtlichen Fahrlässigkeit nicht der objektive Maßstab anzusetzen ist, sondern auch die persönlichen Verhältnisse des Handelnden bei der Verurtei- lung zu berücksichtigen sind.

Problematisch sind Ausführungen des Bundesgerichtshofs (St 391 ff), nach denen Mängel der ärztlichen Ausbildung, schlechte Vorbildung und fehlende Erfahrung unter Um- ständen ärztliche Kunstfehler ent- schuldigen können. Pflichtwidrig ist ein Voraussichtsmangel aber nur, wenn sich der Arzt über Fol- gen und Wirkungen seiner gesetz- ten oder unterlassenen Maßnah- men kein der Wirklichkeit entspre- chendes Vorstellungsbild gemacht hat.

Eindeutige Voraussichtsgebote gibt es nur bei wenigen Krankhei- ten oder operativen Verfahren. An- dererseits ist dem Arzt die Irrtums- wahrscheinlichkeit und das Recht, Fehler zu machen, ohne daß sich daraus unmittelbar ein Haftungsan- spruch ergibt, in der alten Ent- scheidung des Reichsgerichts (RG 78, 432) zugestanden worden, so- fern sein Verhalten nicht gegen die Sorgfaltspflicht verstieß. Wo Sorg- falt geherrscht hat, ist keine Schuld.

Bei dem Umfang der Sorgfalts- pflicht kommt es nicht auf die übli- che, sondern auf die in concreto

erforderliche Sorgfalt an. Dies gilt auch für die Überwachung der Heilhilfspersonen. Der Arzt darf sich nicht blind auf die Sachkunde und Zuverlässigkeit der Betreffen- den verlassen, sondern nur nach Maßgabe der von ihnen erworbe- nen Geschicklichkeit und Erfah- rung.

Vorhersehbarkeit des „Erfolgs"

Der wohl problematischste und in der Rechtsprechung unterschied- lich ausgelegte Teil der juristi- schen Nachprüfung ist bei einem Kunstfehler die sogenannte Vor- hersehbarkeit des „Erfolgs". Fahr- lässigkeit liegt nur dann vor, wenn der „Täter" bei pflichtgemäßer Auf- merksamkeit den Schaden als Fol- ge seines Verhaltens hätte vorher- sehen sollen, aber nicht vorherge- sehen hat. Bei der Beurteilung der Situation sind auch die äußeren Umstände, warum gehandelt wurde oder eine Handlung unterblieb, zu berücksichtigen. Eine derartige Prüfung hat immer ex ante und nicht ex post zu erfolgen. Dies gilt ebenso für die Stellungnahme der Sachverständigen wie für die Ent- scheidung des Richters. Man hüte sich in diesem Zusammenhang vor Idealforderungen. Nachträglich aus Obduktionsbefunden erkennbar ge- wordene besondere Umstände des Einzelfalles und die Berücksichti- gung des neuesten Standes der kli- nischen Medizin dürfen nie dazu verleiten, ex post zu werten.

Sachverständige

Sachverständige sollten über die Grundlagen der komplexen juristi- schen Beziehungen und Denkwei- sen orientiert sein, da nur dann Verständigungsschwierigkeiten zwi- schen Ärzten und Juristen ver- mieden werden. Leider wird die Bereitschaft zur Erstattung derarti- ger Gutachten nicht zuletzt durch die oft tendenziöse Beschäftigung der Massenmedien mit den anste- henden Fällen immer geringer. Der Sachverständige sollte stets in der Lage sein, auch die Berufsnöte

3080 Heft 43 vom 24. Oktober 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(4)

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Kunstfehler

etwa eines weit außerhalb optima- ler technischer Möglichkeiten ar- beitenden Landpraktikers zu be- rücksichtigen.

Haftung des Arztes

Bei der Prüfung der Schuldfrage wird im Strafrecht mehr ein subjek- tiver Maßstab angelegt. Demgegen- über wiegt die zivilrechtliche Haf- tung für den betroffenen Arzt unter Umständen sehr viel schwerer.

Nach neuerer Rechtsprechung kann die Beweislast in Arzthaft- pflichtprozessen zu Lasten der Ärz- te umgekehrt werden (BGH vom 11. Juni 1968). Es scheint sich die Tendenz abzuzeichnen, daß ver- sucht wird, die notorischen Schwierigkeiten des Kausalitätsbe- weises in stärkerem Maße zu La- sten des Schädigers gehen zu las- sen.

Analyse von Kunstfehlervorwürfen Einer Studie von 114 Fällen, bei de- nen ein sogenannter Kunstfehler- vorwurf bestand, liegen 56 eigene Fälle aus den Jahren 1960 bis 1970 und 58 aus der Gutachtertätigkeit des Vaters meines Mitarbeiters Herrn Professor von Brandis in Aachen zugrunde.

Von den 56 eigenen Fällen wurden 51 unter Hinweis auf das gerichts- medizinische Gutachten einge- stellt, nur in drei Fällen kam es zu einer Verurteilung des Beschuldig- ten; zwei Fälle waren nach den Ak- ten noch nicht entschieden.

Der Ausgang der 58 zivilrechtli- chen Ansprüche sah dagegen fol- gendermaßen aus: 20mal lehnte die Versicherung einen Anspruch auf Schadensersatz erfolgreich ab, 23mal kam ein außergerichtlicher Vergleich zustande, wobei die zu zahlenden Summen zwischen 1 500,— und 100 000,— Mark lagen.

Neunmal ließ es die Versicherung auf eine gerichtliche Auseinander- setzung ankommen, dabei kam es zu fünf Klageabweisungen und zu einem gerichtlichen Vergleich über 7 500,— Mark, drei Verfahren die- ser Gruppe waren in der Beweis-

aufnahme, sechs Fälle noch offen.

47mal war der betroffene Patient selbst der Anzeigende beziehungs- weise Anspruchsteller, davon zwei- mal in Strafverfahren; 45mal wur- den die Ansprüche an die Versi- cherung gestellt. Aus dem Ver- wandten- und Bekanntenkreis ka- men 52 Anzeigen (strafrechtlich 39, zivilrechtlich 13). Nur in 13 Fällen wurden die Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft aufgenommen;

eine Anzeige erfolgte anonym, bei einer weiteren war der Anzeigenur- sprung nicht feststellbar.

Um festzustellen, ob der Patient des Jahres 1970 in seinen Erwar- tungen an die ärztliche Leistungs- fähigkeit zu anspruchsvoll gewor- den beziehungsweise zu sehr dem Einfluß sensationell aufgemachter Berichte der Massenmedien erle- gen ist oder ob die vermehrten Kunstfehlervorwürfe auf veränder- tem ärztlichen Handeln beruhen, haben wir die Vorwürfe aufgeglie- dert, und zwar in

• absolut unberechtigte Klagen

• scheinbar verständliche Klagen

■ berechtigte Klagen.

Grundlage für diese Einteilung wa- ren die ärztlichen Gutachten.

Absolut unberechtigt waren 47 Kla- gen, scheinbar verständlich 35 und berechtigt 32. Soweit sich hieraus eine Tendenz ableiten läßt, dürfte der wesentliche Faktor in der grö- ßeren Klagebereitschaft der Pa- tienten liegen. Der nicht unbe- trächtliche Anteil ärztlicher Fehllei- stungen darf aber als Auslöser für die 32 berechtigten Klagen nicht übersehen werden.

Typische Beispiele

Absolut unberechtigt war der Kunstfehlervorwurf bei folgendem Fall: Ein 63jähriger Rechtsanwalt hatte eine Prostatahypertrophie. Es erfolgte eine Elektroresektion, eine Nachblutung machte eine Nach- operation notwendig. Hierbei kam es zu einem plötzlichen tödlichen Kreislaufversagen. Der Sozius des

Patienten erstattete eine Anzeige wegen fahrlässiger Tötung. Die Ob- duktion ergab einen stummen Herzmuskelinfarkt. Die Operation war lege artis durchgeführt, Ein- stellung des Verfahrens.

Unter die scheinbar verständli- chen Kunstfehlervorwürfe ist der nächste Fall einzuordnen. Eine 26jährige Hausfrau wollte von ei- nem praktischen Arzt Ovulations- hemmer verordnet haben. Dieser verschrieb statt dessen irrtümlich Progynon 21, also ein Östro- gen-Präparat. Nach komplikations- loser Schwangerschaft Geburt ei- nes gesunden Mädchens. Darauf- hin Schadensersatzansprüche ge- gen den Arzt. Erst das medizini- sche Gutachten deckte auf, daß der Konzeptionstermin zwei Mona- te später lag, als von der Patientin angegeben. Das heißt, das falsche Medikament wurde zu diesem Zeit- punkt überhaupt nicht genommen.

Es lag zwar ein objektiver Fehler des Arztes vor, der aber ohne Be- deutung für den Haftungsanspruch war. Daraufhin lehnte die Versiche- rung die Forderung ab.

Aus der letzten Gruppe der berech- tigten Vorwürfe sei der nächste mitgeteilt: Eine 24jährige Patientin litt seit vielen Jahren an einer erb- sengroßen Warze am Fuß. Es er- folgte eine Bestrahlung mit einem Nahstrahlgerät und einer Oberflä- chendosis von 6500 R. Es entstand ein Strahlenulkus, das einer mona- telangen Behandlung bedurfte. Der Gutachter kam zu der Auffassung, daß es sich zwar um ein übliches Verfahren handelte, bei dem je- doch nicht genügend auf Strahlen- schutz geachtet worden war, so daß ein fahrlässiges Verhalten des Arztes nicht auszuschließen ist. Die Versicherungsgesellschaft zahlte 120 000,— Mark als Ausgleich.

Literatur

Brandis, C. v., Pribilla, 0.: Arzt und Kunst- fehlervorwurf. Wissenschaftliches Taschen- buch; Goldmann-Verlag, 1973.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med.

Dipl.-Chem. Otto Pribilla

24 Lübeck 1, Ratzeburger Allee 160

DEUTSCHES ÄRZTE BLATT Heft 43 vom 24. Oktober 1974

3081

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Im Winter fällt das absolute Maximum zwischen 10“ und 1111 des Vormittags, das Minimum nahezu auf Mitternacht: das relative Maximum auf 4" des Morgens und 8h des Abends7 und

Im Klartext heißt r = 0,6, daß die besten Tests nur 36 Prozent der Kri- teriumsvarianz erklären können, während 64 Prozent der Unterschie- de im Studienerfolg durch

Was wird aus den Patienten? Fakt ist, dass die staatlichen Health Cen- ters und Krankenhäuser personell und technisch schlecht ausgestattet sind und keinen guten Ruf

Im Teil C (ab S.211) wird noch auf Architektur eingegangen, doch geht es eigentlich mehr um handfeste Stadtgeschichte (Frankfurt) als um Kunst. 211), in der Fotos von

Thomas bezieht sich auf den Jahresbericht der Gutachter- kommission für ärztliche Haftpflicht- fragen bei der Ärztekammer in Mün- ster, der für 1994 insgesamt 1 111 Be-

Das Amtsgericht sah es als erwiesen an, dass der Angeklagte am 04.04.2018 gegen 05:42 Uhr beim Abbiegen von der Bürgermeister-Smidt-Straße in die Hutfil- terstraße die mit

Doch auch eine andere Deutung dieser „Such- aktion" ist möglich: die nämlich, daß Patient und Arzt, trotz drohender Ärzteschwemme, trotz der permanenten Kostendämp- fung,

Er kann aber nur ge- staltet werden, wenn die Me- dizin sich mit diesen Zielen identifiziert und die medizini- sche Informatik aufnimmt in ihren Wissenschafts- und Lehrbereich,