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Archiv "Zertifizierte Medizinische Fortbildung: Die ärztliche Schweigepflicht" (04.02.2005)

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B

ereits in der Antike wurde die ärztliche Schweigepflicht im Eid des Hippokra- tes aufgeführt und kann als Vorläufer moderner gesetzlicher Regelungen ge- wertet werden (Kasten 1). Eine effiziente medizinische Behandlung bedarf konkreter höchstpersönlicher Informationen über den Patienten (8), die gerade auch im Vertrauen in die Verschwiegenheit des Arztes erteilt werden. Die ärztliche Schweigepflicht ist in unterschiedlichen bundes- und landesrechtlichen Vorschriften normiert und wird als eine der höchsten Berufs- und Standespflichten des Arztes ge- wertet. Zahlreiche Fallkonstellationen führen zu Konflikten zwischen der Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht und dem Informationsbedürfnis Dritter oder von Behörden sowie Gerichten über den Gesundheitszustand und sonstige Verhältnisse des Patienten. In den letzten Jahren haben vereinzelte Gerichtsentscheidungen (zum Beispiel OLG Frankfurt 2000 MedR 196), insbesondere zur Mitteilungspflicht einer HIV-Infektion an den Lebenspartner des Patienten, zu Unklarheiten geführt, die nicht nur in der medizinischen Literatur auf Kritik gestoßen sind (10).

Zusammenfassung

In zahlreichen Vorschriften ist die ärztliche Schweigepflicht als wesentliche Säule im Arzt-Patien- ten-Vertrauensverhältnis und zum Schutz der Privat- sowie Intimsphäre des Patienten normiert.

Verstöße gegen diese Regelungen können straf-, zivil-, standes- und arbeitsrechtlich geahndet werden. Die ärztliche Schweigepflicht ist jedoch nicht schrankenlos zu beachten. Offenbarungs- rechte und -pflichten regeln (sanktionslose) Brüche der ärztlichen Schweigepflicht. Neben der Ent- bindung von der Geheimhaltung durch den Patienten stellen Rechtfertigungsgründe zum Schutz höherwertiger Rechtsgüter oder Offenbarungspflichten zur Gefahrenabwehr im öffentlichen In- teresse sowie ordnungsgemäßen Information Dritter im Anwendungsbereich der Sozialgesetzge- bung wichtige Durchbrechungen der grundsätzlichen ärztlichen Schweigepflicht dar. Prozessual kann sich der Arzt hingegen gegenüber staatlichen Stellen auf Auskunfts- und Zeugnisverweige- rungsrechte berufen, um die Geheimnisse des Patienten vor staatlichem Zugriff zu schützen.

Schlüsselwörter: Ärztliche Schweigepflicht, Bruch der ärztlichen Schweigepflicht, Offenbarungs- rechte, Offenbarungspflichten, Zeugnisverweigerungsrecht

Summary

Physician’s Duty to Maintain Confidentiality

The duty of the physician to maintain medical confidentiality, as a mainstay of the relationship between physician and patient and for the protection of the privacy of the patient, is regulated by various norms. Violations of these regulations can be punished according to criminal, civil and labour law as well as through codes of professional behaviour. Nevertheless, medical confiden- tiality is not be heeded in all cases. Rights and duties of disclosure regulate breaches (without sanction) of medical confidentiality. The patient may release the physician from the obligation to maintain secrecy. In addition, breaches of the physician’s basic duty to maintain medical confiden- tiality are also justified by legal objectives which deserve legal protection for the greater good or by the duty of disclosure in order to protect the public interest as well as the duty to provide information in due form for third persons within the applicability of social legislation. Procedurally, on the other hand, the physician can cite the right to refuse to give information or to bear witness in order to protect the patient from action of the state.

Key words: medical confidentiality, breach of medical confidentiality, rights of disclosure, duties of disclosure, right of refusal to bear witness

1Zentrum der Rechtsmedizin (Direktor: Prof. Dr. med.

Hansjürgen Bratzke) der Johann-Wolfgang-Goethe-Uni- versität, Frankfurt am Main

2Rechtsanwaltskanzlei Dr. med. Parzeller, Obertshausen

3Institut für Rechtsmedizin (Direktor: Prof. Dr. med. Mar- kus A. Rothschild) der Universität zu Köln

Punkte cme

Dieser Beitrag wurde von der Nordrheinischen

3

Akademie für ärztliche Fort- und Weiterbildung zertifiziert.

Eine Teilnahme an der zertifizierten medizinischen Fortbildung im Deutschen Ärzteblatt ist nur im In- ternet möglich, unter der Adresse:

www.aerzteblatt.de/cme

Ein Glossar der verwendeten juristischen Abkür- zungen befindet sich auf der fünften Seite dieses Beitrags.

Eid des Hippokrates (um 460 bis um 370 v. Chr.): Ärztliche Schweigepflicht als „Heilige Pflicht“. Der Eid hat keine rechtliche Bindungswirkung.

Aus dem Eid des Hippokrates

„ […] Was immer ich sehe und höre, bei der Be- handlung oder außerhalb der Behandlung, im Le- ben der Menschen, so werde ich von dem, was niemals nach draußen ausgeplaudert werden soll, schweigen, indem ich alles Derartige als sol- ches betrachte, das nicht ausgesprochen werden darf. […]“

Kasten 1

Zertifizierte Medizinische Fortbildung

Die ärztliche

Schweigepflicht

Markus Parzeller1, 2, Maren Wenk1, Markus A. Rothschild3

(2)

Rechtliche Grundlagen zur ärztlichen Schweigepflicht

Aus dem Grundgesetz lässt sich zunächst im Verhältnis Staat gegenüber dem Bürger das Recht jedes einzelnen Individuums auf Respektierung und Achtung der Privat- und Intimsphäre sowie auf informationelle Selbstbestimmung ablei- ten (Art. 1 I in Verbindung mit Art. 2 I GG). Das Bundesverfassungsgericht weist ausdrücklich auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient im Rah- men der ärztlichen Behandlung hin, das durch die ärztliche Schweigepflicht we- sentlich mitgeprägt wird (BVerfG 1972; NJW 1123). Dabei führt das Bundesver- fassungsgericht aus, dass der Patient erwarten darf und muss, dass Informationen über ihn geheim bleiben und nicht zur Kenntnis Unbefugter gelangen. Die wich- tigsten rechtlichen Bestimmungen sind nachfolgend aufgeführt.

Ärztliche Schweigepflicht im Strafrecht (3, 6, 8, 14, 15)

Durch §§ 203 ff. StGB (Kasten 2) werden neben der Verletzung von Privatge- heimnissen zum Schutz der Individual- und Geheimnissphäre als unmittelbar geschützten Rechtsgütern auch das Allgemeininteresse in das Vertrauen auf die Verschwiegenheit des Arztes als mittelbar geschütztes Rechtsgut umschrieben.

Täter dieses strafrechtlichen Sonderdelikts können der Arzt, Zahnarzt, Apothe- ker und andere aber auch deren berufsmäßig tätige Gehilfen (Krankenpflege- personal, Arzthelfer) sowie zur Vorbereitung auf den Beruf Tätige sein. Heil- praktiker gehören demnach nicht zum schweigepflichtigen Personenkreis. Der weit auszulegende Begriff des zu schützenden Geheimnisses umfasst Tatsachen, die nur einem einzelnen oder einem beschränkbaren Personenkreis bekannt oder zugänglich sind und dem Arzt in einem berufsspezifischen, inneren Zusam- menhang bekannt geworden sind.

Die Spannbreite der geheimzuhaltenden Tatsachen ist weit (Kasten 3) und reicht von der Tatsache, dass sich der Betroffene überhaupt in ärztlicher Be- handlung befindet bis zu Drittgeheimnissen. Ein Rechtsverstoß kann beim Of- fenbaren gegenüber einem Dritten, der nicht in das Arzt-Patienten-Verhältnis involviert ist, oder beim Verwerten eines solchen Geheimnisses vorliegen. Of- fenbart ist ein solches Geheimnis, wenn es an einen Dritten weitergegeben wur- de, der keine sichere Kenntnis davon hatte oder dem diese geheime Tatsache verborgen war. Eine Gewinnerzielung des im Geheimnis liegenden Wertes zum eigenen oder auch fremden Vorteil in Bereicherungsabsicht kann als strafrecht- lich zu sanktionierendes Verwerten beurteilt werden. Die Tathandlung des Of- fenbarens oder Verwertens muss zudem unbefugt, das heißt ohne Zustimmung des betroffenen Patienten oder ohne einschlägige gesetzliche Rechtfertigung zum Bruch der ärztlichen Schweigepflicht, erfolgt sein.

Das Strafmaß des ausschließlich mit mindest bedingtem Vorsatz begehbaren Delikts (keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit) sieht im Grundtatbestand eine Geld- strafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr vor (§ 203 Abs. 1 StGB).

Ärztliche Schweigepflicht im Berufsrecht (7, 11, 13)

Die (Muster-)Berufsordnung der Bundesärztekammer (MBO) normiert die ärzt- liche Schweigepflicht in § 9 (Kasten 4). Die Landesärztekammern haben die ärztliche Schweigepflicht in den jeweiligen landesspezifischen Standes- und Be- rufsordnungen verankert. Rechtsverbindlich ist für den Arzt die aktuelle Rege- lung der landesspezifischen Berufsordnung (Bundesland seiner Berufsausü- bung), die im Wortlaut der MBO entsprechend aber auch abweichen kann.

Die ärztliche Schweigepflicht ist berufsrechtlich weiter geregelt als im Straf- recht und umfasst alles, was dem Arzt anvertraut oder sonst bekannt worden ist.

Der § 203 StGB kann jedoch als Auslegungskriterium herangezogen werden.

Verletzungen der ärztlichen Schweigepflicht können eine berufsunwürdige

§ 203 StGB: Verletzung von Privatgeheimnissen

I. Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, nament- lich ein zum persönlichen Lebensbereich gehören- des Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäfts- geheimnis, offenbart, das ihm als

1. Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Apotheker oder An- gehörigen eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbe- zeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung er- fordert, [...] anvertraut worden oder sonst be- kanntgeworden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft [...].

VI. Die Absätze 1 bis 3 sind auch anzuwenden, wenn der Täter das fremde Geheimnis nach dem Tod des Betroffenen unbefugt offenbart.

V. Handelt der Täter gegen Entgelt, oder in der Ab- sicht, sich oder einen anderen zu bereichern oder einen anderen zu schädigen, so ist die Strafe Frei- heitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe.

Kasten 2

Wesentlicher Umfang und Reichweite der ärztlichen Schweigepflicht über Patienten- geheimnisse (beispielhafte Auflistung):

Behandlungsbezogene Tatsachen

– Anbahnung des Behandlungsverhältnisses – Identität des Patienten

– Tatsache der Behandlung – Anamnese

– Diagnose – Therapiemaßnahme – Prognose

Behandlungsbezogene Unterlagen – Patientenakte

– Röntgenbilder – Untersuchungsbefunde – Untersuchungsmaterialien Anamnestische Zusatzinformationen

– Schriftliche Mitteilungen des Patienten – Persönliche Angaben

– Familiäre Umstände – Berufliche Angaben

– Finanzielle und wirtschaftliche Verhältnisse – Drittgeheimnisse

Zeitliche Reichweite

– Von:Anbahnung des Behandlungsverhältnisses – Bis: über den Tod hinaus (postmortale Schwei-

gepflicht).

Kasten 3

CAVE (Häufiger Irrtum):

Schweigepflicht gilt auch gegenüber den ärztlichen Kollegen, die nicht in die Behandlung beziehungsweise das Arzt-Patienten-Verhältnis einbezogen sind.

(3)

Handlung darstellen, die vor Berufsgerichten mit einer Verwarnung, einem Ver- weis oder einer Geldbuße geahndet werden kann. Eine unterlassene Belehrung von Mitarbeitern des Arztes oder von Personen, die in der Berufsvorbereitung stehen, kann ebenfalls einen Verstoß gegen die Berufsordnung bedingen. Auf die schriftliche Form der Belehrung von Mitarbeitern ist zu achten.

Ärztliche Schweigepflicht im Zivilrecht (4, 7, 12, 13)

Ein Arzt-Patienten-Vertrag wird überwiegend als Dienstvertrag im Sinne des § 611 BGB geschlossen. Der Patient kann im Rechtsverkehr davon ausgehen, dass der Arzt seine Pflichten, insbesondere die standesrechtlich normierte Schweigepflicht, ordnungsgemäß erfüllt. Eine Nebenpflicht des Arzt-Patienten-Vertrages im Zivil- recht ist die Verschwiegenheit über die den Patienten betreffenden Tatsachen und Geheimnisse. Diese Nebenpflicht besteht auch gegenüber anderen Ärzten, die nicht vom Patienten konsultiert worden sind. Eine Verletzung dieser Pflicht begründet ei- ne Haftung aus §§ 280 Abs. 1, 282 BGB (Kasten 5).Weitergehend haftet der Arzt für Verstöße seiner Erfüllungsgehilfen gegen die ärztliche Schweigepflicht im Rahmen der §§ 276, 278 BGB. Er muss zivilrechtlich vorsätzliches und fahrlässiges Handeln vertreten. Neben materiellen Schäden kann der Ersatz eines immateriellen Scha- dens durch die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Artikel 1 I,Art. 2 I GG abgeleitet werden. § 203 StGB stellt zudem ein Schutzgesetz im Sinne der Anspruchsgrundlage auf Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 2 BGB dar. Allerdings muss der Patient im zivilrechtlichen Ver- fahren darlegen und beziffern, welcher Schaden ihm durch die Offenbarung des Pa- tientengeheimnisses entstanden ist. Eine Offenbarung von Geheimnissen promi- nenter Patienten kann bei Verlust hochdotierter Engagements durch ärztliche Mit- teilung über Erkrankungen zu einer konkreten Bezifferung hoher Schadensersatz- summen führen. Mit der Pflicht zur Verschwiegenheit korrespondiert ein zivilpro- zessuales Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO.

Ärztliche Schweigepflicht im Arbeitsrecht (1, 3, 11)

In jedem Schuldverhältnis sind aus § 242 BGB herzuleitende Pflichten der Vertrags- partner zur Rücksichtnahme, zum Schutz und Förderung des Vertragszweckes ent- halten. Im Arbeitsrecht sind mehrere Rechtsverhältnisse zu beachten, in denen die ärztliche Schweigepflicht eine Rolle spielt. Im Verhältnis zu seinem Arbeitgeber ist der Arzt einerseits zur Verschwiegenheit gegenüber Dritten aus seinem Anstellungs- verhältnis (betriebliche Geheimnisse) verpflichtet, andererseits ist er aufgrund seiner Rolle als Arzt, zum Beispiel gegenüber einer Klinikverwaltung, primär zur Wahrung des Arztgeheimnisses (Integrität des Patienten) verpflichtet. Nach der Sonderrege- lung (SR 2c) zum BAT kann der Arbeitgeber von Ärzten und Zahnärzten nur ver- langen, dass Patientenunterlagen an den ärztlichen Vorgesetzten herauszugeben sind. Verletzt der Arzt durch den Bruch der ärztlichen Schweigepflicht Pflichten sei- nes Arbeitsvertrags, kann dies zu einer Abmahnung oder unter Umständen, auch zu einer Kündigung führen. Die Verschwiegenheitspflicht besteht auch nach der Been- digung des Arbeitsverhältnisses noch fort. Im Verhältnis gegenüber dem Arbeitgeber des Patienten gilt die Schweigepflicht des Arztes in vollem Umfang. Der Arbeitgeber hat nur einen Anspruch auf die Angaben in der gesetzlichen Krankmeldung.

Ärztliche Schweigepflicht im Sozialrecht

§ 35 SGB I (Kasten 6) regelt den Schutz von Sozialdaten im Anwendungsbereich des Sozialrechts. Sozialdaten sind Einzelangaben über persönliche oder sachli- che Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person (Be- troffener), die von einer in § 35 des Ersten Buches genannten Stelle im Hinblick Die ärztliche Schweigepflicht

gilt grundsätzlich auch gegenüber Klinikverwaltungen.

§ 9 (Muster-)Berufsordnung:

Schweigepflicht

(1) Der Arzt hat über das, was ihm in seiner Eigen- schaft als Arzt anvertraut oder bekannt geworden ist – auch über den Tod des Patienten hinaus – zu schweigen. Dazu gehören auch schriftliche Mittei- lungen des Patienten, Aufzeichnungen über Pati- enten, Röntgenaufnahmen und sonstige Untersu- chungsbefunde.

(2) Der Arzt ist zur Offenbarung befugt, soweit er von der Schweigepflicht entbunden worden ist oder soweit die Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist. Ge- setzliche Aussage- und Anzeigepflichten bleiben unberührt. Soweit gesetzliche Vorschriften die Schweigepflicht des Arztes einschränken, soll der Arzt den Patienten darüber unterrichten.

(3) Der Arzt hat seine Mitarbeiter und die Perso- nen, die zur Vorbereitung auf den Beruf an der ärztlichen Tätigkeit teilnehmen, über die gesetzli- che Pflicht zur Verschwiegenheit zu belehren und dies schriftlich festzuhalten.

(4) Wenn mehrere Ärzte gleichzeitig oder nach- einander denselben Patienten untersuchen oder behandeln, so sind sie untereinander von der Schweigepflicht insoweit befreit, als das Einver- ständnis des Patienten vorliegt oder anzuneh- men ist.

Kasten 4

Zivilrechtliche

Schadensersatz-Anspruchsgrundlagen

§ 280 Abs. 1 BGB: Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.

§ 823 Abs. 1 BGB: Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Frei- heit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

§ 823 Abs. 2 BGB: Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. [...].

Kasten 5

(4)

auf ihre Aufgaben nach diesem Gesetzbuch erhoben, verarbeitet oder genutzt werden (§ 67 Abs. 1 SGB X). Das Sozialrecht sieht zahlreiche Auskunfts- und Mitteilungspflichten des Arztes über die Patientenbehandlung im Rahmen der erforderlichen Abrechnung, Datenverarbeitung, Kontrolle und Qualitätssiche- rung vor.

Ärztliche Schweigepflicht gegenüber Finanzbehörden (7)

Gegenüber Finanzbehörden wird entgegen der Auffassung der Finanzbehörden (Erlass des Finanzministeriums Baden-Württemberg vom 18. Juli 1997 – 3-S 025.1/3) ein Auskunftsverweigerungsrecht des Arztes gemäß § 102 Abs. 1 Nr. 3 c AO befürwortet, das erst bei einer Entbindung von der ärztlichen Schweige- pflicht erlischt.

Bruch der ärztlichen Schweigepflicht (3, 7, 9, 12 ,14, 15)

Wie schon im Bereich des Sozialrechts erkennbar, kann die ärztliche Schweige- pflicht nicht um jeden Preis aufrechterhalten werden. Die Einhaltung der ärztli- chen Schweigepflicht stellt zwar den Regelfall und ihre Durchbrechung die Aus- nahme dar, dennoch bestehen zahlreiche Ausnahmevorschriften zur ärztlichen Schweigepflicht, die zulässigerweise deren Bruch ermöglichen.

Ein rechtswidriger Bruch der ärztlichen Schweigepflicht liegt nur vor, wenn das Geheimnis unbefugt offenbart wird. Der Arzt kann durch Rechtfertigungs- gründe aus der Sphäre des Patienten (zum Beispiel dessen Einverständnis), aus der eigenen Sphäre (zum Beispiel zur Wahrnehmung berechtigter Interessen, et- wa bei Behandlungsfehlervorwürfen), oder der Sphäre eines Dritten oder der Allgemeinheit (beispielsweise zum Schutz höherrangiger Rechtsgüter), zum Bruch der ärztlichen Schweigepflicht befugt sein (Kasten 7).

Neben diesen Befugnissen, die dem Arzt ein Recht zur Offenbarung einräu- men, bestehen zahlreiche Rechtsvorschriften, die von dem Arzt zwingend einen Bruch der ärztlichen Schweigepflicht fordern. Auch diese Offenbarung erfolgt dann nicht unbefugt, sondern aufgrund gesetzlicher Auskunfts-, Melde- bezie- hungsweise Mitteilungspflichten (Kasten 8).

(Mutmaßliche) Einwilligung (3, 14)

Der Patient als Verfügungsberechtigter über seine Geheimnisse kann in Ausprä- gung seines Selbstbestimmungsrechts eine Entbindung des Arztes von seiner Schweigepflicht veranlassen. Die Entbindung durch das Einverständnis oder die Einwilligung des Patienten kann ausdrücklich oder konkludent, also durch schlüssiges Handeln, gegenüber dem Arzt erfolgen. Von einer stillschweigenden Einwilligung des Patienten kann bei sozialadäquaten Unterrichtungen mitbe- handelnder Konsiliarärzte ausgegangen werden. Nach den Grundsätzen der mutmaßlichen Einwilligung kann der Bruch der ärztlichen Schweigepflicht ge- rechtfertigt sein, wenn diese aufgrund von Bewusstlosigkeit des Patienten nicht rechtzeitig eingeholt werden kann (wie zum Beispiel bei Schussverletzungen, wobei jedoch keine gesetzliche Meldepflicht an die Polizei besteht).

Eine Vermutung muss dann für die tatsächliche Einwilligung des Patienten spre- chen, wenn er sie selbst vornehmen könnte. Die Offenbarung der Patientenge- heimnisse muss zudem dem mutmaßlichen Interesse des Patienten entsprechen.

Schwierig sind auch Fallgestaltungen, in denen zu Lebzeiten des Patienten eine Einwilligung nicht existiert. Nach allgemeiner Ansicht besteht die Schweigepflicht nach dem Tod des Patienten fort. Der Bruch der Schweigepflicht ist möglich, wenn Einhaltung der ärztlichen

Schweigepflicht ist die Regel (Stillschweigen). Die Ausnahme, Brechen der ärztlichen

Schweigepflicht, beruht auf dem Recht zur Offenbarung.

CAVE: Der Arzt hat eine gesetzliche Auskunfts-, Melde- und Mitteilungspflicht.

Entbindung durch:

– ausdrückliche Einwilligung – stillschweigende Einwilligung – mutmaßliche Einwilligung

§ 35 SGB I: Sozialgeheimnis

Abs. 1: Jeder hat Anspruch darauf, dass die ihn betreffenden Sozialdaten (§ 67 Abs. 1 Zehntes Buch) von den Leistungsträgern nicht unbefugt erhoben, verarbeitet oder genutzt werden (Sozi- algeheimnis). Die Wahrung des Sozialgeheimnis- ses umfasst die Verpflichtung, auch innerhalb des Leistungsträgers sicherzustellen, dass die Sozialdaten nur Befugten zugänglich sind oder nur an diese weitergegeben werden. Sozialdaten der Beschäftigten und ihrer Angehörigen dürfen Personen, die Personalentscheidungen treffen oder daran mitwirken können, weder zugänglich sein noch von Zugriffsberechtigten weitergege- ben werden. [...]

Kasten 6

(5)

Wichtige Offenbarungsrechte des Arztes

Rechtfertigungsgründe aus der Sphäre des Patienten Entbindung von der Schweigepflicht (Einverständnis bzw. Einwilligung) Stillschweigende Einwilligung im Rahmen der Sozialadäquanz

– Information des weiter- beziehungsweise nachbehandelnden Arztes – Information des Konsiliarius

Mutmaßliche Einwilligung

– Bewusstloser Patient gegenüber Angehörigen, wenn kein gegenteiliger Wille bekannt ist.

– Verstorbener Patient gegenüber Angehörigen, zum Beispiel zur Geltend- machung von Unterhaltsansprüchen, wenn kein gegenteiliger Wille be- kannt ist.

Rechtfertigungsgrund des rechtfertigenden Notstands nach

§ 34 StGB zum Schutz höherrangiger Rechtsgüter Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch

Fremdgefährdung im Straßenverkehr

Offenbarung psychischer Erkrankungen zum Zwecke der Unterbringung bei Eigen- und Fremdgefährdung (siehe auch spezialgesetzliche Regelungen) Unterrichtung des Partners über die Erkrankung des Lebensgefährten an HIV (strittig) siehe Offenbarungspflichten

Achtung: Gesetzliche Voraussetzungen beachten zum Beispiel Vorliegen einer Konfliktlage: gegenwärtige Gefahr für die aufgelisteten Rechtsgüter eines Dritten

Grenzen beachten:

– Gefahr nur durch Bruch der Schweigepflicht abwendbar (unverzügliches Handeln erforderlich, konkrete Wiederholungsgefahr und andere) – Interessens- und Güterabwägung:Vergleich der geschützten Rechtsgüter – Erforderlichkeit und Angemessenheit (Relativ mildestes Mittel: unter

Umständen vorrangige Maßnahmen: Gespräch mit Patienten) Subjektive Komponente beim Arzt

– Kenntnis der den Bruch der Schweigepflicht rechtfertigenden Umstände – Rettungswille zur Gefahrenabwehr

Rechtfertigungsgründe aus der Sphäre des Arztes:

Wahrnehmung berechtigter Interessen

Geltendmachung von Honorarforderungen vor Gericht

– Aber nicht Erstellen von Honorarabrechnung durch Verrechnungsstellen ohne Einverständnis beziehungsweise Einwilligung des Patienten.

– Behandlungsfehlervorwurf: Weitergabe von Tatsachen gegenüber Staatsanwaltschaft, Gericht; Haftpflichtversicherer oder Gutachter- und Schlichtungsstellen zur eigenen Entlastung von Behandlungsfehlervor- würfen

– Die eingeschränkte Offenbarung gegenüber Verwaltung und Kranken- hausträger beachten.

– Das Verfahrensstadium beachten (bei Vergleichsbereitschaft kann eine Herausgabe an externen Gutachter gegen den Willen des Patienten nicht gerechtfertigt sein).

Wissenschaft und Forschung

Nach § 15 III MBO: Übermittlung von Patientendaten (anonym oder bei vorliegender Einwilligung des Betroffenen), aber landesrechtliche Berufs- ordnungen beachten.

Kasten 7

Wichtige Offenbarungspflichten des Arztes

§§ 138 ff. StGB: Anzeige von geplanten schweren Straftaten

– Gilt nicht für Meldung bereits geschehener Verbrechen ohne Wieder- holungsgefahr

– Teilweise Straffreiheit des Arztes gemäß § 139 III 2 StGB möglich § 182 II 2 StVollzG: Offenbarungspflichten beziehungsweise -befugnisse

im Rahmen des Strafvollzugs

– zur Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde oder – zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leib und Leben

§ 159 StPO: Sofortige Anzeige durch Gemeindebehörden (gemeindliches Krankenhaus als Behörde bei gemeindlicher Vertretungsberechtigung der Leitung, zum Beispiel ärztlicher Direktor) an die Staatsanwaltschaft oder das Amtsgericht bei unnatürlichem Tod

Meldepflichten von Leichenschauern und Obduzenten (landesrechtliche Bestimmungen beachten)

§ 3 Abs. 2 Nr. 2: Feuerbestattungsgesetz: Angabe der Todesursache in amtsärztlicher Bescheinigung einschließlich Meldepflicht gegenüber der Polizei (landesrechtliche Vorgaben beachten)

§§ 9, 10 IfSG: Namentliche und nichtnamentliche Meldung bei melde- pflichtigen Erkrankungen zur Verhütung und Bekämpfung von Infekti- onskrankheiten

Unterrichtung des Partners über lebensgefährliche, übertragbare Erkran- kung (z. B. HIV) des Lebensgefährten (strittig siehe Offenbarungsrechte) §§ 17 I S. 1 Nr. 3, 18 PStG: Anzeigepflicht von Geburten nach dem Perso-

nenstandsgesetz

§ 6 MBO: Meldung unerwünschter Arzneimittelwirkungen (landesrecht- liche Standesbestimmungen beachten, aber Meldepflicht an privatrecht- liche Organisationen rechtlich fragwürdig)

§ 7 TPG Die Auskunftpflicht des Arztes über den Organspender § 16 MRRG: Meldepflicht nach dem Melderechtsrahmengesetz zur Ab-

wehr einer erheblichen und gegenwärtigen Gefahr, zur Verfolgung von Straftaten oder zur Aufklärung des Schicksals von Vermissten und Unfall- opfern bei Auskunftsverlangen der zuständigen Behörde

Sozialgesetzbuch:

– bei Übermittlung vom Facharzt an den Hausarzt aus § 73 Abs.1 b SGB V zum Zwecke der Weiterbehandlung mit schriftlicher Einwilligung des Patienten

– gegenüber Kostenträgern (Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereini- gungen) gemäß § 136 SGB V zur Qualitätssicherung im ärztlichen Tätigkeitsfeld

– gegenüber dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen aus § 275 ff.

SGB V zur Erfüllung ihrer Pflichten in Bezug auf Begutachtung und Be- ratung

– bezüglich einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus § 284 i.V.m. § 295 SGB V

– im Rahmen eines Prüfverfahrens der ärztlichen Behandlungs- und Vor- gehensweise gemäß § 298 SGB V

– zum Zweck der Abrechnung aus § 295 SGB V

– gegenüber der Berufsgenossenschaft aus §§ 201, 203 SGB VII bei Vor- liegen einer Berufskrankheit

– Erteilung von Auskünften gegenüber Sozialversicherungsträgern auf deren Verlangen gemäß § 100 SGB X

§§ 36 Abs.1 BMV-Ä, 18 EKV: Herausgabe von Unterlagen und Auskünfte gegenüber dem Medizinischen Dienst

Kasten 8

BGB, Bundesgesetzbuch; BMV-Ä, Bundesmantelvertrag-Ärzte; BVerfG: Bundes- verfassungsgericht, EKV, Ersatzkassenvertrag; GG, Grundgesetz, IfSG, Infektions- schutzgesetz; MBO, (Muster-)Berufsordnung; MRRG, Melderechtsrahmengesetz;

OLG, Oberlandesgericht; PStG, Personenstandsregister; SGB, Sozialgesetzbuch;

StGB, Strafgesetzbuch; StPO, Strafprozessordung; StVollzG, Strafvollzugsgesetz;

TPG, Transplantationsgesetz; ZPO, Zivilprozessordnung Glossar

(6)

dies dem ausdrücklichen und konkludenten oder mutmaßlichen Willen des Patien- ten entspricht. Liegen keine Anhaltspunkte vor, kann der Wille des verstorbenen Patienten nach objektiver Betrachtungsweise ermittelt werden.

Es kann davon ausgegangen werden, dass der hypothetische Wille des Patienten mit dem übereinstimmt, was verständigerweise als der Wille eines vernünftigen Menschen unter den gegebenen Umständen angenommen werden kann.

Offenbarungsrechte zum Bruch der ärztlichen Schweigepflicht (7,10)

Eine wesentliche Offenbarungsbefugnis zum Bruch der ärztlichen Schweige- pflicht resultiert aus dem rechtfertigenden Notstand gemäß § 34 StGB (Kasten 9). Dieser lässt die Rechtswidrigkeit der tatbestandlichen Verletzung von § 203 StGB entfallen. Ein rechtfertigender Notstand wird nach feststehenden Regeln geprüft und erfolgt nach einer warnenden Stufenabfolge. Neben einer Konflikt- situation mit einer gegenwärtigen Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut (Fallkonstellation: Gesundheit und Leben des Partners bei ungeschütztem Ver- kehr eines HIV-infizierten uneinsichtigen Sexualpartners) muss diese Gefahr al- lein durch die Notstandshandlung als relativ mildestes Mittel (Bruch der ärztli- chen Schweigepflicht nach ausführlichen Versuchen, den HIV-Infizierten zur Selbstoffenbarung zu bewegen) abwendbar sein. Bei der Abwägung der wider- streitenden Interessen (zum Beispiel im Fall der HIV-Infektion: Schutz des Le- bensgefährten auf der einen Seite gegen Schutz der Individualsphäre des Infi- zierten auf der anderen Seite) muss ein Überwiegen zugunsten des gefährdeten Rechtsguts vorliegen.

Der Arzt muss die angemessene Notstandshandlung mit entsprechendem Rettungswillen und in Kenntnis aller rechtfertigenden Umstände durchführen.

Die Unterrichtung von Lebens- oder Ehepartnern über eine sexuell übertragba- re Erkrankung des Patienten kann bei Uneinsichtigkeit und der Gefahr einer In- fizierung aufgrund ungeschützten Geschlechtsverkehrs also nach § 34 StGB ge- rechtfertigt sein.

Der Auffassung des OLG Frankfurt (OLG Frankfurt; 2000 MedR 196) muss jedoch widersprochen werden, das nicht ein Offenbarungsrecht des Arztes, son- dern sogar eine Offenbarungspflicht in diesen Fallkonstellationen abgeleitet hatte. Die Folge wäre dann aber eine völlig uferlose Verlagerung des allgemei- nen Lebensrisikos zulasten des Arztes mit einschneidenden haftungsrechtlichen Konsequenzen. Derzeit sind die Rechtsauffassungen zu dieser Fallkonstellation uneinheitlich und höchstrichterlich noch nicht entschieden. Klarstellend ist zu betonen, dass § 34 StGB ein Recht, aber keine Verpflichtung zur Offenbarung begründet. Trotz Verkehrsgefährdung durch den Patienten muss der Arzt diesen nicht melden.

Neben der Unterrichtung von Lebenspartnern uneinsichtiger Erkrankter sexuell übertragbarer Krankheiten lassen sich beispielhaft noch die Unterrich- tung von Führerscheinbehörden aufführen, wenn ein aufgeklärter und hinrei- chend informierter aber uneinsichtiger Patient, der aufgrund einer Erkrankung nicht zur Teilnahme am Straßenverkehr geeignet ist (wie unbehandelte Epilep- sie, oder bestimmte Verläufe einer Schizophrenie), entgegen ärztlichen Rat Auto fährt. Es liegt auf der Hand, dass durch solche Fahrten eine erhebliche Ge- fahr für Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit ausgehen kann.

In jedem Fall sollte der Bruch der ärztlichen Schweigepflicht Ultima ratio sein und zunächst in einem ausführlichen Gespräch mit dem Patienten sein Gesund- heitszustand und die Risiken, die sich aufgrund seiner Erkrankung für Dritte erge- ben können, besprochen werden.

Erst wenn sich für den Arzt aufgrund des Gesprächs gravierende Anhalts- punkte für eine Uneinsichtigkeit ergeben, ist der Bruch der ärztlichen Schwei- gepflicht als angemessenes und verhältnismäßiges Mittel zur Gefahrenabwehr gerechtfertigt.

Stufenabfolge zum Bruch ärztlicher Schweigepflicht gegen erklärten Patientenwillen zur Gefahrenabwehr (ausführliche schriftliche

Dokumentation oder vor Zeugen):

– Information des Patienten über die von ihm ausgehende Gefahr – eindringliches Anraten zur

freiwilligen Offenbarung des Geheimnisses durch den Patienten selbst

– Fristsetzung zur freiwilligen Offenbarung (bei medizinischer Vertretbarkeit)

– zwingende, vorherige Ankündigung des beabsichtigten Bruchs der ärztlichen Schweigepflicht mit Fristsetzung (bei medizinischer Vertretbarkeit)

CAVE: Auch Minderjährige haben Anspruch auf ärztliche

Schweigepflicht (Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit entscheidet).

34 StGB: Rechtfertigender Notstand Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwend- baren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigen- tum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzu- wenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Ab- wägung der widerstreitenden Interessen, nament- lich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte In- teresse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.

Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemesse- nes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.

Kasten 9

(7)

Offenbarungspflichten zum Bruch der ärztlichen Schweigepflicht (3, 12,13,14)

Die Pflicht zur Offenbarung stellt eine starke Beeinträchtigung der ärztlichen Schweigepflicht dar. Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die möglicherweise vom Patienten ausgehen, oder die Aufgabe der Verbrechensverhinderung oder auch -aufklärung lassen die Verschwiegenheitspflicht zurücktreten.

Strafrechtlich relevant sind in diesem Zusammenhang die Vorschriften der §§

138 ff. StGB, § 159 StPO sowie § 182 Abs. 2 S. 2 StVollzG. Als andere wichtige ge- setzliche Regelungen mit Offenbarungspflichten sind das Infektionsschutzgesetz, das Transplantationsgesetz sowie die Sozialgesetzbücher zu nennen.

Die Vorschriften der §§ 6, 7 des Infektionsschutzgesetzes begründen eine na- mentliche Meldepflicht bei Krankheitsverdacht, der Erkrankung selbst und auch bei Tod aufgrund einer der dort im Katalog aufgeführten Krankheiten. Ferner be- steht die Pflicht zur Offenbarung bei Hinweis sowie einem direkten oder indirek- tem Nachweis auf eine akute Infektion.

(Straf-) prozessuale Konsequenzen im Umgang mit der ärztlichen Schweigepflicht (14)

Im Strafverfahren gegen den Patienten hat der Arzt ein Zeugnisverweigerungs- recht. Strafprozessual ist dieses Recht für den Arzt als Berufsgeheimnisträger in

§ 53 StPO und seinen Berufshelfern in § 53 a StPO normiert.

Nach höchstrichterlicher Auffassung ist eine Belehrungspflicht des Arztes über sein Zeugnisverweigerungsrecht von Seiten des Gerichts nicht erforder- lich, da von dem Arzt die Kenntnis über seine Pflichten erwartet wird. Zeugnis- verweigerungsrecht und nicht bestehende Aussagepflicht muss dem Arzt be- kannt sein.

Wenn der Patient den Arzt von der Schweigepflicht entbunden hat, ist er als Zeuge jedoch gemäß § 53 Abs. 2 StPO zur Aussage verpflichtet. Um Umgehun- gen des ärztlichen Zeugnisverweigerungsrechts zu verhindern, besteht im Straf- verfahren gegen den Patienten für die Patientenakte zudem ein Beschlagnah- meverbot auch für die ermittelnden Behörden nach § 97 Abs. 1 StPO.

In gerichtlichen Verfahren gegen den Arzt ist bei dessen Wahrnehmung be- rechtigter Interessen umstritten, ob der Arzt nicht vollständig anonymisierte Unterlagen an einen Privatgutachter übermitteln darf.

Im Fall noch andauernder Regulierungsverhandlungen ist eine nicht anonym- isierte Herausgabe abzulehnen, in späteren Verfahrensstadien kann sie hingegen nicht anonymisiert gerechtfertigt sein.

Als Beschuldigter hat der Arzt einerseits das Recht zu schweigen, ohne dass daraus nachteilige Schlüsse zu seinen Lasten gezogen werden können, ande- rerseits aber auch Anspruch auf rechtliches Gehör. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung können die Patientenakten beim beschuldigten Arzt unter Be- achtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beschlagnahmt werden, da die Wahrheitsermittlung im Strafprozess das persönliche Geheimhaltungsinteresse überwiegt.

Fazit

Grundsätzlich hat der Arzt seiner ärztlichen Schweigepflicht den Vorrang ein- zuräumen. In verschiedenen Fallkonstellationen können gesetzliche Vorschriften aber eine Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht fordern oder ermögli- chen. Die dokumentierte Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht durch den Patienten stellt in jedem Fall die sicherste Form der Durchbrechung bei einem höchsten Maß an Achtung des informationellen Selbstbestimmungsrechts sowie

der Privat- und Intimsphäre des Patienten dar.

CAVE: Es besteht keine Hinweispflicht des Richters auf ärztliche

Schweigepflicht, der Arzt muss die Berufspflichten kennen!

CAVE: Die Entbindung von der Schweigepflicht führt zur Aussagepflicht des Arztes.

Nicht das ärztliche Schweigen, sondern der Bruch ist

rechtfertigungsbedürftig.

Gesetzliche Offenbarungspflichten begründen die Durchbrechungen der ärztlichen Schweigepflicht.

(8)

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Manuskript eingereicht: 26. 7. 2004, revidierte Fassung angenommen: 30. 9. 2004

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2005; 102: A 289–296 [Heft 5]

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9. Lippert H-D, Strobel E-S: Ärztliche Schweigepflicht und Datenschutz in der medizinischen Forschung.

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11. Ratzel R, Lippert H-D: Kommentar zur (Muster-)Berufs- ordnung der deutschen Ärzte (MBO). Berlin: Springer Verlag 2002.

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13. Uhlenbruck W, Laufs A: Das Zustandekommen des Arztvertrags. In: Laufs A, Uhlenbruck W, Hrsg.: Hand- buch des Arztrechts München: Beck Verlag 2002:

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14. Ulsenheimer K: Arztstrafrecht in der Praxis. Heidel- berg: C. F. Müller 2003

15. Ulsenheimer K: Der objektive Tatbestand der §§ 203, 204 StGB. In: Laufs A, Uhlenbruck W, Hrsg.: Handbuch des Arztrechts. München: Beck Verlag 2002. 548– 554.

Anschriften der Verfasser:

Prof. Dr. med. Markus A. Rothschild Institut für Rechtsmedizin der Universität zu Köln Melatengürtel 60–62

50823 Köln

E-Mail: markus.rothschild@uk-koeln.de RA Dr. med. Markus Parzeller Zentrum der Rechtsmedizin der Johann-Wolfgang- Goethe-Universität Kennedyallee 104

60596 Frankfurt am Main

E-Mail: Parzeller@em.uni-frankfurt.de

Frage 1:

Welche Aussage(n) zur Geschichte der ärztlichen Schweigepflicht trifft/treffen zu?

1) Der Eid des Hippokrates regelt für jeden Arzt rechts- verbindlich die ärztliche Schweigepflicht.

2) Die Ausführung des Eides des Hippokrates zur ärzt- lichen Schweigepflicht entfaltet keine rechtsver- bindlichen Auswirkungen für den Arzt.

3) In der Antike wurde die ärztliche Schweigepflicht als „Heilige Pflicht“ beschrieben.

4) Die Regelung der ärztlichen Schweigepflicht im Eid des Hippokrates lässt sich als Vorläufer heutiger moderner Gesetze werten.

a) Nur 1 trifft zu b) Nur 1 und 3 treffen zu c) Nur 2, 3 und 4 treffen zu d) Nur 4 trifft zu e) Nur 2 trifft zu Frage 2:

Verfassungsrechtlich und einfach gesetzlich hat die ärztliche Schweigepflicht folgende Grundla- gen:

1) Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 I i. V. m. Art. 2 I GG)

2) Schutz von Privatgeheimnissen gemäß §§ 203 ff.

StGB

3) Zivilrechtliche Nebenpflicht des Arzt-Patienten-Ver- trages

4) Berufs- und standesrechtliche Regelung 5) Nebenpflicht zur Verschwiegenheit im Arbeitsver-

hältnis a) Alle treffen zu b) Nur 1, 2 und 4 treffen zu c) Nur 2 und 5 treffen zu d) Nur 3 und 4 treffen zu e) Nur 1, 3 und 5 treffen zu

Frage 3:

Zum schweigepflichtigen Personenkreis des § 203 StGB gehört nicht:

a) Zahnarzt b) Apotheker c) Heilpraktiker d) Arzt

e) Angehörige eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbe- zeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfor- dert

Frage 4:

Eine Befugnis zur Offenbarung von Patienten- daten ohne Entbindung ist vor folgenden Be- rufsgruppen jederzeit zulässig:

a) Staatsanwälten b) Richtern c) Polizeibehörden d) Ärzten

e) Keine Angabe ist richtig Frage 5:

Eine Befugnis zur Offenbarung von Patienten- daten ist aus der Sphäre des Patienten zulässig bei:

1) ausdrücklicher Entbindung durch den Patienten 2) mutmaßlicher Einwilligung des bewusstlosen Pati-

enten

3) mutmaßlicher Einwilligung des verstorbenen Pati- enten

4) stillschweigender Einwilligung im Rahmen der Sozialadäquanz

a) Nur 1 und 3 treffen zu b) Nur 1 und 2 treffen zu c) Nur 3 und 4 treffen zu d) Nur 2 und 4 treffen zu e) Alle treffen zu

Frage 6:

Gegen den erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten darf die ärztliche Schweigepflicht 1) als eine der höchsten Berufspflichten nie gebrochen

werden.

2) bei Gefährdungen des Straßenverkehrs durch den uneinsichtigen Patienten immer gebrochen werden (Schutz der Allgemeinheit).

3) bei Vergewaltigungsdelikten immer gebrochen wer- den.

4) bei Gefahren für ein anderes Rechtsgut von hohem Rang gegebenenfalls nach einer warnenden Stufen- abfolge gebrochen werden.

a) Nur 1 und 3 treffen zu b) Nur 2 und 4 treffen zu c) Nur 1, 2 und 3 treffen zu d) Nur 4 trifft zu e) Alle treffen zu Frage 7:

Bei Ihnen wird ein Patient mit einer frischen Schussverletzung eingeliefert. Was gilt bezüg- lich Ihrer Schweigepflicht beziehungsweise Of- fenbarungsbefugnis?

1) Schussverletzungen müssen der Polizeibehörde ge- meldet werden, wenn es sich bei dem Patienten um ei- nen angeschossenen Straftäter handelt.

2) Schussverletzungen müssen der Polizeibehörde ge- meldet werden, wenn es sich bei dem Patienten um das Opfer einer Straftat handelt.

3) Schussverletzungen müssen der Polizeibehörde ge- meldet werden, wenn es sich um einen bewusstlosen Patienten handelt.

4) Schussverletzungen dürfen der Polizeibehörde ge- meldet werden, wenn es sich um einen bewusst- losen Patienten (mutmaßliche Einwilligung) han- delt.

a) Nur 1, 2 und 3 treffen zu b) Nur 1, 2 und 4 treffen zu c) Nur 2, und 3 treffen zu d) Nur 2 und 3 treffen zu e) Nur 4 trifft zu

FFrraag geen n zzu urr zzeerrttiiffiizziieerrtteen n FFo orrttb biilld du un ng g

(nur eine Antwort pro Frage ist jeweils möglich)

(9)

Frage 8:

Zur Rechtfertigung einer Offenbarung des Arzt- geheimnisses gegen den Willen des Patienten müssen im Anwendungsbereich des § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) folgende Voraus- setzungen vorliegen:

1) Die Offenbarung muss das mildeste Mittel darstellen.

2) Es müssen eindringliche Gespräche mit dem Patienten zur Selbstoffenbarung oder Unterlassung gefährlicher Handlungen stattgefunden haben (Ausnahme: unver- zügliches Handeln erforderlich).

3) Der Arzt muss eine genaue Kenntnis der rechtfertigen- den Umstände haben.

4) Es muss eine gegenwärtige Gefahr für die Rechtsgüter des Arztes oder eines Dritten bestehen.

a) Nur 2, 3 und 4 treffen zu b) Nur 2 und 3 treffen zu c) Nur 1 und 4 treffen zu d) Alle Angaben sind richtig e) Alle Angaben sind falsch Frage 9:

Im Arbeitsrecht muss der Arzt bezüglich der ärztlichen Schweigepflicht Folgendes beachten:

1) Der Arbeitgeber des Patienten hat einen Anspruch auf Mitteilung der wichtigsten Diagnosen.

2) Der Arbeitgeber des Patienten hat keinen Anspruch auf Mitteilung der wichtigsten Diagnosen.

3) Die Krankenhausverwaltung hat ein generelles Ein- sichtsrecht in die Patientenunterlagen des Kranken- hauses.

4) Die Krankenhausverwaltung hat kein generelles Ein- sichtsrecht in die Patientenunterlagen des Kranken- hauses.

a) Nur 1 und 4 treffen zu b) Nur 2, und 4 treffen zu c) Nur 1 und 3 treffen zu d) Nur 2 und 3 treffen zu e) Nur 2 trifft zu Frage 10:

Standes- und berufsrechtlich ist für den Arzt Folgendes zur ärztlichen Schweigepflicht zu be- achten:

1) Rechtsverbindlich ist für ihn die aktuelle Version der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer.

2) Rechtsverbindlich ist für ihn die aktuelle Version der jeweiligen landesspezifischen Berufsordnung (Bun- desland der Berufausübung).

3) Ein rechtswidriger Verstoß gegen die Schweige- pflicht ist standesrechtlich unbeachtlich.

4) Ein rechtswidriger Verstoß gegen die Schweige- pflicht führt zwingend zur Berufsunwürdigkeit.

5) Ein rechtswidriger Verstoß gegen die Schweige- pflicht kann standesrechtlich geahndet werden.

a) 1 und 2 treffen zu b) 2 und 5 treffen zu c) 3 und 5 treffen zu d) 1, 3 und 4 treffen zu e) 1, 2 und 4 treffen zu

Wichtiger Hinweis

Die Teilnahme an der zertifizierten Fortbildung ist ausschließlich über das Internet möglich:

www.aerzteblatt.de/cme

Einsendeschluss ist der 17. 3. 2005 Einsendungen, die per Brief oder Fax erfolgen, können nicht berücksichtigt werden.

Die Lösungen zu dieser cme-Einheit werden in Heft 13/2005 an dieser Stelle veröffentlicht.

Die cme-Einheit „Anorexia und Bulimia nervosa im Kindes und Jugendalter“ (Heft 1–2/2005) kann noch bis zum 24. 2. 2005 bearbeitet werden.

Für Heft 9/2005 ist das Thema „Die chronische Herz- insuffizienz“ vorgesehen.

Lösungen zur cme-Einheit in Heft 49/2004 Lagrèze W, Wilhelm H, Göbel H: Kopfschmerz und Auge. 1/3, 2/2, 3/1, 4/5, 5/4, 6/1, 7/5, 8/2, 9/2, 10/5

AUSGEWÄHLT UND KOMMENTIERT VON H. SCHOTT AUSGEWÄHLT UND KOMMENTIERT VON H. SCHOTT

MEDIZINGESCHICHTE(N))

Medizin und Literatur Der Zauberberg

Zitat:„Dieser Widerstreit zwischen den Mächten der Keusch- heit und der Liebe – denn um einen solchen handle es sich –,wie gehe er aus? Er endige scheinbar mit dem Siege der Keusch- heit.Furcht,Wohlanstand,züchtiger Abscheu,zitterndes Rein- heitsbedürfnis, sie unterdrückten die Liebe, hielten sie in Dun- kelheiten gefesselt, ließen ihre wirren Forderungen höchstens teilweise, aber bei weitem nicht mit ihrer ganzen Vielfalt und Kraft ins Bewußtsein und zur Betätigung zu.Allein dieser Sieg der Keuschheit sei nur ein Schein- und Pyrrhussieg, denn der Liebesbefehl lasse sich nicht knebeln, nicht vergewaltigen, die unterdrückte Liebe sei nicht tot, sie lebe, sie trachte im Dun- keln und Tiefgeheimen auch ferner sich zu erfüllen, sie durch- breche den Keuschheitsbann und erscheine wieder,wenn auch in verwandelter,unkenntlicher Gestalt ...Und welches sei denn nun die Gestalt und Maske,worin die nicht zugelassene und un- terdrückte Liebe wiedererscheine? So fragte Dr. Krokowski und blickte die Reihen entlang, als erwarte er die Antwort ernstlich von seinen Zuhörern. Ja, das mußte er nun auch noch selber sagen, nachdem er schon so manches gesagt hatte. Nie- mand außer ihm wußte es, aber er würde bestimmt auch dies noch wissen,das sah man ihm an.Mit seinen glühenden Augen, seiner Wachsblässe und seinem schwarzen Bart, dazu den Mönchssandalen über grauwollenen Socken, scheint er selbst in seiner Person den Kampf zwischen Keuschheit und Leiden- schaft zu versinnbildlichen, von dem er gesprochen hatte.We- nigstens war dies Hans Castorps Eindruck, während er wie al-

le Welt mit größter Spannung die Antwort darauf erwartete, in welcher Gestalt die unzugelassene Liebe wiederkehre. Die Frauen atmeten kaum. Staatsanwalt Paravant schüttelte rasch noch einmal sein Ohr, damit es im entscheidenden Augenblick offen und aufnahmefähig wäre. Da sagte Dr. Krokowski: In Gestalt der Krankheit! Das Krankheitssymptom sei verkapp- te Liebesbetätigung und alle Krankheit verwandelte Liebe.

Nun wußte man es, wenn auch wohl nicht alle es ganz zu würdigen vermochten. Ein Seufzer ging durch den Saal, und Staatsanwalt Paravant nickte bedeutsamen Beifall, während Dr. Krokowski fortfuhr, seine These zu entwickeln. Hans Ca- storp senkte den Kopf, um zu bedenken, was er gehört hatte, und sich zu erforschen, ob er es verstünde.Aber ungeübt, wie er war in solchen Gedankengängen, und außerdem wenig gei- steskräftig infolge seines unbekömmlichen Spazierganges, war er leicht abzulenken und wurde denn auch sogleich abge- lenkt durch den Rücken vor ihm und den zugehörigen Arm, der sich hob und rückwärts bog, um mit der Hand, dicht vor Castorps Augen, von unten das geflochtene Haar zu stützen.

[...] Hans Castorp träumte, den Blick auf Frau Chauchats Arm gerichtet.“

Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman (1924). Frankfurt am Main 1995, Seite 176 f. – Mann (1875–1955) schildert im „Zauberberg“ den Aufenthalt seines Romanhelden Hans Castorp in einem Davoser Lungensanatorium. Der Assistenzarzt Dr. Krokowski, der missio- narisch die Sache der Psychoanalyse, wie hier in einem Vortrag vor den Patienten, vertritt, wird mitsamt seiner Lehre durchweg ironisch dargestellt.

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