• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Arztrecht: Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht" (15.09.2000)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Arztrecht: Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht" (15.09.2000)"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

F

ür Aufsehen sorgte eine Entschei- dung des 8. Zivilsenats des Oberlan- desgerichts (OLG) Frankfurt (1), in der eine Offenbarungspflicht des Arz- tes gegenüber nahestehenden Personen über die Aids-Erkrankung eines sei- ner Patienten entgegen der ärztlichen Schweigepflicht befürwortet wurde. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrun- de: Die Klägerin lebte in einer nichtehe- lichen Lebensgemeinschaft mit dem in- zwischen verstorbenen HIV-Patienten.

Der beklagte Arzt war der Hausarzt für die beiden sowie deren zwei Kinder. Im Jahr 1992 wurden bei dem Lebens- gefährten der Klägerin Lymphknoten- krebs und eine HIV-Infektion festge- stellt. Der HIV-Infizierte untersagte dem beklagten Arzt jegliche Offenbarung seiner HIV-Infektion an die Kläge- rin, die von dem Beklagten erst nach dem Tode ihres Lebenspartners unter- richtet wurde. Bei einer Blutuntersu- chung der Klägerin wurde dann eben- falls ein positiver HIV-Befund festge- stellt. Die Klägerin hat den Arzt dar- aufhin auf ein Schmerzensgeld von mindestens 100 000 DM und die Fest- stellung der Ersatzpflicht für alle wei- teren materiellen und immateriellen Schäden verklagt.

Im Ergebnis blieb die Berufung der Klägerin vor dem OLG zwar ohne Er- folg. Die Erfolglosigkeit ihrer Klage be- ruht aber lediglich auf dem Umstand, dass die Klägerin den Kausalitätsnach- weis nicht erbringen konnte, dass eine vorzeitige Information durch den be- klagten Arzt ihre HIV-Infektion hätte verhindern können. Entgegen der straf- rechtlichen Bestimmung aus § 203 Strafgesetzbuch (StGB) zur Verletzung von Privatgeheimnissen, die auch die ärztliche Schweigepflicht umfasst, wäre der beklagte Arzt nach der Auffassung

des OLG in diesem Fall nicht nur zu ei- ner Durchbrechung dieser strafrechtli- chen Norm aus rechtfertigendem Not- stand aus § 34 StGB berechtigt, son- dern aufgrund der in § 34 StGB vorge- sehenen Güterabwägung sogar zu ei- nem Bruch der ärztlichen Schweige- pflicht verpflichtet gewesen. Bei der Abwägung dürfe der Arzt nicht einsei- tig die Interessen seines aidskranken Patienten zum Schutz dessen Intim- sphäre in den Vordergrund stellen.

Dem Schutz des Lebens und der Ge- sundheit der konkret von der An- steckung bedrohten Klägerin, die auch von ihm ärztlich betreut wurde, hätte bei der Güterabwägung eindeutig der Vorrang gebührt. Diese falsch gewich- tete Güterabwägung im Sinne des § 34

StGB wird dem beklagten Arzt vom OLG als rechtswidrige und schuldhafte Verletzung von ärztlichen Pflichten an- gelastet. Auch die Beteuerungen des HIV-Infizierten, Kondome zu benut- zen, hätten den Arzt aufgrund der aus- drücklichen Untersagung des Patien- ten, die Klägerin über dessen HIV-In- fektion zu unterrichten, größte Beden-

ken an der Zuverlässigkeit dieser Be- teuerung hegen lassen müssen.

Die Urteilsbegründung des OLG Frankfurt stößt auf erhebliche Beden- ken. Zwar muss konstatiert werden, dass der Schutz von Patienten vor der Ansteckung mit einer lebensbedrohli- chen Erkrankung wie Aids einen hohen Stellenwert genießt. Fraglich ist jedoch, inwieweit in gewissen Fallkonstellatio- nen (Pflichtenkollision) dem Arzt Pflich- ten auferlegt werden können, die gesetz- lich nicht eindeutig normiert sind und wobei die Transparenz aufgrund der sonstigen Gesetzeslage und Rechtspre- chung bei HIV für den juristischen Lai- en nicht offensichtlich ist.

Die Schweigepflicht des Arztes gilt als eine der höchsten ärztlichen Standes-

und Rechtspflichten (2). Sie resultiert nicht nur traditionell aus dem hippokra- tischen Eid, sondern ist standes- und seit dem 1. Januar 1975 auch in § 203 StGB strafrechtlich normiert. Die entschei- dende Bestimmung aus § 203 StGB lau- tet: „Wer unbefugt ein fremdes Geheim- nis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis A

A2364 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 37½½15. September 2000

Arztrecht

Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht

Ein Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main erschwert den Umgang mit der ärztlichen Schweigepflicht.

Markus Parzeller Hansjürgen Bratzke

Was ich bei der Behandlung oder auch außerhalb meiner Praxis im Umgang mit Menschen sehe und höre, das man nicht weiterreden darf, werde ich verschweigen und als Geheimnis bewahren.

Auf die bereits im hippokratischen Eid geforderte ärztliche Schweigepflicht wird der Arzt heute durch die Berufsordnung verpflichtet.

(2)

oder ein Betriebs- oder Geschäftsge- heimnis, offenbart, das ihm als 1. Arzt, Zahnarzt, . . ., anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. . . .“ Schutzgut des § 203 StGB ist sowohl das allgemei- ne Vertrauen in die Verschwiegenheit bestimmter Berufsgruppen wie auch der Schutz des persönlichen Lebens- und Geheimnisbereichs. Das Arztgeheimnis dient dem Vertrauen zwischen Arzt und Patient und trägt der aus Art. 1 und Art.

2 I Grundgesetz verfassungsmäßig ge- währleisteten Würde des Menschen und seinem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und informationelle Selbstbestimmung Rechnung (3). Insbe- sondere HIV-Infizierte bedürfen auf- grund der Stigmatisierung, die mit dieser Erkrankung einhergeht, der besonderen Verschwiegenheit des Arztes.

Allerdings können sich Durchbre- chungen dieser Prinzipien aus der Ein- willigung, aus Offenbarungsbefugnis- sen und -pflichten ergeben. Der Arzt darf ein Geheimnis preisgeben, wenn und soweit der Patient als „Geheimnis- herr“ mit der Preisgabe einverstanden ist. So kann der Patient den Arzt von seiner Schweigepflicht gegenüber ei- nem bestimmten Personenkreis ent- binden. Auch wenn keine ausdrücklich oder stillschweigend erklärte Einwilli- gung vorliegt, kann eine Offenbarung nach den Grundsätzen der mutmaßli- chen Einwilligung gerechtfertigt sein.

Eine mutmaßliche Einwilligung liegt vor, wenn die Handlung im Interesse des Betroffenen vorgenommen wird und eine Vermutung für seine Einwilli- gung, die aber nicht mehr rechtzeitig eingeholt werden kann, spricht.

Eine Offenbarungsbefugnis resul- tiert aus § 34 StGB, der unter bestimm- ten Voraussetzungen die Durchbre- chung der ärztlichen Schweigepflicht zulässt. Durch die Offenbarung ei- nes Patientengeheimnisses verletzt der Arzt zwar das Rechtsgut der ärztlichen Schweigepflicht aus § 203 StGB; bei der pflichtgemäßen gewissenhaften Ab- wägung der widerstreitenden Interes- sen durch den Arzt überwiegt jedoch das geschützte Rechtsgut mehr. Als Beispielsfall lässt sich die Unterrich- tung der Verkehrsbehörden über einen durch eine Erkrankung fahruntüchti-

gen, aber uneinsichtigen Autofahrer an- führen (4). Eine Pflicht zur Offenba- rung ist jedoch für den Arzt nicht gege- ben. Bei einer ordnungsgemäßen Auf- klärung und Belehrung des Patienten über die Risiken, die mit der Erkran- kung für sich und andere einhergehen, setzte sich der Arzt bisher weder straf- noch zivilrechtlichen Konsequenzen aus, wenn er der ärztlichen Schweige- pflicht den Vorrang einräumte.

Offenbarungspflichten sind im Inter- esse der Verbrechensverhinderung und zum Schutz der Bevölkerung gesetzlich vorgeschrieben. In dem Katalog des

§ 138 StGB werden die Straftaten auf- geführt, die zur Anzeige gebracht wer- den müssen, wenn man von dem Vorha- ben oder der Ausführung dieser Straf- taten Kenntnis erlangt. Bei einer unter- lassenen Anzeige setzt man sich selbst der Gefahr der Strafverfolgung und der Verurteilung aus. Beispielhaft können als geplante und somit zu meldende Straftaten Mord, Totschlag, Raub et ce- tera angeführt werden.

Eine Meldepflicht resultiert auch aus dem Bundesseuchengesetz. In § 3

BSeuchG sind die Krankheiten enume- rativ aufgeführt, für die eine gesetzliche Meldepflicht besteht. Nach § 1 BSeuchG werden unter übertragbaren Krankhei- ten im Sinne des Gesetzes „durch Krank- heitserreger verursachte Krankheiten, die unmittelbar oder mittelbar auf den

Menschen übertragen werden können“

verstanden. Auch das Gesetz zur Be- kämpfung der Geschlechtskrankheiten sieht eine Meldepflicht für bestimmte vorwiegend auf sexuellem Wege über- tragbare Krankheiten vor.

Bruch der ärztlichen

Schweigepflicht ist möglich

Sowohl das Bundesseuchengesetz als auch das Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten werden durch das Gesetz zur Neuordnung seuchen- rechtlicher Vorschriften, das am 20. Juli 2000 verkündet wurde, nach einer kur- zen Frist außer Kraft gesetzt. Durch die Neuordnung tritt das Gesetz zur Verhü- tung und Bekämpfung von Infektions- krankheiten beim Menschen (Infekti- onsschutzgesetz, IfSG) in Kraft, das in

§ 6 eine namentliche Meldepflicht für Krankheitsverdacht, Erkrankung oder Tod bei einem Katalog von Krankhei- ten und in § 7 I eine namentliche Mel- depflicht bei dem direkten oder indi- rekten Nachweis sowie bei Hinweisen auf eine akute Infektion bei bestimmten Krankheitserre- gern vorsieht.

Bei Aids-Patienten kann der Arzt aus dem rechtfertigenden Notstand nach § 34 StGB be- fugt sein, die ärztliche Schwei- gepflicht zu brechen, weil die Rechtsgüter Leben und Ge- sundheit anderer Personen überwiegen. So darf der Arzt die HIV-positive uneinsichtige Prostituierte den Behörden melden, eine Pflicht zum Bruch der ärztlichen Schweigepflicht lässt sich aus § 34 StGB jedoch nicht ableiten.

Auch eine Offenbarungs- pflicht nach § 138 StGB be- steht nicht. Nach überwiegen- der Meinung in der Rechtspre- chung wird ein Tötungsvorsatz des Aids-Infizierten, der unge- schützt Geschlechtsverkehr ausübt, bei der Prüfung eines versuchten Tot- schlags (§§ 212 I, 22, 23 I StGB) ver- neint (5, 6). Zur Begründung wird ange- führt, dass aus der Gefährlichkeit einer Handlung nicht zwangsläufig auf ei- nen entsprechenden Tötungsvorsatz ge-

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 37½½15. September 2000 AA2365

Darf der Arzt ein Geheimnis preisgeben, auch wenn der Patient sein Einverständnis nicht gegeben hat?

Foto: Peter Wirtz

(3)

schlossen werden dürfe. Für die Aus- übung des ungeschützten Geschlechts- verkehrs eines HIV-Infizierten komme lediglich eine Strafbarkeit im Sinne ei- ner gefährlichen Körperverletzung, § 224 I Nr. 1 beziehungsweise Nr. 5 StGB in Betracht. Diese Straftat unterliegt da- durch aber nicht den abschließend auf- gezählten Straftaten aus dem Katalog des § 138 StGB.

Nach dem Bundesseuchengesetz re- sultiert keine Meldepflicht für HIV-In- fektionen, da Aids nicht zu den in § 3 BSeuchG enumerativ aufgeführten Er- krankungen wie zum Beispiel Diphthe- rie, Tuberkulose (aktive Form), Virus- hepatitis et cetera zählt. § 8 BSeuchG, der die Meldepflicht beim Ausbruch von Erkrankungen beschreibt, ist hier nicht anwendbar.

Auch das neue Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrank- heiten beim Menschen sieht keine na- mentliche Meldepflicht beim Krank- heitsverdacht, bei der Erkrankung oder beim Tod durch eine HIV-Infektion vor. Nach § 7 III Nr. 2 dieses Gesetzes ist lediglich eine nichtnamentliche Melde- pflicht bei dem direkten beziehungs- weise indirekten Erregernachweis vor- gesehen. Die Meldung hat dann nach

§ 10 I Nr. 1 in Verbindung mit II dieses Gesetzes in einer vorgeschriebenen an- onymisierten Form zu erfolgen.

Mögliche Pflichtenkollisionen

Eine Offenbarungspflicht, wie sie das OLG für den beklagten Arzt konsta- tiert hatte, wird in der medizinrechtli- chen Literatur für vergleichbare Fall- konstellationen unterschiedlich bewer- tet. Der Mediziner Buchborn verneint eine rechtliche Verpflichtung des Arz- tes zur Offenbarung, sondern sieht al- lenfalls eine Befugnis aus § 34 StGB, den Gefährdeten zu warnen (7). Der überwiegende Teil der juristischen Au- toren (8, 9) bejaht jedoch eine Rechts- pflicht zur Mitteilung an die noch nicht infizierte Ehefrau, die auch in der Be- handlung desselben Arztes steht. Als Begründung für dieses Ergebnis wird angeführt, dass der Arzt gegenüber dem gesunden Ehe- oder Sexualpart- ner, der sich ebenfalls in seiner Behand- lung befindet, eine Garantenpflicht zur

Abwendung von Gesundheitsgefahren und -schädigungen habe. Somit entste- he eine Pflichtenkollision, deren Lö- sung nach den Grundsätzen der Güter- abwägung im Sinne des § 34 StGB da- hingehend zu erfolgen hat, dass der Arzt im Interesse des Lebens- und Gesund- heitsschutzes seine ärztliche Schweige- pflicht brechen muss.

Bei der Abwägung der Argumente der Befürworter einer Offenbarungs- pflicht gegenüber dem gesunden Ehe- oder Sexualpartner stellt sich zwangs- läufig die Frage nach den Grenzen der Offenbarungspflicht und ob nicht zu- lasten des Arztes die Garantenpflicht überdehnt wird. Dabei geht es weniger um ethische Grundsatzfragen, sondern um die praktischen Konsequenzen, die sich aus dem Urteil des OLG ergeben können. So lassen sich zahlreiche Bei- spiele aufführen, die nach der Entschei- dung des OLG den Arzt zu einer Offen- barung eines ärztlichen Geheimnisses verpflichten würden. Eine Erkrankung mit Hepatitis C, die mit einer tödlichen Leberzirrhose enden kann, wäre als se- xuell übertragbare Erkrankung eben- falls dem gesunden Ehe- oder Sexual- partner mitzuteilen, zumal diese Er- krankung sogar im Bundesseuchenge- setz mit einer namentlichen Melde- pflicht normiert ist. Auch wird die Auf- klärung über das Risiko einer Infusion mit Hepatitis der von Aids bei einer Fremdbluttransfusion gleichwertig ge- genübergestellt (10). Auch eine Epilep- sie oder ein Diabetes mellitus, die insbe- sondere im Straßenverkehr zu verhäng- nisvollen Ausfällen führen könnten, wären dem Ehepartner auch gegen den ausdrücklichen Willen mitzuteilen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Eheleute gemeinsam das Fahrzeug benutzen und das Leben und die Ge- sundheit der Ehefrau erheblich gefähr- det wäre. Letztendlich verwirklicht sich in diesen Fällen ein allgemeines Lebens- risiko, deren Abwendung nicht auf den Arzt abgewälzt werden kann. So kon- statiert das OLG, dass die Zusage des Patienten, Kondome benutzen zu wol- len, nicht genügt, um dem Arzt die Überzeugung zu vermitteln, der HIV- Infizierte werde den gebotenen Schutz der Sexualpartnerin gewährleisten. Die Verdrängung der Krankheit und eine fehlende Rücksichtnahme des HIV-Infi-

zierten hätten dazu führen müssen, dass der Arzt dem Patienten nicht vertraut.

Dagegen wird von den Gesetzge- bungsorganen davon ausgegangen, dass eine wirksame Bekämpfung sexuell über- tragbarer Krankheiten nur möglich sei, wenn jeder einzelne eigenverantwort- lich handele (11). Die Enquete-Kom- mission „Gefahren von Aids und wirk- same Wege zu ihrer Eindämmung“ (12 ) sprach sich 1990 in ihrem über 400 Sei- ten umfassenden Endbericht dafür aus, dass HIV-Infizierte eine Rechtspflicht haben, andere nicht zu gefährden und beim Sexualverkehr Kondome zu ver- wenden oder den Partner zu informie- ren. Ausdrücklich sprach sich die Kom- mission aus, keine namentliche Melde- pflicht für HIV-Infektionen und Aids- Erkrankungen entsprechend dem Bun- desseuchen- oder dem Geschlechts- krankheitengesetz einzuführen.

Vertrauensverhältnis

Der Bundesgerichtshof (13) betonte in einer Entscheidung aus dem Jahre 1999 ausdrücklich die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient, die sich so- gar auf die bloße Anbahnung des Be- ratungs- und Behandlungsverhältnisses bezöge.

Mit seinem Urteil hat der 8. Zivilse- nat des OLG Frankfurt den Umgang mit der ärztlichen Schweigepflicht in der Praxis erheblich erschwert. Dies ist umso bedenklicher, als es sich bei der richterlichen Erörterung der Gren- zen der ärztlichen Schweigepflicht um Rechtsausführungen, auf denen das Ur- teil nicht beruht, handelt. So hätte es vollends ausgereicht, wenn der 8. Zivil- senat Ausführungen zur nicht feststell- baren Kausalität des Verhaltens des Arztes getroffen hätte, statt eine ober- landesgerichtliche Entscheidung zu den Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht zu treffen (14). Eine klare Regelung wäre eigentlich entsprechend der vom Bundesverfassungsgericht (15) entwik- kelten Wesentlichkeitstheorie durch den Gesetzgeber zu erwarten, der eine Meldepflicht für Aids schon in unter- schiedliche Gesetze hätte integrieren können. Gerade das erst im Juli 2000 verkündete Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankhei- A

A2368 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 37½½15. September 2000

(4)

ten beim Menschen sieht ausdrücklich keine namentliche Meldung oder Of- fenbarung von HIV-Infizierten vor.

Solange der Gesetzgeber eine klare Aussage zur Meldepflicht nicht trifft, kann dem einzelnen Arzt nicht die Ver- antwortung zum Bruch der ärztlichen Schweigepflicht verpflichtend aufgebür- det werden. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient beruht für den Arzt darauf, dass er den Aussagen und Zusagen seines Patienten vertrau- en muss und kann. Wenn der Arzt dar- legt, den HIV-Infizierten über die Risi- ken aufgeklärt zu haben und dieser zu seiner Überzeugung dargelegt hat, nur noch geschützten Geschlechtsverkehr zu praktizieren, kann nicht von einer of- fensichtlichen Uneinsichtigkeit ausge- gangen werden. Durch die Erweiterung der Garantenpflicht wird dem Arzt je- doch das Risiko für einen seinen eige- nen Angehörigen und Sexualpartnern gegenüber verantwortungslosen Patien- ten aufgebürdet.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2000; 97: A 2364–2370 [Heft 37]

Literatur

1. OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 5.10.1999 – 8 U 67/99 in: MedR 2000, 196–198 = NJW 2000, 875–877.

2. Laufs A: Arztrecht, 5. Aufl. München 1993, Rn. 421.

3. LSG Bremen, NJW 1958, 278 (279); BGH, NJW 1957, 1146; BVerfG, NJW 1972, 1123.

4. BGH NJW 1968, 2288 (2290).

5. BGHSt. 36, 15 mwN.

6. Tröndle in Tröndle/Fischer, 49. Aufl. 1999, § 224 Rn.

13 a mwN.

7. Buchborn E: Ärztliche Erfahrungen und rechtliche Fragen bei Aids, MedR 1987, 260–265.

8. Herzog H: Die rechtliche Problematik von Aids in der Praxis des niedergelassenen Arztes, MedR 1988, 289–292.

9. Laufs A, Uhlenbruck W.: Handbuch des Arztrechts, 2. Aufl. 1999, § 71 Rn. 12 mwN.

10. BGH MedR 1992, 159–161.

11. Vgl. BT-Dr. 12/4997, S. 37.

12. Vgl. BT-Dr. 11/7200.

13. BGH, Urt. v. 22. 12. 1999–3 StR 401-99-LG Dortmund.

14. Spickhoff A: Erfolgszurechnung und „Pflicht zum Bruch der Schweigepflicht", NJW 2000, 848–849.

15. BVerfGE 47, 46 (79) zum Sexualkundeunterricht an Schulen.

Anschrift für die Verfasser:

Ref. jur. Dr. med. Markus Parzeller Schönbornstraße 22

63179 Obertshausen

Prof. Dr. med. Hansjürgen Bratzke Zentrum der Rechtsmedizin Johann Wolfgang Goethe-Universität Kennedyallee 104

60596 Frankfurt/Main

A

A2370 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 37½½15. September 2000

S

eit mehr als einem Jahr haben Be- schlüsse und Urteile deutscher Ge- richte und des Europäischen Ge- richtshofes (EuGH) zu einer erheblichen Unruhe in den Reihen der deutschen So- zial- und Gesundheitspolitiker geführt.

Überraschung und Konsternation sind jedoch zu einem guten Teil darauf zurückzuführen, dass man sich entweder zu naiv auf den nationalen Vorbehalt in Fragen der Sozialpolitik verlassen hatte – und immer noch verlässt – oder aber die Bedeutung der Urteile überinterpretiert.

Der nationale Vorbehalt in sozialpo- litischen Fragen gilt unverändert weiter, bis er durch eine Änderung des Eu- ropäischen Vertrages durch dessen Si- gnatarstaaten aufgehoben oder modifi- ziert würde. Im Vertrag von Amsterdam wurde er jedoch noch einmal bestätigt.

Eine politische Wende steht daher zur Zeit nicht zu erwarten. Der Europäi- sche Gerichtshof hat in seinen hier in Rede stehenden Urteilen den sozial- politischen Vorbehalt auch stets be- rücksichtigt. Niemand muss daher be- fürchten, dass über diese Gerichtsurtei- le eine Konvergenz oder gar Harmoni- sierung der sozialen Sicherungssysteme herbeigeführt wird oder auch nur her- beigeführt werden könnte.

Die Probleme, die die Urteile auf- werfen, liegen woanders. Der Sozial- vorbehalt bedeutet nämlich nicht, dass soziale Fragen von dem Europäischen Vertrag, soweit er unmittelbar national anzuwendendes Recht darstellt, grund- sätzlich nicht betroffen wären. Alle Gerichte sämtlicher EU-Staaten sind verpflichtet, bei ihrer Rechtsprechung nicht nur das jeweilige nationale Recht, sondern auch dieses europäische Recht anzuwenden. Der Vorwurf, der von ei- nigen Kritikern gegen die deutschen Gerichte erhoben worden ist, sie han- delten in „vorauseilendem Gehorsam“,

ist daher völlig abwegig und zeigt nur, dass diese Kritiker von der Rechtslage nicht die geringste Ahnung haben.

Die Verpflichtungen, die die Bundes- republik Deutschland, wie alle anderen Mitgliedstaaten auch, mit ihrer Unter- schrift zum Europäischen Vertrag ein- gegangen ist, gehen jedoch noch weiter.

Keine Regierung darf in den Rechtsbe- reichen, die ihrer ausschließlichen na- tionalen Kompetenz unterliegen, neues nationales Recht schaffen, das geeignet wäre, das bestehende europäische Recht zu unterlaufen oder zu umgehen.

Extrem enge Bedingungen

Die europäischen Rechte, um die es hier geht, sind einerseits die Freizügig- keiten, die der Europäische Vertrag al- len Unionsbürgern gewährt und die von diesen auch direkt geltend gemacht werden können, und das europäische Kartellrecht andererseits.

Die Freizügigkeiten des Europäischen Vertrages besagen, dass der zwischenstaat- liche Verkehr von Waren, Dienstleistun- gen, Kapital und Arbeitnehmern frei ist und nicht behindert werden darf. Jegli- che Diskriminierung nach der nationalen Herkunft ist verboten.

Was den freien Warenverkehr be- trifft, ist die Rechtslage definitiv. Jeder Unionsbürger, also auch der sozialversi- cherte, kann sich seine Arzneimittel, Verbandmittel und Körperersatzstücke ohne vorherige Genehmigung durch sei- ne Krankenkasse, jedoch zu deren La- sten, in jedem Land der EU beschaffen.

Einschränkungen des freien Warenver- kehrs sind zwar auch im europäischen Vertrag als Möglichkeit vorgesehen, aber an extrem enge Bedingungen geknüpft.

So anerkennt der Europäische Gerichts- hof zwar das Recht eines Mitgliedstaa-

Europäischer Gerichtshof

Grundsatzentscheidungen für die Gesundheitspolitik

Komplizierte Verhältnisse beim freien Dienstleistungsverkehr

(5)

tes, den Import von Produkten zu unter- sagen, die wegen der von ihnen ausge- henden Gefährdung der Gesundheit im Inland grundsätzlich verboten sind, weil sie etwa krebserregend sind. Reine Qua- litätsargumente lässt er aber nicht gel- ten: So wurde Deutschland nicht gestat- tet, den Import von Bier, das nicht dem bayerischen Reinheitsgebot entspricht, mit der Begründung zu untersagen, dass diese Biere eine „Gefährdung der Ge- sundheit“ darstellten.

Komplizierter liegen die Verhältnis- se beim freien Dienstleistungsverkehr, weil erstens dessen Definition offen ist, weil zweitens für diesen der Katalog möglicher Ausnahmen weiter gefasst ist als bei dem freien Warenverkehr und weil drittens noch keine einschlägigen Urteile des EuGH vorliegen, die Folge- rungen für die spezifischen deutschen Probleme zuließen.

Auch wenn es bei den derzeit beim EuGH anhängigen einschlägigen Pro- zessen formal immer nur darum geht, ob der Patient für die Inanspruchnah- me einer medizinischen Leistung im Ausland eine vorherige Genehmigung seiner Kasse benötigt, beziehungsweise ob dieses Erfordernis nicht ein verbo- tenes Handelshemmnis darstellt, darf man dennoch davon ausgehen, dass die Begründung der Urteile erheblich ge- nerellere Bedeutung für bestimmte Sy- stemeigenschaften der deutschen Ge- setzlichen Krankenversicherung hat.

Sachleistungsprinzip

Die wichtigste infrage stehende Eigen- schaft ist das Sachleistungsprinzip in seiner besonderen Organisationsform.

Aufgrund des Sachleistungsprinzips stel- len nämlich die Kassen juristisch wie wirtschaftlich die Marktgegenseite der Leistungserbringer dar. Anders als in Großbritannien bestehen deren Ein- kommen nicht aus pauschalen Zuwei- sungen, sondern aus Entgelten für die von ihnen erbrachten Leistungen. Für den ambulanten Sektor wurden diese immer schon mehr oder weniger genau an den Kosten bemessen, die durch die jeweiligen Leistungen verursacht wor- den sind. Für die stationären Leistungen gilt dies auch zum Teil schon heute, ge- nerell für alle Leistungen, spätestens

aber mit der Einführung des neuen Ver- gütungssystems. Damit erfüllen die am- bulanten und die stationären Leistungen aber eine wesentliche Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Dienstleistungs- paragraphen des Europäischen Vertra- ges. Dann stellt aber auch das Erforder- nis einer vorherigen Genehmigung ein Handelshemmnis dar.

Als solches wäre es nur zulässig, wenn es unverzichtbar wäre, um die finanziel- le Stabilität des Gesamtsystems der Ge- setzlichen Krankenversicherung zu si- chern. Nur schwerwiegende Beeinträch- tigungen des finanziellen Gleichgewichts rechtfertigen nach erklärter Auffassung des EuGH Eingriffe in den freien Dienst- leistungsverkehr. Allerdings hatte der EuGH noch nicht zu entscheiden, unter welchen Umständen er diese Bedingung für erfüllt ansieht. Ob dafür beispielswei- se die kollektiven Bekundungen der na- tionalen Regierungen und Sozialversi- cherungen ausreichen, die diese im An- hörungsverfahren des zur Entscheidung anhängigen Falles Smits/Peerboom, al- lerdings ohne jede zahlenmäßige Unter- mauerung, vorgetragen haben, oder ob der EuGH an die Qualität der Argumen- te höhere sachliche Anforderungen stel- len wird, lässt sich nicht vorhersagen. Im Herbst dürften wir Genaueres wissen.

Nimmt man die zurzeit verfügbaren Indizien zusammen, so zeichnet sich ab, dass den Versicherten größere Freizügig- keiten bei der Beschaffung von Leistun- gen im EU-Ausland eingeräumt werden müssen, als dies derzeit der Fall ist. Dies gilt allerdings nur für Leistungen, auf die die Versicherten nach dem gültigen na- tionalen Leistungskatalog prinzipiell An- spruch haben. Es ist nicht zu erwarten, dass der EuGH in seinen Argumenten so weit gehen wird, den Versicherten zu ermöglichen, die Beschränkungen des nationalen Leistungskatalogs durch Be- zug im EU-Ausland zu unterlaufen.

Bislang liegen dem EuGH nur Vor- abentscheidungsersuchen nationaler Ge- richte aus Verfahren vor, die von Versi- cherten angestrengt worden sind. Eine weitere Dynamik – und weitere Proble- me für die Kassenpolitik sind zu erwar- ten, wenn sich die ersten Leistungser- bringer mit Sitz im EU-Ausland den Zu- gang zum deutschen GKV-System erkla- gen werden. Bislang können Leistungs- verträge ja nur zwischen den Verbänden

der Krankenkassen und den deutschen Verbänden der Ärzte und Zahnärzte (KVen beziehungsweise KZVen) oder deutschen Krankenhäusern (die in den jeweiligen Landesbedarfsplan aufge- nommen worden sind) geschlossen wer- den. Es gibt Hinweise dafür, dass dies die europäische Gerichtsbarkeit als ei- ne unzulässige nationale Diskriminie- rung auffassen könnte.

Status von Unternehmen

Ganz anders liegen die Verhältnisse, was das europäische Kartellrecht betrifft.

Mit dessen Anwendbarkeit auf deutsche Krankenkassen ist der EuGH bis jetzt nicht befasst gewesen. Es waren deutsche Gerichte, die ihrem Auftrag getreu bei Klagen gegen die Festsetzung von Fest- beträgen und den Erlass von Arzneimit- telrichtlinien die Anwendung europäi- schen Kartellrechts geprüft und weit überwiegend bejaht haben. Knackpunkt ist dabei die Frage, ob die Krankenkas- sen in diesen Aktivitäten den Status von Unternehmen aufweisen. Die Antwort lautet: Ja – und das wiederum wegen der besonderen Organisationsform des Sachleistungsprinzips in der GKV. Den kartellrechtlich Bewanderten konnte das nicht überraschen, kennt doch auch das deutsche Kartellrecht den funktionalen Unternehmensbegriff, nach dem ein und dieselbe organisatorische Einheit ein Unternehmen darstellen kann oder nicht, je nachdem, ob sie privatwirtschaftlich oder hoheitlich handelt.

Die Bundesregierung hat zunächst den rechtspolitisch bedenklichen Weg eingeschlagen, die Rechtswegszuwei- sung für diese Verfahren zu ändern. Er- ste Beschlüsse der nunmehr für bestimm- te ausgewählte Kartellverfahren zustän- digen Sozialgerichte geben ihrer Erwar- tung Recht: die Sozialgerichte kennen in der GKV keine Kartelle. Die betroffe- nen Kläger werden alles unternehmen, um die Verfahren schnellstmöglich an den EuGH heranzutragen. Sollte dies ge- lingen – selbstverständlich ist das nicht –, so dürften die landgerichtlichen Kar- tellurteile bestätigt werden. Dann wird de alte römische Rechtsspruch gelten:

Roma locuta – causa finita. Die GKV wird in Teilen neu organisiert werden müssen. Prof. Dr. rer. pol. Frank E. Münnich

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 37½½15. September 2000 AA2371

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

ln der besonderen Situation also, in der über ein disponibles Rechtsgut in rechtlich zulässiger Weise- sei es durch Einwilligung, sei es durch

Dabei braucht hier nicht ent- schieden zu werden, ob das auch dann zu gelten hat, wenn ein Arzt, der dem Patienten zu einer Operation geraten und ihn deshalb in ein Krankenhaus

Die Empfehlung des Vorstandes der Bundesärztekammer zur Be- achtung der ärztlichen Schweige- pflicht bei der Verarbeitung perso- nenbezogener Daten in der medi- zinischen

Der exemplarische Charakter der Empfehlung bedeutet, daß diese nicht nur Orientierungshilfe zur Beachtung der ärztlichen Schwei- gepflicht bei der Verarbeitung

Das Patientengeheimnis kann daher nur wirksam geschützt werden, wenn gewährleistet wird, daß auch dann, wenn der Patient den Arzt von der Schweigepflicht ent- bindet,.. >

rufssoldat ist, läßt man sich am besten nicht beim Doc sehen", erklärten mir schon oft Patienten auf die Frage, warum sie sich nicht früher in Behandlung be- geben hätten

Er sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Mitteilung auch dann ergeht, wenn der Patient den Führerschein nicht freiwillig abgibt oder eine

Die elektronische Datenverarbeitung hat auch für die Forschung neue, früher unvorstellbare Möglichkeiten eröffnet, zu- gleich jedoch eine (noch nicht abge- schlossene)