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Archiv "Die ärztliche Schweigepflicht: Historische und aktuelle Aspekte" (13.10.1988)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Die ärztliche Schweigepflicht:

Historische

Heinz Schott und aktuelle Aspekte

Schweigen kann als menschliches Verhalten zweierlei be- deuten. Es kann Ausdruck einer inneren Ruhe sein, wie in der religiösen Meditation, in der scheinbar eine andere, sonst verborgene Wirklichkeit zu sprechen beginnt. Es kann aber auch, wie im sozialen Verkehr, Ausdruck der Geheimhaltung eines konkreten Wissens sein, eines Ver-Schweigens. Der komplementäre Begriff zum Schweigen ist das Geheimnis.

Das Schweigen bewahrt das Geheimnis; das Sprechen darüber, seine Mitteilung an Unbefugte, bedeutet Verrat.

Zwischen denen, die in das Geheimnis eingeweiht sind oder eingeweiht werden dürfen, besteht Vertraulichkeit. Grund- lage der Vertraulichkeit ist das Vertrauen, daß der andere das Geheimnis bewahren wird. Schweigen, Geheimnis und Vertrauen sind die drei Grundbegriffe, die sich gerade in der medizinischen Ethik gegenseitig bedingen und ergänzen.

Das ärztliche Schweigen:

therapeutisches

und ethisches Problem

Ein kaum beachteter Aspekt des Arzt-Patienten-Verhältnisses ist das ärztliche Schweigen in therapeu- tischer Absicht: das Schweigen als positives Moment der Behandlungs- methode. In der Medizingeschichte der Neuzeit springen zwei verschie- dene Typen des ärztlichen Schwei- gens in die Augen, wie sie insbeson- dere um 1800 eine Rolle spielten.

Zum einen wäre das Schweigen des

„Irrenarztes" gegenüber dem

„Tobsüchtigen" und „Wahnsinni- gen" zu nennen, um diesen zur Ru- he und zum Schweigen zu bringen.

Hier bedeutet das ärztliche Schwei- gen Beschränkung, Isolation, Be- strafung des „Irren" und wird als Korrektionsmittel therapeutisch be- gründet (Reizentzug nach der Brownschen Lehre): Der Kranken- wärter und Arzt sollen den Kranken schweigend beobachten (Heinroth, 1825, S. 136 f.). Zum anderen wäre auf das Schweigen, das Hinhören

des „Magnetiseurs" (quasi als Hyp- notiseur und Tiefenpsychologe) zur Zeit der Romantik zu verweisen, womit der „somnambule" Kranke zum Aussprechen seiner inneren Wahrnehmungen, zur Offenbarung von intuitiven Diagnosen, Heilan- weisungen usw. bewegt werden soll- te. Die spätere psychoanalytische Methode hat wesentliche Züge aus diesem romantischen Konzept der Selbstwahrnehmung und Selbstbe- obachtung des Kranken entlehnt, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann.

Im Kontext der Ethik wird das Schweigen des Arztes in zweifacher Hinsicht thematisiert: einerseits als Schweigen gegenüber dem Patien- ten, zum anderen als Schweigen ge- genüber dritten Personen. Das Ver- schweigen eines medizinischen Tat- bestandes gegenüber dem Patienten selber (zum Beispiel der Diagnose einer „unheilbaren Krankheit", um schlimme Reaktionen des Patienten zu vermeiden) wird als das Problem der „Wahrheit am Krankenbett" be- zeichnet und kollidiert mit der Infor- mations- und Aufklärungspflicht des

Arztes (vergleiche Wunderli, 1977, S. 148 ff.). Die Wahrung des „Be- rufsgeheimnisses" gegenüber drit- ten Personen, das Schweigen des Arztes über den Patienten, macht dagegen das Problem der „Schwei- gepflicht" aus.

Der Eid des Hippokrates und das

Problem der Tradition

Als historischer Ursprung der ärztlichen Schweigepflicht gilt allge- mein der sogenannte Eid des Hip- pokrates. Die berühmte Textstelle lautet: „Was ich in meiner Praxis se- he oder höre oder außerhalb dieser im Verkehr mit Menschen erfahre, was niemals anderen Menschen mit- geteilt werden darf, darüber werde ich schweigen, in der Überzeugung, daß man solche Dinge streng ge- heimhalten muß" (nach Illhardt, 1985, S. 3). Koelbing merkt hierzu an: „ . . . nicht die Erfüllung einer rechtlichen Pflicht, sondern eine be- sondere menschliche Haltung wird hier vom Arzt gefordert . . . Das Gebot der Diskretion schloß die Mitteilung medizinischer Befunde und Erwägungen an andere Leute nicht unbedingt aus. In der griechi- schen Polis beruhte ja das Ansehen eines Arztes nicht zuletzt auf seiner Prognosekunst . . . , die er mehr oder weniger öffentlich über seine Patienten machte" (Koelbing, 1977, S. 107).

Im Genfer Arztgelöbnis von 1948, das sich an den hippokrati- schen Eid anlehnt, heißt es lapidar:

„Ich werde das Geheimnis dessen, der sich mir anvertraut, wahren"

(vgl. Illhardt, 1985, S. 3). In der Be- rufsordnung für die deutschen Ärzte (MuBO) heißt der erste Satz in § 2, der ausführlich die Schweigepflicht

WINWI

Dt. Ärztebl. 85, Heft 41, 13. Oktober 1988 (25) A-2809

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behandelt: „Der Arzt hat über das, was ihm in seiner Eigenschaft als Arzt anvertraut oder bekannt ge- worden ist, zu schweigen" (vgl.

Timm, 1988, S. 175).

Auf den ersten Blick erscheint sich somit von der Antike bis heute ein durchgehender Bogen der ärzt- lichen Verschwiegenheit zu span- nen. Immer wieder wurde und wird auf die lange Tradition der ärzt- lichen Schweigepflicht verwiesen, die als eine Art von ethischer Grundkonstante schon immer Gül- tigkeit gehabt habe (vgl. u. a. Plac- zek, 1893, S. 35 f.). So formuliert Spann in seinem Standardwerk

„Arztliche Rechts- und Standeskun- de" (1962): „Schon der Eid des Hippokrates zeigt, wie frühzeitig sich die standesethische Pflicht zur Verschwiegenheit entwickelt hat.

Zweifellos hat der Wandel der Zeit zahlreiche Änderungen der ärzt- lichen Ansichten gebracht. Das ethi- sche Gesetz des Arztes gilt heute wie ehedem" (S. 234). Entsprechendes lesen wir in der gerade publizierten — ansonsten sehr verdienstvollen — Dissertation über die ärztliche Schweigepflicht von Timm (1988, S.

17): „Bis in die heutige Zeit Gültig- keit hat der ,Eid des Hippokrates' . . . mit dem der Arzt Stillschweigen über alles gelobt, was er bei der Be- handlung erfährt" (S. 17).

Diese Auffassung läßt sich je- doch mit den historischen Materia- lien nicht belegen. So ist es heute wissenschaftlich umstritten, ob der Eid des Hippokrates überhaupt ein allgemeinverbindlicher Ehrenkodex für die Ärzte der Antike war. Vieles spricht dafür, daß er nur für eine be- stimmte (pythagoreische) Sekte galt.

Ich möchte hier nicht näher auf die auch heute noch unentschiedene In- terpretation dieses Eides eingehen (vgl. Triebel-Schubert, 1985). Tat- sache ist wohl, wie es vor allem der französische Medizinhistoriker Grmek im einzelnen dargelegt hat, daß sich vor dem 18. Jahrhundert nirgends ein Beleg für eine gesetzli- che Verankerung der Schweige- pflicht finden läßt. Die Sorglosigkeit im Umgang mit den Informationen über den Patienten hingegen ist viel- fach dokumentiert (Grmek, 1969, S.

6). Der Bruch des Berufsgeheimnis-

ses wird zumindest in der Antike und im Mittelalter nicht eigens the- matisiert; entsprechende juristische Anklagen und Prozesse sind in der Literatur nicht aufzufinden (S. 10).

Manche Autoren schätzen die Verschwiegenheit des hippokrati- schen Arztes eher als ein äußerliches Merkmal seines Berufsstandes, sei- nes Ansehens, seiner Würde ein, denn als eine moralische Verpflich- tung im direkten Interesse des Pa- tienten, wie es unserem modernen Verständnis entsprechen würde. So heißt es in der hippokratischen Schrift „Der Arzt": „Dem Ausse- hen nach wird er gut von Farbe und wohlgenährt sein . . . Ferner soll seine Aufmachung reinlich sein, er trage anständige Kleidung und brau- che gute und unaufdringliche Sal- ben . . . Sein Charakter sei beson- nen, was sich nicht nur in seiner Ver- schwiegenheit, sondern auch in sei- ner durchaus geordneten Lebens- führung zeigen soll" (Übers. v. H.

Diller).

Die Verschwiegenheit des Arz- tes von der Antike bis zu Renaissan- ce bezog sich nicht zuletzt auf die Geheimnisse der ärztlichen Kunst, die als esoterisches Wissen nur ei- nem eingeweihten Kreise vorbehal- ten bleiben sollte. Sie war eine Tu- gend zum Schutze des Berufsstandes und zur Wahrung seiner Tradition.

Die juristische Fixierung der Schweigepflicht im

19. Jahrhundert und ihre medizinische Begründung

Erst im 19. Jahrhundert wurde die ärztliche Schweigepflicht in die Rechtsprechung aufgenommen Erstmals kam es in internationalem Maßstab zur juristischen Fixierung der Schweigepflicht (vgl. Placzek, 1893). In dieser Verrechtlichung standespolitischer (medizin-ethi- scher) Fragen spiegelt sich die zu- nehmende gesellschaftliche Bedeu- tung der Medizin im Industriezeital- ter wider: nämlich ihre soziale, poli- tische und ökonomische Bedeutung für das Staatswesen und seine So- zialgesetzgebung.

Im 19. Jahrhundert wandelte sich also die ärztliche Verschwiegen-

heit von einer Berufspflicht in eine in Medizinalordnungen und Strafgeset- zen kodifizierte Rechtspflicht. Die- ser Wandel wurde mit dem Inkraft- treten des Strafgesetzbuches (StGB) für das Deutsche Reich 1871 und der 1877 verabschiedeten Strafprozeß- ordnung (StPO) mit der Gewährung eines Schweigerechts vollzogen. Da- bei wurde die ärztliche Schweige- pflicht juristisch unter das Berufsge- heimnis subsumiert. Im heute ein- schlägigen § 203 des Strafgesetzbu- ches heißt es:

„(1) Wer unbefugt ein fremdes Ge- heimnis, namentlich ein zum persön- lichen Lebensbereich gehörendes Ge- heimnis offenbart, daß ihm als

1. Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Apothe- ker oder Angehöriger eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeich- nung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert . . . ,

anvertraut worden oder sonst be- kanntgeworden ist, wird mit Freiheits- strafe bis zu einem Jahr oder mit Geld- strafe bestraft."

Traditionsgemäß wird der Arzt an erster Stelle genannt Diese ge- setzliche Bestimmung gilt jedoch ebenso für Gehilfen und Auszubil- dende sowie für eine Reihe von an- deren Berufsgruppen, zum Beispiel Berufspsychologen, Rechtsanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, Steuer- berater, Ehe-, Erziehungs- und Jugendberater, Sozialberater und Sozialpädagogen, Angehörige von Versicherungsunternehmen (vgl.

Timm, 1988, S. 174).

Als sich die ärztliche Schweige- pflicht als juristischer Tatbestand im 19. Jahrhundert herauskristallisier- te, stand ihre medizinische Begrün- dung außer Frage. Das Argument, das prinzipiell auch heute noch gül- tig ist, lautete: das Arzt-Patienten- Verhältnis könne überhaupt nur dia- gnostisch wie therapeutisch wirksam werden, wenn der Patient darauf vertrauen könne, daß der Arzt sein Wissen über ihn für sich behalte. So heißt es in Brands (1977) Analyse der medizinischen Ethik im 19. Jahr- hundert: „Grundlage des vertrau- ensvollen Arzt-Patienten-Verhält- nisses ist die Bereitschaft des Kran- ken, ausführlich über seine Krank- heitsgeschichte und über sein Krankheitserleben zu berichten, so

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daß der Arzt mit den noch zu erhe- benden Befunden in der Zusammen- schau aller wesentlichen Daten die notwendige Therapie beginnen kann. Da der Patient in der Person des Schwächeren dem Arzt seine Makel, Gebrechen und Leiden nur mitteilt, wenn er sich dessen Ver- schwiegenheit sicher ist und sich auch nur aus der unbeschränkten Offenheit des Kranken ein möglicher Zugang zur Therapie finden läßt, er- langt die Verschwiegenheit eine so überragende und zentrale Bedeutung innerhalb der ärztlichen Berufspflich- ten" (Brand, 1977, S. 142 f.).

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Die Schweigepflicht in den standespolitischen Deklarationen

Die beiden bekanntesten ethi- schen Codes wurden bereits ge- nannt: der Eid des Hippokrates und das Genfer Ärztegelöbnis von 1948.

In den verschiedenen medizinischen Sektoren begegnen uns heute modi- fizierte und den jeweiligen Bedürf- nissen angepaßte Erklärungen zum Schutze des Patienten, in denen im- mer auch die Schweigepflicht aufge- führt wird (vgl. Reiser, Dyck and Curran, eds. , 1985). Als ein Beispiel möchte ich hier die Bill of rights für die Krankenhauspatienten in Ame- rika (American Hospital Associa- tion, 1973) anführen. Unter Punkt 5 heißt es: „Der Patient kann erwar- ten, daß alle Mitteilungen und Auf- zeichnungen, die seine Gesundheit

11 Die „relative"

Schweigepflicht und die Pflichtenkollision

Der Vergleich des katholischen Priesters mit dem Arzt, die strikte Gleichsetzung des Beichtgeheimnis- ses mit dem ärztlichen Berufsge- heimnis begründete - zum Beispiel im 17. Jahrhundert in Frankreich - die absolute ärztliche Schweige- pflicht, die den Arzt wie einen Prie- ster zur Geheimhaltung ohne Aus- nahme verpflichtete (vgl. Grmek, 1969). Es steht heute außer Zweifel,

betreffen, vertraulich behandelt werden." Interessanterweise ist hier die Aufklärungspflicht des Arztes wesentlich stärker betont als die Schweigepflicht. So heißt es bereits unter Punkt 2: „Der Patient hat das Recht, von seinem Arzt vollkomme- ne Information über Diagnose, Be- handlung und Prognose zu erhalten, und zwar in einer Form, von der zu erwarten ist, daß der Patient sie gut versteht."

In den ethischen Richtlinien für den Fall bewaffneter Auseinander- setzung (Kriegsfall), die u. a. ge- meinsam von der Internationalen Kommission des Roten Kreuzes, dem Weltärztebund und der Weltge- sundheitsorganisation erarbeitet und auf der 35. Generalversammlung des Weltärztebundes 1983 in Venedig verabschiedet wurden, heißt es un- ter Punkt 1: „Ärztliche Ethik in Zei- ten bewaffneter Auseinandersetzun- gen unterscheidet sich nicht von der ärztlichen Ethik im Frieden" und dementsprechend unter Punkt 5:

„Der Arzt muß die ärztliche Schweigepflicht bei der Ausübung seines Berufes wahren" (nach Ill- hardt, 1985). In den Ausführungsbe- stimmungen für die Behandlung von Kranken und Verwundeten im Kriegsfall wird gewissermaßen dem Arzt ein Schweigerecht eingeräumt:

„Die Erfüllung ärztlicher Verpflich- tung und Verantwortung sollte unter keinen Umständen als Vergehen an- gesehen werden. Der Arzt darf nie wegen Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht angeklagt werden"

(nach Illhardt, 1985).

daß die ärztliche Schweigepflicht nur relativ sein kann und darf. Auch aus pastoralmedizinischer Sicht gehört das ärztliche Berufsgeheimnis nur der natürlichen Ordnung an, es gehe nicht um „die absoluten Werte des Seelenheiles, sondern um diesseitige Werte der Gesundheit" (Nieder- meyer, 1954, S. 246). Das ärztliche Berufsgeheimnis findet dort seine Grenzen, wo das Interesse der All- gemeinheit oder das Persönlichkeits- recht eines anderen verletzt wird oder wo eine gesetzliche oder ver- tragliche Regelung über die Weiter-

gabe von patientenbezogenen Daten existiert. Solche Grenzen der ärzt- lichen Schweigepflicht führen zu ei- ner Reihe von „Pflichten-" bezie- hungsweise „Interessenkollisionen"

des jeweiligen Arztes.

Albert Moll formulierte in sei- nem monumentalen Werk über die ärztliche Ethik: „Wenn man des Arztes Pflicht zur Verschwiegenheit auch noch so hoch stellt, wird man doch zugeben müssen, daß es Fälle gibt, wo er über seine Wahrnehmun- gen nicht zu schweigen braucht oder nicht schweigen darf. Der Arzt hat nicht nur Pflichten gegen den Klien- ten, sondern auch gegen andere, ge- gen den Staat und die Gesellschaft, gegen einzelne Personen und sich selbst. Wenn ihn höhere Verpflich- tungen dazu führen könnten, seine Schweigepflicht zu verletzen, so liegt ein Fall von Kollision der Pflichten vor" (Moll, 1902, S. 97) Ähnlich heißt es bei Placzek (1893, S. 8):

„Es kommt hier zu einer unlösbaren Kollision zweier Berufspflichten.

Auf der einen Seite die gebotene un- verbrüchliche Wahrung des anver- trauten Geheimnisses, auf der ande- ren die unbedingt erforderliche Mit- wirkung des Arztes an der Förde- rung des Gesamtwohles. Erfüllt der Arzt seine Pflicht gegen das letztere, so begibt er sich in Gefahr, mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt zu kom- men, handelt er dagegen strikt nach dem Wortlaut des Gesetzes, so ver- liert er wohl seinen humanitären Le- benszweck aus dem Auge . . . "

Die „Interessenkollision"

beim Arzt:

die Konfliktfelder

Im Kern sind die Konfliktfelder der ärztlichen Schweigepflicht seit der Jahrhundertwende gleichgeblie- ben (vgl. Moll, 1902, S. 90-112).

Freilich: „Die Verrechtlichung des Arzt-Patienten-Verhältnisses schrei- tet unaufhaltsam fort. Dabei ist die ärztliche Schweigepflicht ins Zwie- licht zwischen rechtlichen Ansprü- chen und medizinischer Praxis gera- ten"

(Timm, 1988, S. 13). Dabei

sind in der Medizin in den letzten Jahrzehnten zwei neue Ideale aufge- taucht, die gerade im Arztrecht heu- Dt. Ärztebl.

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Heft 41, 13. Oktober 1988 (29)

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te eine enorme Rolle spielen. Zum einen sind wir heute mit dem Ideal der Aufklärung des Patienten und seiner Mündigkeit konfrontiert: der Arzt soll ihm möglichst angemessen und vollständig die Krankheitsdia- gnose und die Risiken therapeuti- scher Eingriffe erläutern, so daß sich der Kranke (als „Partner") selber ein realistisches Bild von seiner Lage machen kann Zum anderen sind wir mit dem Ideal der EDV-Dokumenta- tion, der vollständigen Erfassung der Krankheitsfälle, konfrontiert: im Hinblick auf ihre Weiterverarbei- tung sollen die persönlichen Daten des einzelnen möglichst umfassend dokumentiert und gleichzeitig im Sinne des Arztgeheimnisses ge- schützt werden. Aufklärungspflicht und Datenschutz sind bekannterma- ßen zwei Reizwörter für die Juri- sten.

Die Konfliktfelder, die soge- nannten „Interessenkollisionen", werden durch juristische Sachver- halte bestimmt, die dem praktizie- renden Arzt undurchsichtig sind:

vom Strafrecht über das Prozeßrecht bis hin zu den geltenden Daten- schutzgesetzen.

Die Konfliktfelder seien hier nur angedeutet: die „Interessenkol- lision" beim Arzt im Krankenhaus, im Gesundheitsamt, im Strafvollzug, beim Betriebsarzt und Vertrauens- arzt etc.

Der grundsätzliche Konflikt zwischen individuellen Interessen des Patienten und den allgemeinen Interessen der Gesellschaft ( „Volks- gesundheit" , „Allgemeinwohl") ist für den Arzt gerade im Zeitalter der Verrechtlichung ethischer Fragen unausweichlich und unaufhebbar.

Der Arzt hat im Einzelfall persön- lich abzuwägen und zu entscheiden.

Dies gilt vor allem dann, wenn durch die staatliche beziehungsweise ge- setzgebende Gewalt die Schweige- pflicht in einer inhumanen Weise eingeschränkt wird. Die Beispiele aus dem Dritten Reich sind drastisch genug (Rassenhygiene, Vernichtung

„lebensunwerten Lebens"). Sie zei- gen, daß unter bestimmten politi- schen Verhältnissen ein bloßer Rückzug auf gültige Gesetze Prinzi- pien der ärztlichen Ethik zwangsläu- fig verletzen muß.

Die moderne Illusion von der Möglichkeit der objektiven Erfas- sung und Mitteilbarkeit aller medizi- nisch relevanter Daten reduziert den Arzt auf seine Rolle als alleinwissen- den Experten. Sie vernachlässigt die Auswirkung der zwischenmensch- lichen Situation, in der im Gespräch auch das Unausgesprochene zum entscheidenden Verständigungsmit- tel werden kann, ja, in manchen Fällen sogar zum entscheidenden Hebel der Therapie wird. Wir sind hier mit einem Geheimnis konfron- tiert, was nicht schon im Wissen ei- ner Person, etwa der des Arztes, be- gründet ist, sondern die Arzt-Patien- ten-Beziehung übergreift und das

Literatur

Beachtung der ärztlichen Schweigepflicht bei der Verarbeitung personenbezogener Daten in der medizinischen Forschung.

[Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer] In: Deutsches Ärzteblatt, 30 (1981), S. 1443.

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Grmek, Mirko D.: L'origine et les vicissi- tudes du secret medical. In: Cahiers Laen- nec, 29 (1969), S. 5-31.

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Illhardt, Franz-Josef: Medizinische Ethik. Unter Mitw. von H.-G. Koch, Berlin;

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Kartens, Klaus: „Deontologie medicale"

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Koelbing, Huldrych M.: Arzt und Patient in der Antike. Zürich; München: Artemis, 1977.

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Mück, Herbert: Die rechtliche Entwick- lung des Arzt-Patienten-Verhältnisses in der DDR. Vom Dienstvertrag zum medizini-

Geheimnis von Liebe und Haß aus- macht ( „Suggestion als Heilfak- tor"). Nicht zuletzt in dieser Per- spektive ist das „Berufsgeheimnis"

und die Schweigepflicht des Arztes zu diskutieren.

Der Artikel beruht auf einem Referat, das am 2. Mai 1988 bei dem „Colloquium über Fragen der ärztlichen Ethik" (im Rah- men des Studium Universale der Universität Bonn, Sommersemester '88) gehalten wurde.

Der Verfasser dankt seinem früheren Kolle- gen Dr. F. J. Illhardt (Freiburg i.Br.) für wichtige Literaturhinweise.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. phil.

Heinz Schott

Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn Sigmund-Freud-Straße 25 5300 Bonn 1

schen Betreuungsverhältnis. Köln 1982 (Ar- beiten der Forschungsstelle des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität zu Köln; 24)

Niedermeyer, Albert: Ärztliche Ethik (Deontologie). Grundlagen und System der ärztlichen Berufsethik. Wien: Herder, 1954 (= Allgemeine Pastoralmedizin, 2. Bd.).

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Weitere Literatur beim Verfasser.

11

Schlußbemerkung

A-2814 (30) Dt. Ärztebl. 85, Heft 41, 13. Oktober 1988

Referenzen

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