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Archiv "Vier Monate als Medizinalassistent in der Allgemeinpraxis" (11.03.1976)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

THEMEN DER ZEIT

Erste Kontakte zur Allgemeinmedi- zin stammen zwar aus meiner Stu- dienzeit, und zwar aus Vorlesungen und Tagespraktika des Lehrbeauf- tragten für Allgemeinmedizin an der Universität Frankfurt/Main. Ein Gefühl für Unterschiede zwischen klinischer, insbesondere universi- tätsklinischer und praktischer au- ßerklinischer Medizin wurde mei- nen Kommilitonen und mir schon damals in diesen Vorlesungen ver- mittelt. Die Wirklichkeit aber erfuhr ich am eigenen Leib erst als Medi- zinalassistent in zwei Allgemein- praxen, in denen ich jeweils zwei Monate meiner „freien" MA-Zeit verbrachte.

Die Aufteilung der vier Monate auf zweimal zwei Monate war sehr lehrreich. Die beiden Praxen waren teils ähnlich, teils verschieden strukturiert. In beiden Fällen waren die Praxisinhaber seßhafte „alte Hausärzte" mit jahrzehntelanger Bindung an ihren Bezirk. Die eine Praxis lag in einer Randgemeinde Frankfurts, die andere in einer Mit- telstadt im Süden Frankfurts. Die Patienten waren vorwiegend Arbei- ter, kleine und mittlere Angestellte.

Der wesentliche Unterschied der beiden Praxen bestand in der Pa- tientenzahl (rund 2400 gegenüber rund 1400 Scheinen/Quartal). Die größere der beiden Praxen war bis zum Tod der Kollegin vor zwei Jah- ren als Ehepaarpraxis betrieben worden.

Nun zu meiner Tätigkeit: Nach ei- ner Zeit des „Über-die-Schulter- Schauens" von ein bis zwei Wo- chen wurden mir „eigene" Patien-

ten zugeteilt, die ich in einem eige- nen Behandlungszimmer untersu- chen konnte. Bei diesen Patienten erhob ich die vollständige Anamne- se, untersuchte sie gründlich und legte weitgehend in eigener Ver- antwortung die Therapie fest — es bestand allerdings jederzeit die Möglichkeit der Rückfrage und Dis- kussion über unklare Fälle. Auch Hausbesuche führte ich bald selbst aus, im Schnitt sechs in der einen und drei in der anderen Praxis pro Tag.

Eine sehr gute Anleitung in der Krebsvorsorgeuntersuchung bei Männern und Frauen einschließlich Kolposkopie und Proktoskopie be- kam ich in der zweiten Praxis. Es wurde mir bald in Teilverantwor- tung das Vorsorgeprogramm am Samstagmorgen und auch in der Sprechstunde übergeben. Auch in die Vorsorgeuntersuchung für Säug- linge wurde ich hier gründlich eingeführt. Training in Verbands- wechsel und kleiner Wundversor- gung stand dagegen in der ersten Praxis mehr im Vordergrund. In beiden Praxen konnte ich meine Injektions- und Blutentnahmetech- nik vervollkommnen, namentlich durch die Mitarbeit im Gemein- schaftslabor.

Worin ist nun nach diesen Erfah- rungen das Besondere in der Tä- tigkeit des Praktikers zu sehen?

Der Patient ist in der Praxis ein an- derer als der Patient in der Klinik.

Das ist einmal medizinisch ge- meint. Der klassische Lehrbuchfall ist in der Praxis eine Seltenheit, das zunächst nicht näher einzuen-

Nach Ableistung seiner Pflichtzeit als Medizinalassi- stent auf der Chirurgischen und inneren Abteilung eines Krankenhauses hat der Autor die zur freien Verfügung ste- henden vier Monate als Me- dizinalassistent in zwei Allge- meinpraxen (je zwei Monate) gearbeitet, da er im Studium zu wenig über die allgemein- ärztliche Tätigkeit im außer- klinischen Bereich erfahren konnte. Der Bericht möge Ärzte anregen, ebenfalls ei- nen MA aufzunehmen, und Medizinalassistenten dazu verleiten, dem Autor nachzu- eifern.

gende Beschwerdebild („Syn- drom", „z. B.", „Verdacht auf") mehr die Regel.

Ein zweiter Unterschied: In der Praxis besucht der Patient den Arzt in seiner Kleidung; er empfängt den Arzt in seiner Wohnung; er hat allen ärztlichen Maßnahmen ge- genüber eine größere Entschei- dungsfreiheit als der meist ans Bett gebundene, aus seiner gewohn- ten Umgebung herausgenommene Klinikpatient. Aus dieser größeren Unabhängigkeit entsteht ein größe- res Selbstvertrauen nicht nur den ärztlichen Maßnahmen, sondern auch dem Arzt selbst gegenüber.

Für den Arzt bedeutet das, er muß seine Maßnahmen begründen, er muß persönlich überzeugen, sonst wird er nicht angenommen. Er kann seine Person dabei weniger hinter „objektiven Daten" (Labor, Röntgen) verstecken als der Klini- ker. In einigen Fällen ist es mir nicht gelungen, persönlich zu über- zeugen. Meine Chefs wiesen mich darauf hin, daß diese Art von Lehr- geld jeder Berufsanfänger zu zah- len habe.

Bei 60 bis 80 Patienten pro Tag bleibt für den einzelnen eine Zeit zwischen fünf und zehn Minuten.

Diese Zeitspanne läßt sich nicht

Vier Monate

als Medizinalassistent in der Allgemeinpraxis

Helmut Kessler

742 Heft 11 vom 11.März 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Als Medizinalassistent in der Allgemeinpraxis

wesentlich ausdehnen, es gilt da- her, sie intensiv zu nutzen. Es gibt vielerlei technische Hilfsmittel zur Praxisrationalisierung, sie im ein- zelnen aufzuzählen würde hier zu weit führen. Das Wesentliche scheint mir die jahrelange Ver- trautheit des Praktikers mit seinen Patienten zu sein. Sie erübrigt langatmiges Anamneseerheben, das weder mir noch den häufig wechselnden Kollegen in den Poli- kliniken erspart bleiben kann und wird.

Ich habe in diesen vier Monaten vieles gelernt: Diagnostisches, Handwerkliches, Therapeutisches und, was man auf keiner Universi- tät lernt: Sprachliches. Die Spra- che der Patienten ist meist eine an- dere als die Sprache des Akademi- kers und Universitätsklinikers. Der Praktiker muß diese Sprache ver- stehen und sich in ihr ausdrücken können. Anders kommt beim Pa- tienten nicht an, was er ihm z. B.

auf diätetischem Gebiet oder zum Thema Genußgifte rät.

Auch Schwierigkeiten in der All- tagsarbeit des Praktikers habe ich miterlebt: z. B. vergeblich gemach- te Hausbesuche; die soziale Be- treuung vereinsamter alter Men- schen, für die der Arztbesuch alle zwei bis drei Wochen oft die einzi- ge menschliche Zuwendung be- deutet; die Führung unheilbar Kranker; die direkt ausgesproche- ne Bitte um „eine Spritze" zum Sterben; das Frustrierende an der gleichzeitigen Parallelbehandlung mancher Patienten durch mehrere Spezialisten.

Recht anschaulich wurde mir die Bedeutung der Mitarbeit der Arzt- ehefrau in der Allgemeinpraxis klar.

Der Praktiker ist natürlich der Ver- antwortliche des ärztlichen Betrie- bes, aber ohne die Unterstützung einer Ehefrau kann er ihn nur mit mehreren Hilfspersonen leiten, was namentlich für die permanente Dienst- und Rufbereitschaft von Bedeutung ist.

Eine weitere Beobachtung: Der Praktiker ist in seinem Bezirk ein

prominenter Mann. Es wird von den Leuten genau registriert, wie er lebt, wie er sich anzieht, wie er seine Freizeit verbringt und viele Dinge mehr. Aus dieser Stellung im Blickpunkt erwächst die Notwen- digkeit zur Zurückhaltung in den persönlichen Dingen.

Abschließend kann ich sagen, daß die vier Monate für meine medizini- sche Ausbildung eine Bereiche- rung waren. Ich kann meinen jun- gen Kollegen nur empfehlen, diese Möglichkeit zu nutzen; denn man- che Voreingenommenheit gegen die Tätigkeit des Allgemeinarztes als Krankenbehandler im außerkli- nischen Raum wird auf diese Wei- se abgebaut.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Helmut Kessler Kettelerstraße 12 6272 Niedernhausen

ZITAT

Verantwortung der Politiker

„Es wäre der falsche Ein- druck, wenn man meinte, es wäre da ein Wildwuchs von seiten der Krankenhausträ- ger finanziert worden. Wenn schon, dann war es Wild- wuchs von politischer Seite, möglichst jeder Abgeordnete wollte in seinem Wahlkreis ein Krankenhaus haben. Von den Politikern, die heute am meisten nach dem Abbau des Bettenberges schreien, weil sie glauben, daß das bei der Bevölkerung ankommt, hat wohl kaum einer darauf verzichtet, bei der Einweihung des Krankenhauses in seinem Wahlkreis dabei zu sein und zu sprechen."

Professor Dr. med. Hans- Werner Müller, Hauptge- schäftsführer der Deutschen

Krankenhausgesellschaft, Düsseldorf, in einem „Spie- ger-Interview am 26. 1. 1976.

AUS DEM BUNDESTAG

Förderungsmöglichkeit für autistische Kinder

Nach Meinung führender Wissen- schaftler ist eine exakte Diagnostik und Behandlung des kindlichen Autismus bei den verschiedenen Entstehungs- und Entwicklungs- möglichkeiten sowie den sich an- schließenden Verhaltensweisen nur im Einzelfall durch entsprechende fachliche Experten auf dem Gebiet der Kinderneurologie und Kinder- psychiatrie möglich.

Diese Auskunft erteilte Frau Bun- desgesundheitsminister Dr. Katha- rina Focke auf eine parlamentari- sche Anfrage des SPD-Bundestags- abgeordneten und Mitgliedes des Gesundheitspolitischen Ausschus- ses, Udo Fiebig. Gleichzeitig wies die Ministerin darauf hin, daß die Patienten deshalb in den bereits bestehenden Einrichtungen der Kinderneurologie und -psychiatrie betreut würden. Diese Kliniken reichten zwar noch nicht für eine optimale Betreuung aus. Dies liege aber darin begründet, daß es den Facharzt für Kinderpsychiatrie erst seit wenigen Jahren gebe.

Die Bundesregierung hält es aber aus den aufgeführten Gründen nicht für angebracht, besondere Modelleinrichtungen zur Förderung autistischer Kinder zu schaffen. Sie sei aber bereit, Forschungsaufträ- ge, die sich mit dem Problem des autistischen Verhaltens beschäfti- gen, zu fördern.

Frau Dr. Focke sagte, daß es sich beim kindlichen Autismus um ein Syndrom handele, das durch ver- schiedene Ursachen bedingt sei und deshalb auch unterschiedliche Anforderungen an die Behandlung stelle.

Der Autismus trete selten als selb- ständiges Krankheitsbild auf, son- dern meist als Folge einer milieu- bedingten, krankhaften Störung, oft im Zusammenhang mit einer früh- kindlichen Hirnschädigung oder einer echten Geisteskrankheit. HC

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft

11

vom 11. März 1976

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