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Archiv "Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Die private Säule der Volksversicherung" (13.07.2009)

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P O L I T I K

D

ie kniffligste Aufgabe für die Verfassungsrichter war der Fall des Herrn W. Der Prokurist, An- fang 30, war seit seinem 16. Lebens- jahr privat krankenversichert. Er blieb es in zehn Jahren als Ange- stellter, als er 1999 eine freiberufli- che Tätigkeit aufnahm und auch, als er am 1. November 2007 von einem Erlebnisbad angestellt wurde. Doch nun musste er zwangsweise in eine gesetzliche Kasse , obwohl sein Ge- halt über der Versicherungspflicht- grenze liegt. Denn im GKV-Wettbe- werbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) ist festgelegt, dass Arbeiter und Angestellte nur noch dann von der Versicherungspflicht in der GKV befreit sind, wenn ihr Einkommen drei aufeinanderfolgende Jahre lang die Versicherungspflichtgrenze von derzeit 48 600 Euro überschritten hat. Zwar sind Arbeitnehmer, die am 2. Februar 2007 privatversichert waren, von der Neuregelung ausge- nommen. Aber an diesem Stichtag war Herr W. ja noch selbstständig.

Als privater Be- schwerdeführer machte er beim Bundesverfas- sungsgericht eine Verletzung der allgemeinen Hand- lungsfreiheit gel- tend. Der Gesetz- geber gebe keine Er- klärung dafür, warum Personen erst nach drei Jahren Wartezeit die so- ziale Schutzbedürftigkeit, mit der die GKV-Pflichtmitgliedschaft be- gründet wird, verlören. Mehrere pri- vate Krankenversicherer sehen sich durch die neue Vorschrift in ihrer Berufsfreiheit beschränkt. Ihnen werde ohne rechtfertigenden Grund ein potenzieller Kundenkreis für mindestens drei Jahre entzogen.

Der Erste Senat des Bundesver- fassungsgerichts (BVerfG) hat sich mit der Zurückweisung dieser Klage schwergetan. Anders als bei den übri- gen Beschwerden der privaten Krankenversicherer, die einstimmig zurückgewiesen wurden, erging die- se Entscheidung mit fünf zu drei Stimmen. Die Mehrheit des Richter- kollegiums sah den Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Artikels 2 Grundgesetz als gerecht- fertigt an, weil die Neuregelung dar- auf abziele, die Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversiche- rung (GKV) zu stärken. „Der Gesetz- geber kann den Kreis der Pflichtver- sicherten so abgrenzen, wie es für die Begründung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft erforderlich ist“, heißt es in dem Urteil vom 10.

Juni 2009 (Aktenzeichen: 1 BvR 706/08 u. a.). Die Neuregelung sei den Betroffenen auch zumutbar. „Da- mit sollen insbesondere Beschäftigte, welche zuvor unter Umständen jahr- zehntelang als beitragsfreie Familien- versicherte, als Auszubildende oder

Berufsanfänger mit geringem Arbeits- entgelt von den Leistungen der Soli- dargemeinschaft profitiert haben, . . . für eine gewissen Zeitraum weiterhin an die Solidargemeinschaft gebun- den werden.“ Das Gericht räumt ein, dass „diese nachlaufende Solidarität“

insbesondere für akademische Be- rufsanfänger, die bisher in vielen Fällen schon mit ihrem ersten Ein- kommen versicherungsfrei waren, nicht zutreffe. Gleichwohl sei die Versicherungspflicht auch für diese Personengruppe, der auch Be- schwerdeführer Herr W. angehört, zumutbar. Dass drei der acht Rich- ter dies anders sehen, kann man nur vermuten: Ein Sondervotum gibt es in dem Urteil nicht. Dass mit einem höheren Eintrittsalter nach der War- tezeit ein höherer Beitrag zu zahlen sei, „wird keinen Versicherten dar- an hindern, in die private Kranken- versicherung zu wechseln“, schrei- ben die Richter. Der Bestand von 8,3 Millionen Privatversicherten bleibe ohnehin unberührt.

Beschwerde gegen Wahltarife der Kassen erfolglos

Der erschwerte Zugang zu Neukun- den ist aus Sicht der klagenden Pri- vatversicherer nur ein Beispiel von mehreren Regelungen der Gesund- heitsreform, die geeignet seien, ihr Geschäftsmodell zu zerstören. Wei- tere sind die Einführung eines Ba- sistarifs mit Kontrahierungszwang (kein Versicherter darf abgelehnt werden), ohne Risikozuschläge und mit einem Höchstbeitrag, dessen Höhe bei Hilfsbedürftigkeit zu hal- bieren ist, zudem das Recht des Pri- vatversicherten, bei einem Wechsel der Gesellschaft die Alterungsrück- stellungen teilweise mitzunehmen.

Gerade in Wahlkampfzeiten wird das Karlsruher Urteil daraufhin ab- geklopft, inwiefern es dem Gesetz- geber künftig Beschränkungen auf-

DAS URTEIL DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS

Die private Säule der Volksversicherung

Den erschwerten Zugang zur privaten Krankenversicherung hat der Erste Senat nur mit knapper Stimmenmehrheit gebilligt. Hat die PKV in heutiger Form eine Bestandsgarantie?

A1444 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 28–29⏐⏐13. Juli 2009

Foto: vario images

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 28–29⏐⏐13. Juli 2009 A1445

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erlegt. Vor diesem Hintergrund ist von Bedeutung, dass die Richter durch Wahltarife in der GKV mit Selbstbehalt oder Beitragsrücker- stattung die Berufsfreiheit der pri- vaten Krankenversicherer gemäß Artikel 12 Grundgesetz nicht ver- letzt sehen. Die Sozialversicherung werde kompetenzwidrig auf einem Markt der Privatversicherung tätig, hatte die PKV argumentiert. Die Richter stuften die Beschwerde als unzulässig ein, weil die privaten Versicherer nicht unmittelbar be- troffen seien. Eine saubere Tren- nung der beiden Versicherungsprin- zipien – Umlageverfahren mit ein- kommensabhängigen Beiträgen ( in der GKV) und risikoäquivalenten Prämien mit Kapitaldeckung ( in der PKV) – für sich genommen ist, wie sich hier zeigt, keine verfassungs- rechtlich schützenswerte Kategorie.

Unzulässig ist nach Ansicht des BVerfG auch die Beschwerde der PKV gegen eine „Subventionierung der beitragsfreien Mitversicherung von Kindern“ in der GKV durch eine Erhöhung des Bundeszuschus- ses. Der Bundeszuschuss führe zu einer alle GKV-Mitglieder gleich- mäßig begünstigenden Ermäßigung der Beitragssätze. Diese habe „kei- nen mit der Verfassungsbeschwerde angreifbaren Nachteil der privaten Krankenversicherungsunternehmen zur Folge“.

Schon in der mündlichen Verhand- lung in Karlsruhe am 10. Dezember 2008 hatte Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, der Vorsitzende des Ersten Senats, die in der Begründung zum GKV-WSG niedergelegte Zielset- zung des Gesetzgebers referiert: „Ge- setzliche und private Krankenver- sicherung sollen als jeweils eigene Säule für die ihnen zugewiesenen Personenkreise einen dauerhaften und ausreichenden Versicherungs- schutz gegen das Risiko der Krank- heit auch in sozialen Bedarfssituatio- nen sicherstellen.“ Diesen Satz haben die Richter auch ins Urteil geschrie- ben. Vor diesem Hintergrund bewer- ten sie den Basistarif als „eine zuläs- sige, sozialstaatliche Indienstnahme der privaten Krankenversicherungs- unternehmen zum gemeinen Wohl, die der mit dem GKV-Wettbewerbs- stärkungsgesetz angestrebten Voll-

funktionalität der privaten Kranken- versicherung für alle ihr zugewiese- nen Versicherten dient . . .“ Auch einen mit der Berufsfreiheit unver- einbaren „additiven Grundrechts- eingriff“ durch die Summe der Ein- zelregelungen verneint das BVerG.

Dabei beruft es sich ausdrücklich auf die Aussagen von zwei Gutach- tern, die das PKV-Geschäftsmodell aktuell nicht ernsthaft bedroht sehen.

Bisher keine „Auszehrung des Hauptgeschäfts“ der PKV

Den Gesetzgeber treffe jedoch eine Beobachtungspflicht. Denn das Ge- richt sieht durchaus die Möglichkeit, dass durch einen Zustrom in den sub- ventionsbedürftigen Basistarif und Prämiensteigerungen in den Normal- tarifen eine „Auszehrung des ei- gentlichen Hauptgeschäfts der priva- ten Krankenversicherung“ eintreten könnte. Wenn der Gesetzgeber den privaten Krankenversicherungen die Aufgabe zuweise, im Rahmen eines

privatwirtschaftlich organisierten Marktes für die Versicherten einen Basisschutz bereitzustellen, „muss er auch im Interesse der Versicherten darauf achten, dass dies keine unzu- mutbaren Folgen für Versicherungs- unternehmen und die bei ihnen Versi- cherten hat.“ Was unzumutbar wäre, wird nicht erörtert. Und die Möglich- keit, dass der Gesetzgeber keine Vollfunktionalität der PKV mehr für notwendig erachtet, mussten die Richter nicht prüfen. Sie unterstrei- chen die Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers. Wenn er eine Volks- versicherung aus zwei Versiche- rungssäulen schaffe, könne er „die Personengruppen diesen beiden in einer ausgewogenen Lastenvertei- lung zuordnen“. Könnte die Politik eine Bürgerversicherung für alle schaffen und die PKV auf Zusatzan- gebote reduzieren? Die Richter sa- hen keinen Anlass, Parteiprogramme

zu bewerten. I

Heinz Stüwe

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hält auch nach dem Karlsruher Urteil die Ein- führung der Bürgerversiche- rung durch den Gesetzgeber für möglich. Stimmen Sie zu?

Gadomski:Wer das Neben- einander von privater und ge- setzlicher Krankenversicherung (PKV/GKV) als unsozial bezeich- net und in den Urteilen des Bun- desverfassungsgerichts grünes Licht für eine Einheitsversiche- rung sehen will, tut dies aus ideologischen Gründen. Ich bleibe dabei, das Bundesverfas- sungsgericht hat das Existenz- recht der PKV klar bestätigt, und zwar nicht nur für die Zusatz- versicherungen, sondern als eigene Säule neben der GKV.

Warum halten Sie eine Koexistenz zweier Systeme für besser?

Gadomski:Für mich ist der hohe medizinische Standard in

Deutschland nicht zuletzt das Ergebnis des Zusammenwir- kens beider Versicherungssys- teme. Gerade durch die Ko- existenz von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, Krankenvollversicherung um genau zu sein, konnten bislang sowohl die Nachteile staatli- cher Gesundheitssysteme, wie lange Wartezeiten, Einschrän- kungen bei der Patienten- souveränität und die Entstehung

„grauer" Gesundheitsmärkte, als auch die Risiken rein marktwirtschaftlicher Systeme mit Entsolidarisierung und Preiswettbewerb zulasten der Patienten vermieden werden.

Zudem würde durch die Zwangseingliederung der PKV- Versicherten in die GKV kaum etwas gewonnen: Der erhoffte Entlastungseffekt wäre rasch wieder verflogen, und die neue Einheitsversicherung würde über kurz oder lang von den

aus der GKV übernommenen Strukturdefiziten eingeholt werden.

Sie arbeiten in der Bundes- ärztekammer mit Hochdruck an einer neuen Gebührenord- nung für Ärzte (GOÄ). Wann könnte diese in Kraft treten?

Gadomski:Ein stärker wettbe- werblich ausgerichtetes Ge- sundheitswesen bedarf mehr denn je einer einzelleistungsba- sierten, sektorübergreifenden Referenzgebührenordnung, ge- rade aufgrund ihrer Schutz- funktion sowohl für Patienten als auch für Ärzte. Von daher sehen wir gute Chancen, so- wohl die PKV als auch das BMG von unserem Vorschlag über- zeugen zu können. Nach der Bundestagswahl wird aber zunächst die Novellierung der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) auf der politischen Agenda stehen.

3 FRAGEN AN…

Sanitätsrat Dr. med. Franz Gadomski, Präsident der Ärztekammer des Saarlandes

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