Aktuelle Medizin
BEKANNTMACHUNG DER BUNDESÄRZTEKAMMER
Genetische Beratung und pränatale
genetische Diagnostik
Eine Kurzinformation für den Arzt
ln unserer Zeit ist das Schicksal behinderter Mitmenschen jeder- mann bewußt geworden. Deshalb machen sich immer mehr Paare Sorgen um die Gesundheit ihrer künftigen Kinder. Sie erwarten von ihrem Arzt, daß er sie auf besondere Risiken schon vor der Zeugung von Kindern hinweist.
Ist bereits ein behindertes Kind geboren, wagen sie oft ohne Aus- kunft über das Wiederholungsri- siko keine erneute Schwanger- schaft. Hier können die geneti- sche Beratung, und in manchen Fällen die pränatale genetische Diagnostik aus dem Fruchtwas- ser, helfen.
Die Bedeutung dieser präventi- ven Tätigkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß mindestens 5 von 100 Neugeborenen mit einem ge- netischen Defekt zur Weit kom- men. Dieser Defekt kann, wie zum Beispiel eine Fehlbildung, schon bei der Geburt erkennbar sein. Er mag, wie eine Muskel- krankheit, auch erst später zuta- ge treten.
ln der genetischen Beratung kann durch eine auf ärztliche Be- funde gestützte Familienana- mnese oder durch die Untersu- chung der Ratsuchenden in man- chen Fällen ein besonderes Risi- ko für das Auftreten einer be- stimmten Krankheit bei den ge- wünschten Kindern festgestellt oder ausgeschlossen werden. ln voller Kenntnis der Höhe dieses Risikos und gegebenenfalls der Schwere der zu befürchtenden
Krankheit können dann die Rat- suchenden ihre Entscheidung treffen.
Wann sollte der Arzt an die Möglichkeit der
genetischen Beratung denken?
~ Nach der Geburt eines behin- derten Kindes.
~ Falls eine möglicherweise ge- netisch bedingte Krankheit in der Familie oder bei einem der Frage- steller bekannt ist. Auch das ein- malige Vorkommen einer Krank- heit spricht nicht immer gegen eine genetische Ursache.
~ Bei älteren Paaren oder en- gen Blutsverwandten mit Kinder- wunsch.
~ Bei wiederholten gynäkolo- gisch nicht erklärbaren Aborten oder totgeborenen Kindern.
~ ln seltenen Fällen kann eine besondere Belastung mit Muta- genen oder Teratogenen (insbe- sondere ionisierende Strahlen oder Zytostatika) vor oder in der Schwangerschaft Anlaß zur ge- netischen Beratung werden.
Bei den einfach vererbten Krank- heiten können die Risiken für die Nachkommen je nach Familiensi- tuation zwischen 0 und 50 Pro- zent betragen. Es sind mehr als 2000 derartige Leiden bekannt.
Viele davon sind selten. Einzelne treten aber relativ häufig auf, so die zystische Fibrose (Mukoviszi-
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dose) bei 1 von 3000, die Phenyl- ketonurie bei 1 von 10 000 bis 20 000 Kindern. Als weitere Bei- spiele seien genannt: adrenoge- nitale Syndrome, akute intermit- tierende Porphyrie, Albinismus, Dystrophia myotonica, Galak- tosämie, lchthyosis congeni- ta, Hämophilie, Huntingtonsche Chorea, Kugelzellanämie, zahl- reiche Muskeldystrophien, Neu- rofibromatose, Osteogenesis im- perfecta, Polydaktylie, Spalt- hand, Sphingolipidosen, Syndak- tylie, tuberöse Sklerose, Xeroder- ma pigmentosum.
Weit häufiger sind polygen oder multifaktoriell vererbte Krankhei- ten. Am Zustandekommen dieser Gruppen erblicher Leiden sind auch exogene Faktoren beteiligt.
Die Schätzung des Risikos für Nachkommen beziehungsweise Geschwister von Kranken beruht auf Erfahrungswerten (empiri- sche Erbprognose). Typische Werte liegen zwischen 2 und 10 Prozent. Als Beispiele polygener Krankheiten lassen sich nennen:
Die meisten Formen von Atopien, Diabetes mellitus, Epilepsien, Hüftgelenksluxation, Klumpfuß, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, manisch-depressive Psychosen, Psoriasis, Pylorusstenose, Spina bifida, Schizophrenien und die meisten angeborenen Herzde- fekte.
Die Abgrenzung von Sonderfor- men mit einfachem Erbgang oder anderen Ursachen ist hier beson- ders wichtig. Die genetische Be- ratung bei multifaktoriell vererb- ten Krankheiten ist deshalb häu- fig schwieriger als bei Leiden mit einfachem Erbgang.
Eine weitere Gruppe genetisch bedingter Störungen beruht auf einer Abweichung von der nor- malen Zahl oder Struktur der Chromosomen. Sie stellen über- wiegend Neumutationen in den Keimzellen gesunder Eitern dar,
werden also zumeist nicht über mehrere Generationen vererbt.
Das wichtigste Beispiel für eine veränderte Chromosomenzahl ist der Mongolismus (mit einer Häu- figkeit von 1 bis 2 auf 1000 Neu- geborene).
Weitere häufigere Veränderun- gen sind die Trisomien 13 und 18 (Pätau- und Edwards-Syndrom), sowie bei den Gonosomen das Turner-Syndrom (45, XO) unqdas Klinefelter-Syndrom (47, XXY). Ganz besondere Bedeutung für das Wiederholungsrisiko haben Chromosomen-Umbauten, soge- nannte Translokationen. Daher ist auch bei allen Patienten mit dem Verdacht auf eine Chromo- somenkrankheit eine Chromoso- menanalyse erforderlich, um die genaue Form festzulegen. Typi- sche Risiken nach der Geburt ei- nes Kindes mit einer Chromoso- men-Anomalie haben eine Grö- ßenordnung zwischen 1 und 10 Prozent.
Hier kann die pränatale geneti- sche Diagnostik helfen, da Chro- mosomenanomalien des Feten aus den im Fruchtwasser enthal- tenen Zellen erkannt werden können.
Auch bei einer größeren Zahl von Stoffwechselanomalien, beson- ders bei den Sphingolipidosen, ist eine Diagnose aus den durch Amniozentese gewonnenen Zel- len des Fruchtwassers möglich.
Die Erfahrung zeigt, daß in 96 bis 97 Prozent aller Schwanger- schaften, die zu einer pränatalen Diagnostik kommen, die befürch- tete Anomalie oder Krankheit beim Feten ausgeschlossen wer- den kann. in 3 bis 4 Prozent aller Untersuchungen wurde·die Dia- gnose einer schweren geneti- schen Krankheit beim Feten ge- stellt. Dann kann auf Wunsch der Mutter eine lnterruptio (nach
§ 218 a, Abs. 2, Nr. 1 und Abs. 3) erfolgen. Der Arzt sollte eine Fruchtwasserdiagnostik erwä-
gen, wenn:
~ eine Mutter bereits ein mon- goloides Kind oder ein Kind mit einer anderen Chromosomen- anomalie geboren hat,
~ bei einem der Eltern eine Chromosomenanomalie (zum Beispiel eine balancierte Translo- kation) bekannt ist,
~ die Mutter mindestens 37 Jah- re alt ist (altersbedingte Risikoer- höhung),
~ ein Risiko für das Auftreten einer Stoffwechselstörung beim Feten besteht und wenn diese Stoffwechselstörung aus dem Fruchtwasser diagnostiziert wer- den kann,
~ die Mutter Konduktorin für ei- ne schwere X-chromosomal re- zessive Krankheit ist. Sofern eine direkte Diagnose noch nicht möglich ist, wird hier das Ge- schlecht des Feten bestimmt, da nur Knaben ein Erkrankungsrisi- ko von 50 Prozent tragen,
~ durch die vorhergehende Ge- burt eines entsprechend kranken Kindes oder durch die Familien- anamnese ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer Spina bifida nachgewiesen ist oder eine Al-
pha1- Fetoprotein-U ntersuch u ng im Serum der Graviden erhöhte Werte ergeben hat
Die pränatale genetische Diagno- stik aus dem Fruchtwasser ist keine Methode, mit der man ge- nerell ängstlichen Müttern die Geburt eines gesunden Kindes garantieren kann. Eine solche Diagnostik ist deshalb nur dann indiziert, wenn vorher in der ge- netischen Beratung festgestellt wurde, daß der Fet ein besonde- res Risiko für das Auftreten einer
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aus dem Fruchtwasser erkennba- ren Krankheit trägt.
Zweifelsfragen zur Indikation ei- ner genetischen Beratung oder einer pränatalen Diagnostik soll- te der Hausarzt mit der nächsten genetischen Beratungsstelle klä- ren. Ein Verzeichnis enthält der Anhang.
Generell wird genetische Bera- tung an den Instituten für Hu- mangenetik oder für Anthropolo- gie und Humangenetik aller Uni- versitäten und medizinischen Hochschu Jen du rehgeführt Genetische Beratung und präna- tale Diagnostik erfordern als kas- senärztliche Leistungen einen Überweisungsschein.
Anhang:
Genetische Beratungsstellen in der
Bundesrepublik Deutschland Berlin
Heubnerweg 6 1000 Berlin 19
Telefon 0 30/3 20 33 76 Bochum
Universitätsstraße 150 4630 Bochum 1
Telefon 02 34/7 00 56 00 Bonn
Wilhelmstraße 31 5300 Bann 1
Telefon 0 22 21/65 29 81 App. 3 46 oder 3 47 Braunschweig Gaußstraße 17 3300 Braunschweig Telefon 05 31/3 91 25 30 Bremen
Leobenerstraße 2800 Bremen 33
Telefon 04 21/2 18 23 90
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Bremen
Horner Straße 60-70 2800 Bremen 1
Telefon 04 21/4 97 55 69 Düsseldorf
Universitätsstraße 1 Gebäude 23.12 4000 Düsseldorf 1 Telefon 02 11/3 11 39 63 od. 3 11 23 55
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Hufelandstraße 55 4300 Essen 1
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Kennedyallee 123 6000 Frankfurt/Main Telefon 06 11/63 01 56 78 Freiburg
Albertstraße 11 7800 Freiburg
Telefon 07 61/2 03 46 69 od. 46 39
Gießen
Schlangenzahl 14 6300 Gießen
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Nikolausberger Weg 5 a 3400 Göttingen
Telefon 05 51/39 75 90
Hamburg Martinistraße 52 2000 Hamburg 20 Telefon 0 40/4 68 31 20
Hamburg
Rübenkamp 148, Haus 36 2000 Hamburg 60 Telefoh 0 40/6 38 54 00 Hannover
Karl-Wiechert-Allee 9 3000 Hannover 61 Telefon 05 11/5 32 32 00 od. 32 01
Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 328 6900 Heidelberg 1
Telefon 0 62 21/56 38 91 Homburg
Universitätskliniken, Bau 68 6650 Homburg
Telefon 0 68 41/16 22 72 Kiel
Schwanenweg 24 2300 Kiel
Telefon 04 31/5 97 27 90 od. 27 91
Kiel
Schwanenweg 20 2300 Kiel
Telefon 04 31/5 97 38 78 od. 39 45
Lübeck
Ratzeburger Allee 160 2400 Lübeck
Telefon 04 51/50 32 16
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Große Langgasse 29 6500 Mainz
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Bahnhofstraße 7 A 3550 Marburg/Lahn Telefon 0 64 21/28 22 13 München
Richard-Wagner-Straße 10/1 8000 München 2
Telefon 0 89/5 20 33 81 München
Goethestraße 29 8000 München 2 Telefon 0 89/5 99 63 40 Münster
Vesaliusweg 12-14 4400 Münster
Telefon 02 51/83 54 23 Tübingen
Wilhelmstraße 27 7400 Tübingen
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Prittwitzstraße 6 7900 Ulm/Donau Telefon 07 31/1 79 40 11 Ulm
Oberer Eselsberg 7900 Ulm/Donau Telefon 07 31/1 76 32 54
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