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Archiv "Genetische Beratung und pränatale Diagnostik in der Bundesrepublik Deutschland" (24.01.1980)

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Genetische Beratung

und pränatale Diagnostik in der Bundesrepublik Deutschland

1. Definition

der genetischen Beratung und der pränatalen genetischen Diagnostik

1.1 Genetische Beratung ist eine ärztliche Hilfe im Interesse der Gesundheit unserer Bevölke- rung.

In einer Zeit, in der fast jeder- mann durch die Massenmedien über das Schicksal der Behinder- ten informiert ist, machen sich immer mehr Paare Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder. Diesen besorgten Familien will die gene- tische Beratung helfen, indem sie ihnen — möglichst schon vor der Zeugung von Kindern — die Frage beantwortet, ob sich aus der Fa- milienanamnese oder durch eine Untersuchung der Fragesteller ein besonderes Risiko für eine bestimmte Krankheit bei den ge- wünschten Kindern erkennen läßt.

In vielen Fällen können dabei un- begründete Sorgen zerstreut werden, die anders oft den Kin- derwunsch unterdrückt hätten.

Ergibt die genetische Beratung jedoch ein hohes Risiko für eine schwere Erkrankung des Kindes, dann können die Paare in voller Kenntnis des Risikos und der Schwere des befürchteten Lei- dens sowie der therapeutischen Möglichkeiten dieses Risiko ak- zeptieren oder auf eigene Kinder verzichten. Genetische Beratung ist also ein wichtiges Teilgebiet der Präventivmedizin.

1.1.1 Weite Bereiche der Bera- tungstätigkeit können auf Ergeb-

nisse zurückgehen, die durch Wissenschaftler mit anderen Aus- bildungsgängen erarbeitet wur- den. Die genetische Beratung selbst sollte grundsätzlich nur von einem in Klinik und Genetik erfahrenen Arzt durchgeführt werden.

Oft muß vor der genetischen Be- ratung zunächst die klinisch-ge- netische Diagnose gestellt oder gesichert werden (Emery 1975, Sly 1973).

1.1.2 Genetische Beratung wird als eine Tätigkeit im Interesse der Gesundheit unserer Bevölkerung definiert. Sie hat nichts mit dem zu tun, was man früher unter Eu- genik verstand. Erbdefekte sind so häufig, daß auch jeder Gesun- de damit rechnen muß, eine oder mehrere ungünstige Erbanlagen verdeckt zu tragen.

Der Arzt in der Beratung wird im- mer nur prüfen, ob sich ein über- durchschnittliches Erkrankungs- risiko für die Kinder der Rat- suchenden erkennen läßt. Er gibt so den Familien eine Entschei- dungshilfe.

1.1.3 Eingangs wurde betont, daß genetische Beratung sehr häufig aus der Familiensituation verständliche Sorgen um die Ge- sundheit der Kinder zerstreuen kann. Deshalb ist die Vorstellung falsch, durch die genetische Be- ratung könnten die derzeit niedri- gen Geburtenziffern weiter ge- drückt werden. Das Gegenteil ist der Fall: Sehr viele Familien ent- schließen sich erst dann zu Kin- dern oder zu weiteren Kindern,

wenn genetischer Rat ihnen er- klärt, daß Ängste, die vorher den Kinderwunsch unterdrückt hat- ten, unbegründet sind.

1.2 Die pränatale genetische Dia- gnostik aus dem Fruchtwasser nach Amniozentese in der Früh- schwangerschaft stellt in einigen Fällen eine zusätzliche Hilfe dar.

Wenn nämlich das in der geneti- schen Beratung festgestellte Ri- siko eine Krankheit betrifft, die sich aus dem Fruchtwasser für den Feten diagnostizieren läßt, dann kann eine Fruchtwasserun- tersuchung die Wahrscheinlich- keitsangabe durch die sichere Feststellung oder den Ausschluß der Krankheit ersetzen. Umfang- reiche internationale Erfahrun- gen und insbesondere eine von der Deutschen Forschungsge- meinschaft geförderte Studie zei- gen, daß bei Risikofällen, die zu einer Fruchtwasserdiagnostik führen, in nur 3 bis 4 Prozent wegen nachgewiesener Anoma- lie des Feten ein Abbruch der Schwangerschaft notwendig wird.

In 96 bis 97 Prozent aller Fälle bewirkt also die pränatale geneti- sche Diagnostik, daß Ratsuchen- de ohne Sorgen ein Kind bekom- men können: Ansonsten hätten sie in vielen Fällen auf Kinder ver- zichtet.

1.2.1 Die pränatale genetische Diagnostik aus dem Fruchtwas- ser erfordert die enge Zusam- menarbeit zwischen einer Frau- enklinik und der genetischen Be- ratungstelle. Dabei geht es auch um eine Abwägung zwischen dem genetischen Risiko und dem Risiko des Eingriffes.

Die Amniozentese sollte mög- lichst in Zentren erfolgen, die ei- ne enge Zusammenarbeit mit ei- ner genetischen Beratungsstelle haben. Sie kann nur unter klarer Indikation durchgeführt werden.>

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Bei der Fruchtwasserdiagnostik handelt es sich nicht um eine Me- thode, mit der ängstlichen Müt- tern die Geburt eines gesunden Kindes garantiert werden kann.

Aus dem Fruchtwasser lassen sich nur bestimmte Krankheiten des Feten diagnostizieren. Die meisten Erbkrankheiten sind nicht aus dem Fruchtwasser zu erkennen.

Eine Fruchtwasseruntersuchung ist daher nur dann indiziert, wenn ein begründeter Verdacht be- steht, daß bei dem Feten eine der wenigen, überhaupt aus dem Fruchtwasser diagnostizierbaren Krankheiten vorliegen könnte.

Der Fruchtwasseruntersuchung sollte generell eine genetische Beratung vorausgehen.

2. Die Notwendigkeit der genetischen Beratung

Für die Beachtung der Notwen- digkeit einer genetischen Bera- tung und pränatalen Diagnostik durch die gesamte Ärzteschaft gibt es viele gute Gründe. Einige seien hier aufgeführt:

2.1 Das Spektrum der in der Kli- nik und in der Praxis vorkom- menden Krankheiten hat sich ver- schoben: Genetische Leiden nehmen im Verhältnis zu anderen Erkrankungen zu. Das beruht nicht nur auf der genaueren ge- netischen Diagnostik, sondern auch auf dem Rückgang von Mangelkrankheiten und Infektio- nen. Etwa eines von 20 Kindern, die stationär aufgenommen wer- den, leidet an einer einfach ver- erbten Krankheit oder an einem chromosomalen Defekt. Geneti- sche Leiden sind zugleich für ei- nen von zehn Todesfällen im Kin- desalter verantwortlich (Emery 1974, 1975; Hall u. a. 1978).

2.2 Man muß aber zugleich be- fürchten, daß genetische Krank-

heiten nicht nur relativ, sondern auch absolut häufiger werden.

Dieses Häufigerwerden geneti- scher Krankheiten unter den Neugeborenen könnte mit der modernen perinatalen Medizin zusammenhängen: Sie läßt viele Kinder überleben, die früher wäh- rend der Schwangerschaft oder Geburt verstorben wären.

Sodann ist eine absolute Zunah- me genetischer Krankheiten zu befürchten, weil immer mehr ge- netisch kranke Menschen kli- nisch so weit geheilt oder gebes- sert werden, daß sie sich normal oder fast normal fortpflanzen können. Auf diese Weise gelan- gen aufs Ganze gesehen sicher mehr krankmachende Erbanla- gen in die nächste Generation als früher.

Betont sei jedoch, daß der Zu- sammenhang zwischen Heilbar- keit und Häufigkeitszunahme für jede Erbkrankheit gesondert ge-

prüft werden muß.

2.3 Ein gewichtiges und für je- dermann leicht einsehbares Ar- gument für die Notwendigkeit ge- netischer Beratung ergibt sich aus dem Behindertenproblem.

Zweifellos steigt derzeit der An- teil der unter uns lebenden be- hinderten Mitmenschen von Jahr zu Jahr. Dieser Anstieg beruht nur zu einem kleinen Teil auf ei- ner Zunahme der angeborenen Behinderungen. Im wesentlichen geht dieser Anstieg der Behinder- tenzahl zurück auf eine Zunahme der Lebenserwartung fast aller Gruppen von Behinderten durch eine in den letzten Jahrzehnten fortlaufend verbesserte ärztliche und soziale Betreuung.

Wir stehen vor der Notwendig- keit, immer mehr und immer älte- re Behinderte zu versorgen. Wir diskutieren neben Früherken-

nung und schulischer Betreuung jetzt auch Sexualität, Partner- schaft, Ehe und berufliche Inte- gration.

Die Grenze der Leistungsfähig- keit der Gesamtheit der Versi- cherten und des Staates im Be- reich gesundheitlicher Maßnah- men ist in Sicht, ja verschiedent- lich bereits überschritten. Als wichtige Konsequenz ergibt sich aus dieser Situation, daß der Krankheitsvorbeugung und somit auch der genetischen Beratung für die Zukunft ein besonderes Gewicht beigemessen werden muß.

2.4 Ein weiteres bedeutsames Argument für den Ausbau geneti- scher Beratungsstellen läßt sich auf den rasch wachsenden Auf- klärungsgrad unserer Bevölke- rung zurückführen. Von besorg- ten Familien wird genetische Be- ratung immer häufiger gesucht.

Zugleich steigt die Frequenz ärzt- licher Überweisungen.

Bei der heute einfachen Fami- lienplanung ist es wichtig, daß die wenigen gewünschten Kinder gesund zur Welt kommen. Die Fa- milien „erwarten" von ihrem Arzt, daß er sie schon vor der Zeugung auf besondere Risiken für die Ge- sundheit der gewünschten Kin- der hinweist und daß er diese Ri- siken soweit wie möglich aus- schließt. Ist bereits ein krankes Kind geboren, dann wünschen die Eltern vom Arzt eine verläßli- che Auskunft zum Wiederho- lungsrisiko. Hier steigt ein Druck aus der Bevölkerung, der den Arzt veranlassen sollte, sich über die Möglichkeiten genetischer Beratung so zu orientieren, daß er seinen Patienten die richtigen Ratschläge geben kann.

2.5 Eine rechtzeitige genetische Beratung kann schon vor Eintritt einer Schwangerschaft manchen Paaren ein besonderes Risiko für

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künftige Kinder vorhersagen. Da- durch wird dann zumeist die spätere Bitte um einen Abbruch der Schwangerschaft vermieden.

2.6 Ein quantitatives Argument für die Notwendigkeit geneti- scher Beratung zum Schluß:

Fachleute aus aller Welt schätzen übereinstimmend, daß in den h ochzivilisierten Ländern minde- ens fünf Prozent der Neugebo- re nen mit einem ernsten geneti- sc hen Defekt zur Welt kommen.

Di ser genetische Defekt muß fre lich nicht, wie zum Beispiel ein e Fehlbildung oder eine Chro- mos omenstörung, schon bei der Geb urt erkennbar sein. Er kann auch , wie eine Muskelkrankheit oder bestimmte Stoffwechsel- krank heiten, erst im weiteren Le- ben z utage treten.

3. Indi ationen zur genetischen Beratun

Aus Grü den der Kapazität ist es völlig au sgeschlossen, daß alle Paare vor der Familiengründung eine gene tische Beratungsstelle aufsuchen . Das wäre auch un- nötig.

3.1 Durch A ufklärung sollte aber erreicht wer den, daß alle jungen Menschen s chon bei der Fami- lienplanung, alsd vor der Zeu- gung von K indern, sich selbst und ihre Ange hörigen fragen, ob es in der Fa milie Krankheiten gibt, die viellei cht auf Vererbung zurückgeführt werden können.

Dabei ist zu be denken, daß auch das Vorkommen nur eines Krank- heitsfalles durch aus nicht gegen eine genetische Ursache spre- chen muß: Es k önnte sich zum Beispiel um rezes sive Vererbung, um eine dominant e Neumutation oder um die Folg en einer Chro- mosomenanomalie handeln.

Kann diese Frage i nnerhalb der beiden Familien nic ht mit „Nein"

beantwortet werden oder besteht Unsicherheit über vorgekomme- ne Krankheiten, dann sollte der behandelnde Arzt oder der Haus- arzt gefragt werden. Kann dieser eine genetische Krankheit nicht ausschließen, dann wird er zweckmäßig das Paar zur geneti- schen Beratung überweisen.

3.2 Eine praktisch besonders wichtige Indikation ist die Bera- tung von Eltern, denen überra- schend ein krankes Kind geboren wird oder deren Kind nach eini- ger Zeit einen Entwicklungsrück- stand erkennen läßt. Es geht dann um das Wiederholungsrisi- ko. Wurde bereits eine zuverlässi- ge klinisch-genetische Diagnose gestellt, dann wird die Beratung gelegentlich so einfach, daß sie direkt durch den behandelnden Arzt erfolgen kann.

Häufiger muß der genetische Be- rater die Diagnose in klinisch-ge- netischer Hinsicht selbst klären oder in Zusammenarbeit mit an-.

deren Spezialkliniken und Labo- ratorien präzisieren. Ergibt sich dabei eine genetisch bedingte Krankheit, dann liegt das Wieder- holungsrisiko entsprechend dem Erbgang und der Familiensitua- tion meist zwischen 0 und 50 Pro- zent. Die Beratung muß auch die Schwere und die therapeutische Beeinflußbarkeit des Leidens ei- nerseits und die Belastung der Familie andererseits berücksich- tigen.

Besondere Sorgfalt ist geboten, wenn als Ursache für die Krank- heit des Kindes ein exogener Schaden erwogen wird. Natürlich gibt es Fälle, in denen entspre- chende Traumen in der Schwan- gerschaft oder unter der Geburt dokumentiert sind. Wenn dann das klinische Bild zu den exoge- nen Schäden paßt (Rötelinfek- tion, Diabetes der Mutter), dann mag die Beratung einfach sein.

Die Erfahrung zeigt aber, daß

bei uncharakteristischer Vorge- schichte Diagnosen wie „Spa- stiker", „Zerebralparese" oder

„frühkindlicher Hirnschaden" zu häufig gestellt werden.

Viele Eltern wollen nach der überraschenden Geburt eines kranken Kindes von sich aus auf weitere Schwangerschaften ver- zichten. Gerade für sie ist ein ge- netischer Rat wichtig: Nicht sel- ten liegt das Erkrankungsrisiko für die folgenden Kinder nicht über dem Bevölkerungsdurch- schnitt. Auch kann man in man- chen Fällen durch eine Frucht- wasseruntersuchung das be- fürchtete Risiko von den Eltern nehmen.

Manchmal sterben krank gebore- ne Kinder vor einer genauen Dia- gnostik. Der behandelnde Arzt muß in solchen Fällen die Eltern von der Notwendigkeit einer Sek- tion überzeugen. Oft ist dabei der Hinweis nützlich, daß ohne ge- naue Untersuchung des verstor- benen Kindes keine Aussagen über eventuelle Risiken für weite- re Kinder oder für die Nachkom- men gesunder Geschwister mög- lich seien. In jedem Fall sollte man daneben wenigstens eine Röntgenaufnahme des gesamten Körpers und eine Fotodokumen- tation anstreben.

3.3 Nicht selten kommen gesun- de Fragesteller, die wegen einer genetischen Krankheit in der Fa- milie Rat suchen. Dabei läßt sich oft trotz der familiären Vorge- schichte ein spezielles geneti- sches Risiko ausschließen und so eine schwere Sorge beseitigen, die vielleicht den Kinderwunsch dauerhaft unterdrückt hätte. Dies gilt etwa für die gesunden Ge- schwister von Patienten mit einer Chromosomenanomalie. Wich- tigstes Beispiel ist der Mongolis- mus aufgrund einer Trisomie 21.

Gelegentlich muß man gesunden Fragestellern ein hohes Risiko

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für das Auftreten einer schweren Krankheit bei ihren Kindern vor- hersagen. Das gilt zum Beispiel für Träger einer balancierten Chromosomentranslokation, für Konduktorinnen und für Eltern, die beide gesunde Heterozygote für ein autosomal rezessives Gen mit 25 Prozent Risiko für eine Stoffwechselstörung beim Kind sind. Oft hilft diesen Eltern die Fruchtwasseruntersuchung, mit der sich das erkannte Risiko in eine sichere Aussage über Vorlie- gen oder Ausschluß der Krank- heit beim Föten verwandeln läßt.

3.4 Eine genetische Beratung ist besonders indiziert, wenn enge Blutsverwandtschaft zwischen Ehepartnern besteht oder wenn eine Frau mit Kinderwunsch das 35. Lebensjahr überschritten hat.

So steigt zum Beispiel mit dem Alter der Mutter die Häufigkeit von Trisomien nach dem 35. Le- bensjahr steil an.

3.5 Eine weitere Indikation zur genetischen Beratung und meist zu einer Chromosomendiagno- stik stellen wiederholte gynäkolo- gisch ungeklärte Aborte oder tot- geborene Kinder dar.

3.6 Es gibt Gründe für die An- nahme, daß chemische und phy- sikalische Umwelteinflüsse Aus- wirkungen auf die genetische Substanz haben können. Wenn es sich um eine erhebliche Bela- stung handelt und wenn diese entweder einen der Eheleute vor der Zeugung oder die Frau in der Frühschwangerschaft getroffen hat, dann ist genetische Bera- tung angebracht.

4. Indikationen zur pränatalen Fruchtwasserdiagnostik

Nach dem heutigen Stand lassen sich folgende Indikationen für ei- ne pränatale Fruchtwasserdia- gnostik nennen:

4.1 Eine Indikation allein aus dem höheren Alter der Mutter ist dann gegeben, wenn die Mutter mindestens 37 Jahre alt ist. In diesem Fall überschreitet das Ri- siko für das Vorliegen einer Chro- mosomenanomalie beim Föten die Ein-Prozent-Grenze und steigt danach rasch weiter an.

Bei ausreichender Laborkapazi- tät ist die pränatale Diagnostik bereits nach dem 35. Lebensjahr gerechtfertigt.

4.2 Das Wiederholungsrisiko ist nach der Geburt eines mongolo- iden Kindes mit einer freien Tri- somie 21 gegenüber dem Risiko für Kinder gleichaltriger Mütter etwa verdoppelt. Obwohl auch dann noch das Risiko junger Mütter für ein weiteres Kind mit Mongolismus gering ist, sollte in jeder folgenden Schwanger- schaft eine Amniozentese ange- boten werden.

Bei jedem Kind mit Mongolismus ist eine Chromosomenanalyse auch dann notwendig, wenn die Diagnose klinisch eindeutig ist.

Nur so können familiäre Translo- kationen mit erheblich höherem Risiko erfaßt werden.

Mütter, denen überraschend ein Kind mit Mongolismus geboren wurde, wollen fast immer von sich aus auf weitere Kinder ver- zichten. Erst wenn man ihnen er- klärt, daß mittels der Fruchtwas- serdiagnostik das im Grunde ge- ringe Wiederholungsrisiko aus- geschlossen werden kann, fas- sen sie den Mut zu einer weiteren Schwangerschaft.

4.3 Nicht nur nach der Geburt ei- nes mongoloiden Kindes, auch nach der Geburt eines Kindes, bei dem eine andere Chromoso- menanomalie festgestellt wurde, sollte in jeder weiteren Schwan- gerschaft die Möglichkeit einer Chromosomenstörung beim Fö- ten ausgeschlossen werden.

Auch in diesen Fä Ilen besitzt die pränatale Diagno tik die Funk- tion, der Mutter die Entscheidung für eine weitere Sc wangerschaft zu erleichtern.

4.4 Ist bekannt, daß einer der EI- tern gesunder Träge r einer Chro- mosomen anomalie ist, sollte ebenfalls eine Fruc twasserdia- gnostik durchgeführt werden. Im wesentlichen handelt es sich da- bei um eine sogenan nte „balan- cierte Translokation".

4.5 Wenn die Mutter Kondukto- rin für eine schwere X-c hromoso- mal rezessive Krankhe t ist und wenn diese Krankheit nic ht direkt aus dem Fruchtwasser erkannt werden kann, dann ist e ine prä- natale Diagnostik zur Feststel- lung des Geschlechtes de s Föten zu empfehlen. In diesen Fällen besteht nämlich für Jung en ein Erkrankungsrisiko von 5 0 Pro- zent, während Töchter nic ht er- kranken.

4.6 Ein erhöhtes Risiko fü r das Auftreten einer dorsalen Sc hluß- störung des Achsenskeletts von der Spina bifida occulta bis zum weit offenen Neuralrohr läßt sich aus weiteren Spina-bifida-Fä Ilen in der Familie oder aus der v or- hergehenden Geburt eines K in- des mit dieser Mißbildung abl ei- ten. Ist ein solches Risiko er- kannt, so kann eine quantitati ve Bestimmung der Alpha-Fetopr 0- teine aus dem Fruchtwasser f« .r die Erkennung einer Spina bifid

a

aperta den entscheidenden Hin weis geben.

4.7 Ein Teil der seltenen erb- lichen Stoffwechselstörungen (nicht die Phenylketonurie und nicht die Mukoviszidose) kann durch eine Fruchtwasseruntersu- chung diagnostiziert werden.

Meist ergibt sich die Indikation aus der vorausgegangenen Ge- burt eines entsprechend erkrank- ten Kindes.

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Die Nachweismethoden sind schwierig und meist nur in weni- gen Laboratorien möglich. Sie können deshalb nur dann durch- geführt werden, wenn ein spe- zielles Risikofür den Feten sicher festgestellt wurde. Auf einen Ka- talog der in Betracht kommenden Krankheiten wird verzichtet, weil dieses Gebiet in rascher Entwick- lung ist. ln Zweifelsfällen gibt die nächste genetische Beratungs- stelle Auskunft.

4.8 Die Entnahme von Frucht- wasser erfolgt am besten zwi- schen der 16. und 18. Woche der Schwangerschaft. Eine rechtzei- tige Anmeldung von Patientinnen ist wegen der begrenzten Labor- kapazität dringend notwendig.

5. Der Ratsuchende in der genetischen Beratung

Die genetische Beratung darf sich nicht darauf beschränken, allein zu den erfragten Risiken Stellung zu nehmen. Sie muß durch eine sorgfältige Familien- anamnese und durch die Unter- suchung der Ratsuchenden auch auf diejenigen Risiken eingehen, an die der Patient von sich aus nicht gedacht hätte.

Der Ratsuchende hat ein Recht, nicht nur seine Risikoziffer zu er- fahren, sondern über alle Ge- sichtspunkte informiert zu wer- den, die ihm eine verantwortliche Entscheidung erleichtern kön- nen. Dies erfordert umfassende Erfahrung des Beraters und oft erheblichen Zeitaufwand.

Das Ergebnis einer genetischen Beratung sollte unbedingt so- wohl gegenüber dem Ratsuchen- den als auch gegenüber dem ein- weisenden Arzt schriftlich fixiert werden. Dem Ratsuchenden muß dabei das für ihn wichtige Ergeb- nis in einer seinem Bildungs- stand angemessenen verständli-

chen Formulierung schriftlich zur Verfügung gestellt werden. Es ist gefährlich, wenn das Ergebnis ei- ner genetischen Beratung nur mündlich mitgeteilt wird. Die Er- fahrung zeigt, daß eine mündli- che Mitteilung in der Erinnerung leicht verfälscht wird (Emery

1975; Fraser 1974; Sly 1973).

6. Gegenwart und Zukunft der genetischen Beratung in der

Bundesrepublik Deutschland Die manchmal als Grundlage der genetischen Beratung erforderli- chen Chromosomen- und Stoff- wechseluntersuchungen ein- schließlich der zeitraubenden Zellkulturen für die Fruchtwas- serdiagnostik werden heute in der Bundesrepublik vorwiegend von den humangenetischen Insti- tuten oder von anderen Universi- tätsinstituten, die zum Beispiel auf die Diagnose von Stoffwech- selstörungen spezialisiert sind, durchgeführt.

Die Ansiedlung der genetischen Beratung und der pränatalen Dia- gnostik an den humangeneti- schen Universitätsinstituten ist an sich vernünftig, weil an die- sen Instituten die erforderlichen wissenschaftlichen Erfahrungen, die Spezialbibliotheken und lei- stungsfähige Chromosomenla- boratorien bereits vorhanden sind. Allerdings sind die hu- mangenetischen Institute durch die entstandene Mehrbelastung schon heute hoffnungslos über- fordert:

..,.. Der Bedarf an genetischer Be- ratung und pränataler Diagnostik ist in den letzten Jahren von Mo- nat zu Monat gestiegen. Die per- sonelle Besetzung und die mate- rielle Ausstattung der beteiligten Institute blieb an vielen Orten seit Jahren unverändert. Sie ist im Prinzip auf die Aufgaben der ln-

stitute in Forschung und Lehre zugeschnitten und nicht auf die neuen Aufgaben der Versorgung von Patienten mit genetischer Beratung, mit Chromosomendia- gnostik und mit Fruchtwasserun- tersuchung.

Verschärft wird diese Situation weiter dadurch, daß zum Ende des Jahres 1978 das Schwer- punktprogramm "Pränatale Dia- gnostik genetisch bedingter Defekte" der Deutschen For- schungsgemeinschaft ausgelau- fen ist, das in den letzten Jahren einer Reihe von Instituten Hilfe brachte.

Schon heute ist es völlig ausge- schlossen, daß mit den vorhande- nen Stellen der tatsächliche Be- darf unserer Bevölkerung an ge- netischer Beratung und an prä- nataler Diagnostik gedeckt wird:

..,.. ln der genetischen Beratung und in der Chromosomendiagno- stik bestehen mancherorts mona- telange Wartezeiten. Die pränata- le Diagnostik kann wegen des Engpasses bei der Gewebekultur (Dauer: Drei Wochen mit hohem Persona/aufwand) in den Chro- mosomenlaboratorien nicht allen Frauen angeboten werden, für die sie indiziert wären. ln der Presse finden sich Berichte über Fälle, in denen Frauen ein Kind mit einer Chromosomenkrank- heit zur Weit brachten, die wäh- rend der Frühschwangerschaft mit der begründeten Bitte um ei- ne Fruchtwasserdiagnostik abge- wiesen werden mußten.

Das Mißverständnis zwischen Nachfrage und Angebot an gene- tischer Beratung, Chromosomen- untersuchung und pränataler Diagnostik wird mit Sicherheit weiter steigen.

Dieser zunehmend ungedeckte Bedarf unserer Bevölkerung soll- te endlich die verantwortlichen

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Politiker in den Bundesländern zu einer sinnvollen Förderung dieses Gebietes veranlassen.

Wenn in diesem Zusammenhang von verantwortlichen Politikern die Rede ist, dann meinen wir kei- neswegs allein die Kultusmini- ster, die für die beratenden hu- mangenetischen Institute und für die sonst beteiligten Kliniken und Institutionen im Universitätsbe- reich zuständig sind. Angespro- chen sollten sich auch die für das Gesundheitswesen zuständigen Länderminister fühlen, denn ge- netische Beratung ist ein Eck- pfeiler der Vorsorgemedizin. Bis- her haben sie erst in einigen Län- dern diese Aufgabe erkannt.

Es ist unzweifelhaft, daß die ge- netische Beratung und die auf- wendige Chromosomendiagno- stik unter vertretbarem finanziel- lem Einsatz nur in enger Anleh- nung an die humangenetischen Institute geleistet werden kann.

Deshalb sollten die Kultusmini- sterien und die für das Gesund- heitswesen zuständigen Ministe- rien gemeinsam die Versorgung der Bevölkerung mit genetischer Beratung planen.

Die Diagnostik der Erbkrankhei- ten ist in den letzten Jahren auf- grund neuer Erkenntnisse über die biochemischen Grundlagen der Erbkrankheiten so kompli- ziert geworden, daß es ein Irrweg wäre, die genetische Beratung dadurch auszubauen, daß die

Gesundheitsämter in stärkerem Maße für die Beratung herange- zogen werden.

Selbst die humangenetischen Universitätsinstitute sind nicht in der Lage, sämtliche für die Dia- gnostik erforderlichen Untersu- chungen selbst durchzuführen.

Immerhin besitzen sie die für eine Beratungstätigkeit erforderliche Übersicht über die ständig sich ausweitende wissenschaftliche Literatur und die technischen Voraussetzungen zur Chromoso- menanalyse. Wie die bei der Prä- nataldiagnostik und der Früher- kennung von Krankheiten betei- ligten Frauen- und Kinderklini- ken verfügen sie ferner über die notwendige Kenntnis der für spe- zielle, vor allem biochemische Untersuchungsmethoden geeig- neten Laboratorien. Der perso- nelle und apparative Ausbau die- ser wissenschaftlichen Einrich- tungen verspricht einen weit hö- heren Wirkungsgrad der geneti- schen Beratung.

Die Aufgabe der Gesundheitsäm- ter wie aller niedergelassenen Ärzte und der an der primären Beratung von Eltern und Patien- ten beteiligten Kliniken liegt in der Filterfunktion, die es erlaubt, die einfachere genetische Bera- tung selbst wahrzunehmen, bei problematischeren Fällen aber an die wissenschaftlichen Bera- tungs- und Untersuchungsstellen zu verweisen. Auch hierzu bedarf es allerdings einer verbesserten

Ausbildung während des medizi- nischen Studiums und einer ver- besserten Fortbildung über Erb- krankheiten für diese Ärzte. Wir- kungsvoll kann diese Beratungs- tätigkeit und damit die Krank- heitsprävention aber nur sein, wenn diese wissenschaftlichen Beratungs- und Untersuchungs- institutionen angemessen ausge- stattet werden.

Literatur

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Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer Geschäftsführung

Humboldtstraße 56 (Ärztehaus) Postfach 76 01 09

2000 Hamburg 76

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