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Archiv "Gendiagnostikgesetz und genetische Beratung I: Geschichte eines Irrweges" (20.04.2012)

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A 790 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 109

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Heft 16

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20. April 2012

K

ann man in 72 Stunden, acht Stunden oder sogar ganz oh- ne spezielle Fortbildung und Pra - xiserfahrung die Qualifikation zum Herzspezialisten oder Neurochirur- gen erlangen? Was in anderen ärzt - lichen Fachgebieten absurd erschie- ne, versucht das Gendiagnostikge- setz (GenDG) für eine ärztliche Spe- zialleistung aus der Humangenetik durchzusetzen: Es stellt – auf der Grundlage fragwürdiger Qualifika- tionsvorgaben – seine „genetische Beratung“ neben die fachärztlich qualifizierte humangenetische Bera- tung. Für Ratsuchende und Patien- ten ist dies nicht unterscheidbar. Die Umsetzung der realitätsfernen Ge- setzesbestimmungen hat die Politik den Ärztekammern überlassen.

Scharfschaltung seit Februar Das 2009 veröffentlichte GenDG (Bundesgesetzblatt 2009 Teil I Nr.

50) regelt genetische Untersuchun- gen bei Menschen prä- und postna- tal, diagnostisch und prädiktiv. Es enthält besondere Bestimmungen über eine ärztliche „genetische Bera- tung“ vor und nach genetischer Un- tersuchung. Diese Beratung darf seit

dem 1. Februar 2012 nur noch durch

„Ärztinnen oder Ärzte, die sich für genetische Beratungen qualifiziert haben, vorgenommen werden“.

Der Begriff „Genetische Bera- tung“ bezeichnete bis 2009 aus- schließlich eine spezielle fachärztli- che Leistung, die seit 1992 von den Fachärzten für Humangenetik (zu- vor von Ärzten mit der Zusatzbe- zeichnung Medizinische Genetik) durchgeführt wird. Hierzu qualifi- ziert eine mindestens zweijährige ordentliche Weiterbildung an einer dafür zugelassenen Einrichtung als zentraler Teil der insgesamt fünfjäh- rigen Weiterbildungszeit der Fach- ärzte für Humangenetik. Sie um- fasst den Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten in den theoreti- schen Grundlagen der Humangene- tik, der Beratung von Patienten im familiären Kontext zu verschiede- nen Gebieten der Medizin, der Risi- koberechnung für genetisch beding- te Erkrankungen, psychologischen, ethischen und rechtlichen Gesichts- punkten und der epikritischen Beur- teilung des Beratungsproblems(1).

Das GenDG bestimmt in § 10 Abs. 3: „Die genetische Beratung er-

folgt in allgemein verständlicher Form und ergebnisoffen. Sie umfasst insbesondere die eingehende Erörte- rung der möglichen medizinischen, psychischen und sozialen Fragen im Zusammenhang mit einer Vor- nahme oder Nichtvornahme der ge- netischen Untersuchung und ihren vorliegenden oder möglichen Un - tersuchungsergebnissen sowie der Möglichkeiten zur Unterstützung bei physischen und psychischen Belas- tungen der betroffenen Person durch die Untersuchung und ihr Ergebnis.“

Mit den gleichen Worten beschreibt übrigens das Schwangerschaftskon- fliktgesetz (SchKG) die Schwanger- schaftskonfliktberatung (§ 2 a Abs. 1 SchKG). Das GenDG wurde demge- genüber lediglich um begriffliche Bezüge auf die genetische Untersu- chung ergänzt.

Für die Erarbeitung der Aus - führungsbestimmungen des GenDG wurde eine „interdisziplinär zusam- mengesetzte, unabhängige Gendia - gnostikkommission eingerichtet, die sich aus 13 Sachverständigen aus den Fachrichtungen Medizin und Biologie, zwei Sachverständigen aus den Fachrichtungen Ethik und Wer darf wann und

mit welcher Qualifi - kation genetisch beraten? Die „Scharf-

schaltung“ des Gen - diagnostikgesetzes Anfang dieses Jahres warf viele Fragen auf. Bernt Schulze, Präsident des Berufs- verbandes Deutscher Humangenetiker, und Max Kaplan, Vizeprä- sident der Bundesärz- tekammer, geben

Antworten.

GENDIAGNOSTIKGESETZ UND GENETISCHE BERATUNG I

Geschichte eines Irrweges

Foto: Fotolia

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20. April 2012 Recht sowie drei Vertretern der für

die Wahrnehmung der Interessen der Patientinnen und Patienten, der Ver- braucherinnen und Verbraucher und der Selbsthilfe behinderter Menschen auf Bundesebene maßgeb lichen Or- ganisationen zusammensetzt“ (§ 23 Abs. 1 GenDG). Die Gendiagnostik- Kommission (GEKO) veröffentlich- te am 11. Juli 2011 die Richtlinie (GEKO-RL) „über die Anforderun- gen an die Qualifikation zur und In- halte der genetischen Beratung ge- mäß § 23 Abs. 2 Nr. 2 a und § 23 Abs. 2 Nr. 3 GenDG“. Darin nahm sie in einem Basisteil (genetische Grundlagen, methodische Aspekte, Risikoermittlung), einem psycho - sozialen und ethischen Teil sowie einem fachspezifischen Teil Quali - fikationsinhalte auf, soweit sich es- senzielle Grundlagen in einer Quali- fikationsmaßnahme zur fachgebun- denen genetischen Beratung gemäß

§ 7 Abs. 3 und § 23 Abs. 2 Nr. 2 a GenDG in 72 Stunden beziehungs- weise in einer Qualifikationsmaß- nahme zur fachgebundenen geneti- schen Beratung im Kontext der vor- geburtlichen Risikoabklärung von acht Stunden vermitteln lassen. Al- ternativ kann für eine Übergangs- frist von fünf Jahren beziehungswei- se bei Fachärzten mit fünfjähriger Berufserfahrung auch eine reine Wissenskontrolle ausreichen, die sämtliche in der Richtlinie genann- ten theoretischen Qualifikationsin- halte umfasst, zu deren Vorbereitung

„Teile“ der Fortbildung genutzt wer- den können. Alle diese unterschied- lichen Voraussetzungen befähigen laut GEKO zur „fachgebundenen genetischen Beratung“.

Einsprüche wurden ignoriert Bereits im Gesetzgebungsverfahren hatten humangenetische Experten darauf hingewiesen, dass die Be- griffsgleichheit es dem Laien un- möglich macht, die „kleine“ gene- tische Beratung gemäß GenDG von der fachärztlich qualifizierten genetischen Beratung zu unter- scheiden. In Stellungnahmen zum Entwurf der GEKO-Richtlinie war auf die Unvereinbarkeit des um- fangreichen Fortbildungskataloges, der dem humangenetischen Facharzt- standard entlehnt ist, mit den vorge-

sehenen 0-/8-/72-stündigen Fortbil- dungsmaßnahmen hingewiesen wor- den. Eine Beratungsqualität, die der der Fachärzte für Humangenetik vergleichbar wäre, ist so nicht zu er zielen (2). Auf die Haftungsfalle für unzureichend qualifizierte Ärz- te wurde ausdrücklich hingewiesen.

Schließlich wurden verfassungsrecht- liche Bedenken gegen den vorgese- henen Regelungsweg benannt, die im Juli 2011 durch ein Rechtsgut- achten bestätigt wurden(3). Alle diese Einsprüche blieben letztlich unberücksichtigt.

Der Eingriff des Bundesministe- riums für Gesundheit in die ärztliche Fortbildungsstruktur, unter maßgeb- licher Mitwirkung von Nichtärzten in der GEKO, ist ohne Beispiel. Die Behauptung im Gesetzentwurf („den Ländern und Kommunen entstehen keine Mehrkosten“ [4]) verschweigt, dass erhebliche Fortbildungskosten auf Ärztekammern und Ärzte ab - gewälzt werden. Die komplexen Regelungen des GenDG sind für Normalbürger zudem fast unver- ständlich. Das GenDG zeigt sich somit bei der „genetischen Bera- tung“ gleichgültig gegen grundle- gende Bedürfnisse der Patienten und Ärzte sowohl nach der Umsetz- barkeit der gesetzlichen Regelun- gen wie auch nach der Verständ- lichkeit der gesetzlichen Ansprüche oder nach der Qualität der Bera- tung. Die GEKO hat diesen Zustand durch inadäquat erscheinende Aus- führungsbestimmungen eher noch verschärft.

Zur Umsetzung des Gendiagnos- tikgesetzes trat die zuständige Ar- beitsgemeinschaft der Obersten Lan- desgesundheitsbehörden (AOLG) erstmals am 19. Oktober 2011 zu- sammen. Erst nach einer weiteren Sitzung am 17. November 2011 be- auftragte sie die Landesärztekam- mern, die erforderlichen Maßnah- men rechtzeitig zum 1. Februar 2012 zu ergreifen. Diese sahen sich nun vor allem in der Pflicht, in kür- zester Zeit ausreichende Beratungs- kapazitäten in der Mutterschafts- vorsorge zu schaffen: Alle Schwan- geren haben gesetzlichen Anspruch auf fachgebundene „genetische Be- ratungen“ beim Ersttrimesterscreen - ing und anderen Untersuchungen.

Die theoretisch mögliche Gesamt- zahl beläuft sich allein in der Frau- enheilkunde auf circa 1,5 Millionen

„genetische Beratungen“ pro Jahr.

Bundes- und Landesärztekammern sprangen kurzfristig ein und organi- sierten gemeinsam mit den beteilig- ten Fachärzten die erforderlichen Qualifikationsmaßnahmen.

Unnötige Bürokratie im Alltag Schon bei Verabschiedung des GenDG forderten die Ärzte schnellst- mögliche Korrekturen von Regelun- gen, die den Alltag von Patienten und Ärzten unnötig kompliziert oder bü- rokratisch gestalten (zum Beispiel die fehlende Vertretungsregelung zur Be- fundmitteilung beim Neugeborenen- screening oder die Einbeziehung all- täglicher Laborparameter in die „ge- netische“ Dia gnostik). Die Fachärzte für Humangenetik mahnten eine an- dere Bezeichnung für die „genetische Beratung“ und eine Neustrukturie- rung ihrer Inhalte an.

Die „genetische Beratung“ ge- mäß GenDG stellt einen Höhepunkt unter den gesetzlichen Irrtümern dar: Sie ist eine inflationär angelegte ärztliche Leistung, von der Politik ohne Rücksicht auf Patienten und Ärzte konzipiert, und soll von den Fachärzten vieltausendfach neben der eigentlichen fachärztlichen Ar- beit erbracht werden. Die Ärztekam- mern fassen ihre Bedenken gegen diesen Irrweg denn auch mit dem Hinweis zusammen, dass alle Fach- ärzte die Grenzen ihres Fachgebiets beachten und Patienten mit komple- xen genetischen Sachverhalten nach wie vor an die zuständigen Fachärz- te für Humangenetik zur fachärztli- chen humangenetischen Beratung überweisen sollten.

Dr. med. Bernt Schulze

LITERATUR

1. (Muster-)Weiterbildungsordnung 2003 in der Fassung vom 25. 6. 2010.

2. Zweite Stellungnahme des BVDH vom 24. 3. 2011 zur GEKO-RL.

3. Rechtsgutachten zur Frage der Verfas- sungsmäßigkeit der Richtlinien der Gendia - gnostikkommission zu den Anforderungen an die Qualifikation sowie an die Inhalte der Aufklärung und der genetischen Beratung, erstellt von Prof. Dr. Winfried Kluth, Univer- sität Halle-Wittenberg, Juni 2011.

4. Drucksache 16/10532, Deutscher Bundes- tag, 2009.

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