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Archiv "Alexander Mitscherlich: „Diese extrem naturwissenschaftliche Konzeption der Medizin ist gescheitert“" (19.09.2008)

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A1968 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 3819. September 2008

T H E M E N D E R Z E I T

Z

eitlebens setzte Alexander Mitscherlich sich für die An- erkennung psychologischen Den- kens in der Medizin ein. Die beiden Bände „Krankheit als Konflikt. Stu- dien zur psychosomatischen Medi- zin“ (1966/67) haben Ärzten und Studierenden nahegebracht, dass kör- perliches Kranksein seelische Ursa- chen haben kann. Dabei ging er im- mer wieder den Zusammenhängen zwischen psychischen, familiären und gesellschaftlichen Konflikten nach.

Mit beachteten Beiträgen meldete er sich im politischen Tagesgeschehen zu Wort. Seine Bücher „Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft“,

„Die Unwirtlichkeit unserer Städte“

und „Die Unfähigkeit zu trauern“

(zusammen mit Margarete Mitscher- lich-Nielsen) brachten Probleme und Stimmungen der westdeutschen Ge- sellschaft auf den Punkt und wurden in den 60er-Jahren zu Bestsellern.

Schlüssel zum Verständnis von Mit- scherlichs Weltanschauung ist die Erfahrung des Nationalsozialismus.

So ist seine theoretische und thera- peutische Arbeit immer auch eine Bewältigung des Grauens, das die Hitler-Diktatur in ihm ausgelöst hat.

Am 20. September 1908 wird Alexander Mitscherlich in München geboren. Die zerrüttete Ehe der El- tern prägt die „ziemlich unglückli- che Kindheit“ des Einzelkinds. Die Möglichkeit einer Trennung ver- setzt den Jungen dennoch in „ratlose Angst“. Der Mitscherlich-Biograf Hans-Martin Lohmann führt dessen späteres Interesse an Themen der Väterlichkeit und Vaterlosigkeit auf diese Kindheitserfahrungen zurück.

Zunächst studiert Mitscherlich in München Geschichte, Philosophie und Literatur. Seine Dissertation über Luther-Darstellungen im 19.

Jahrhundert beendet er nicht – 1930

stirbt sein Doktorvater Paul Joachim- sen. Mitscherlich geht nach Berlin, eröffnet eine Buchhandlung und stu- diert Medizin. Als er offen für Ernst Niekischs Schrift „Hitler – ein deut- sches Verhängnis“ wirbt, wird die Gestapo auf ihn aufmerksam. Dabei kritisierte Niekisch an Hitler nicht et- wa den Diktator, sondern dass er sich zur Stütze der Weimarer Republik entwickelt habe. Mit Ernst Jünger

gehörte Niekisch zu den herausra- genden Figuren der „Konservativen Revolution“.

Doch so antidemokratisch Nie- kisch seine Kritik an Hitler auch be- gründen mochte – letztlich verhilft sie Mitscherlich zu einer kompromiss- losen Ablehnung des Nationalsozia- lismus. In seinen Erinnerungen sieht Mitscherlich seine Haltung am Ende der Weimarer Republik kritisch: „So- weit ich hier mithielt und mich ganz offenbar auf falschem Gleis beweg- te, war ich naiv und ignorant“, schreibt er etwa über den Kreis um Jünger. Als Thomas Mann 1930 zur Verteidigung der Republik aufruft, ist Mitscherlich mit einigen Vertretern der „Konservativen Revolution“ da- bei, um dessen Vortrag zu stören.

Noch 50 Jahre später empfindet er es als „schmerzlich, damals auf der falschen Seite gestanden zu haben“.

1937 setzt Mitscherlich sein Stu- dium in Zürich fort. Hier schließt er dauerhafte Freundschaften, etwa mit dem Psychoanalyti- ker Gustav Bally, der den Kontakt zu Viktor von Weizsäcker und Felix Schottlaender vermittelt.

Auf einer Reise nach Deutschland wird Mit- scherlich festgenommen und von der Gestapo drei Monate in Nürnberg in- haftiert. Im Gefängnis liest er von Weizsäckers Schriften zur Psychopathologie und beschließt, sein Studium in Heidelberg fortzuset- zen, wo von Weizsäcker lehrt. Ihn und Sigmund Freud bezeichnet Mit- scherlich fortan als seine „geistigen Väter“.

Mitscherlich promoviert 1941 mit der Arbeit „Zur Wesensbestimmung der synaesthetischen Wahrneh- mung“ und arbeitet in Heidelberg

ALEXANDER MITSCHERLICH

„Diese extrem naturwissenschaftliche Konzeption der Medizin ist gescheitert“

Vor 100 Jahren wurde der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich geboren.

Foto:ullstein bild

Die Psychoanalyse ist aus der Medizin hervorgegangen . . . es hieße, sie zum Absterben verurteilen, wollte man sie ihrer primären Erfahrungsquelle aus der Krankenbehandlung berauben.

Alexander Mitscherlich (1964)

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A1970 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 3819. September 2008

T H E M E N D E R Z E I T

zunächst auf neurologischem Gebiet.

Nach Kriegsende wird er als einer der wenigen Unbelasteten seiner Ge- neration in die praktische Verantwor- tung genommen: „Immer wieder wurden in Heidelberg politische For- derungen an mich herangetragen.

Aufgaben, von denen wir alle (. . .) nichts verstanden oder nur sehr we- nig.“ Für einige Wochen ist Mit- scherlich in der amerikanischen Be- satzungszone Minister für Ernährung und Gesundheit. Die Alliierten bie- ten ihm einflussreiche politische Pos- ten an. In einem Interview sagt er später dazu: „Das hat mir große Kon- flikte gebracht. (. . .) Aber was habe ich gemacht? Ich bin krank gewor- den. (. . .) Ich würde nicht im gerings- ten zweifeln, dass dies die somati- sche Antwort auf eine psychische Krise war, in der ich mich nicht ent- scheiden konnte.“

Wegbereiter der

psychosomatischen Medizin

Fünf Jahre kämpft Mitscherlich für die Errichtung eines Instituts für Psy- chotherapie an der Heidelberger Uni- versität. In einer Denkschrift beklagt er, dass die universitäre Psychiatrie an Freuds „Psychologie des Unbe- wussten“ entweder „vorbeigegan- gen“ sei oder sie „offen bekämpft“

habe. Dabei gebe es zwischen beiden keine Konkurrenz, die Psychiatrie könne nur profitieren. Psychothera- pie in diesem Sinne sei „auf dem Weg zu einer ihr gemäßen Anthropo- logie und speziellen Anthropothera- pie“. Auch von Weizsäcker sieht die Psychoanalyse als bislang unerprob- te Methode, derer sich die Medizin bedienen müsse. Doch er steht Freuds Lehre zwiespältig gegenüber, weil er die sinnstiftenden Möglich- keiten der Religion der Kulturkritik Freuds nicht zu opfern bereit ist.

Nicht einverstanden sind die Psych- iater mit Mitscherlichs Vorstoß. Kurt Schneider erteilt einem psychothera- peutischen Lehrstuhl eine klare Ab- sage. „Aus einer Sexualtrieb-Lehre alles Geistige abzuleiten“, hält er für eine „Verirrung“. Für Mitscherlich endet der Kampf erfolgreich: Ab 1950 wird die Heidelberger Klinik zur Keimzelle der psychosomati- schen Medizin und Psychoanalyse in der Bundesrepublik.

Im Auftrag der Westdeutschen Ärztekammern ist Mitscherlich 1947 als Sachverständiger beim Nürnber- ger Ärzteprozess zugegen. Hier wer- den „Untaten von so ungezügelter und zugleich bürokratisch-sachlich organisierter Lieblosigkeit, Bosheit und Mordgier“ verhandelt, die ihn

„niedergedrückt von Scham und Ver- zweiflung“ zurücklassen. Eine Kol- lektivschuld der Deutschen, wie sie etwa Carl Gustav Jung vertritt, lehnt Mitscherlich ab. Die mehr oder we- niger deutlich formulierte Erwartung der medizinischen Fakultäten, sein Bericht werde beweisen, „dass nur eine verschwindend kleine Zahl von Ärzten (. . .) sich schuldig gemacht hat, (. . .) dass aber die deutsche Ärz- teschaft (. . .) frei von Schuld und nicht mit Vorwürfen zu belasten ist“, erfüllt Mitscherlich indes nicht. Ihm zufolge zeigen die verhandelten Ver- brechen „die Katastrophe einer Wis- senschaft, die sich von einer politi- schen Ideologie scheinbar in Rich- tung ihrer eigenen Ziele forttreiben lässt und plötzlich bei der Organisati- on des Mordes steht“. In „Das Diktat der Menschenverachtung“ doku- mentieren Mitscherlich und Fred Mielke den Prozess. Aufseiten der Ärzteschaft stößt der Bericht viel- fach auf Ablehnung. Mitscherlich rücke, so der Vorwurf, Unschuldige in die Nähe von Verbrechern und las- te diese Verbrechen einer modernen

„Organmedizin“ an, ohne einen Zu- sammenhang im Einzelnen belegen zu können. In der Öffentlichkeit wird sein Bericht positiv aufgenommen.

Früh schlägt Mitscherlich den Bogen von der Individual- zur Sozi- alpsychologie. Freud zufolge kann Soziologie „nichts anderes sein (. . .) als angewandte Psychologie“. Diese Annahme teilt eine immer stärker empirisch ausgerichtete Soziologie zwar nicht, doch dem Psychoanaly- tiker Mitscherlich erlaubt sie, seinen diagnostischen Blick vom Einzelnen auf die Gesellschaft zu erweitern.

1951 reist Mitscherlich in die USA und ist beeindruckt von der Kooperation zwischen Allgemein- medizin, Psychiatrie und Psycho- analyse, die er hier antrifft. Zurück in Deutschland, sucht er mithilfe der Psychoanalyse die Zusammenhänge zwischen der Krankheit und der

Lebenssituation des Kranken zu er- hellen. Ziel ist die „biografische Anamnese“. Das Interesse an der Lebensgeschichte und die Betonung subjektiver Aspekte sind fortan inte- grale Bestandteile der psychosoma- tischen Medizin und einer anthro- pologisch orientierten Psychiatrie.

1960 wird Mitscherlich Direktor des neu gegründeten Sigmund-Freud- Instituts in Frankfurt am Main, das er bis 1976 leitet. In seiner Anspra- che zur Eröffnung sieht er „die ge- duldige Selbsterforschung“ als „das einzig verlässliche Mittel, um uns Glaubwürdigkeit zu verschaffen und uns zugleich gegen die Inhumanitä- ten zu verteidigen, die uns unter der Decke der Zivilisation drohen“. Da- bei ist „das Herzstück dieses Insti- tuts die Medizin, und sie muss es bleiben. Die Psychoanalyse ist aus der Medizin hervorgegangen. So weit ihre Auswirkungen auch reichen mö- gen, es hieße, sie zum Absterben ver- urteilen, wollte man sie ihrer primä- ren Erfahrungsquelle aus der Kran- kenbehandlung berauben“. (1964)

Skeptisch hinsichtlich der Kultureignung des Menschen

1969 erhält Mitscherlich den Frie- denspreis des Deutschen Buchhan- dels. Ihm zufolge kann der Sache der Humanität nur dienen, wer „für das Martialische in sich selbst“ hellhö- rig ist. Verharmlosung menschlicher Aggression hält er für unverantwort- liches Wunschdenken. Wie Freud ist Mitscherlich skeptisch hinsichtlich der „Kultureignung“ des Menschen.

Doch widerspricht er deutlich jenen, die „aus einer angeblichen Unbeein- flussbarkeit der Aggression ein sozi- aldarwinistisches Weltbild ableiten“.

In der psychoanalytischen Behand- lung sah er einen Weg, menschliche Solidarität zu entwickeln. Am 26. Ju- ni 1982 starb Alexander Mitscher- lich in Frankfurt am Main. I Christof Goddemeier

LITERATUR

Dehli, Martin: Leben als Konflikt – Zur Biogra- phie Alexander Mitscherlichs, Göttingen 2007.

Freimüller, Tobias: Alexander Mitscherlich, Göt- tingen 2007.

Hoyer, Timo: Im Getümmel der Welt, Alexander Mitscherlich – Ein Portrait, Göttingen 2008.

Lohmann, Hans-Martin: Alexander Mitscher- lich, Hamburg 1987.

Referenzen

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