A 266 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 7|
19. Februar 2010FORUM „FORTSCHRITTSFALLE MEDIZIN“
Ohne gesellschaftlichen Diskurs geht es nicht
Wie viel Gesundheit können wir uns leisten? An dieser Frage erhitzten sich die Gemüter zwischen Wirtschaftswissenschaftlern und Ärzten bei einer Diskussion in der Akademie der Wissenschaften und Künste Nordrhein-Westfalen.
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anchmal bedarf es nur eines Wortes, um Widerspruch zu provozieren. Bei Diskussionen zur Zukunft des Gesundheitswesens lautet ein solches Zauberwort „Ra- tionierung“. Der Gesundheitsöko- nom der Technischen Universität Dortmund, Walter Krämer, scheute sich dennoch nicht, bei einem Fo- rum der nordrhein-westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste, die These aufzustellen, dass die Rationierung in der medi- zinischen Versorgung unausweich- lich sei.„Das Problem der modernen Me- dizin sind nicht ihre Mängel, son- dern ihre Möglichkeiten“, sagte Krämer. Die stetige Ausweitung des Leistungsangebots, die mit einer überproportional gewachsenen Nachfrage einhergehe, habe dazu geführt, dass es finanziell nicht mehr möglich sei, allen Patienten eine optimale Versorgung zu garan- tieren. „Die moderne Medizin ist Opfer ihres eigenen Erfolgs gewor- den“, meinte Krämer.
Der Wirtschafts- und Sozialsta- tistiker wies in diesem Zusammen- hang auf ein Paradox der modernen Medizin hin: „Früher war der Pa- tient nach einer Woche entweder tot oder gesund. Heute ist dies anders, da die moderne Medizin ein großes Arsenal an Abwehrwaffen bereit- hält, die uns zwar am Leben erhal- ten, aber uns nicht komplett gesund machen.“ Die große Gleichung
„mehr Geld gleich mehr Gesund- heit“ sei somit falsch, erklärte Krä- mer. Auch mit einem Mehr an Prä- vention sei dem Dilemma der mo- dernen Medizin nur unzureichend zu begegnen. Denn Prävention sei unter reinen Kostenaspekten in der
Regel ein Verlustgeschäft. „Ob nämlich die erfolgreiche Prävention einer Krankheit das Gesundheits- budget entlastet oder nicht, hängt offenbar entscheidend davon ab, was billiger ist: die verhinderte Krankheit oder die, die man statt- dessen kriegt.“ Krämer forderte da- her, dass die Politik verbindliche Aussagen zur Entwicklung des Gesundheitswesens im Sinne einer sozialverträglichen Rationierung treffen solle. Bundesgesundheitsmi- nister Philipp Rösler warf der Wirt- schaftswissenschaftler vor, mit Äu- ßerungen, wie „Überlegungen zu einer Priorisierung stünden im Bundesgesundheitsministerium nicht auf der Tagesordnung“ die dringend notwendige Debatte über eine hu- mane Rationierung zu verhindern.
Mit seinen Forderungen provo- zierte Krämer nicht nur seine Mit-
referenten, sondern auch die anwe- senden Ärztinnen und Ärzte. Eine Rationierung sei mit dem ärztlichen Selbstverständnis nicht in Einklang zu bringen, betonte Klaus Bergdolt, langjähriger Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medi- zin der Universität zu Köln.
Der Transplantationsmediziner Eckhard Nagel (Universität Bay- reuth), der auch Mitglied des Deut- schen Ethikrats ist, warf Krämer vor, auf der Basis falscher medizi- nischer Annahmen ethisch proble- matische Aussagen zu treffen, die einen Teil der Patienten ausgrenz- ten. Man könne nicht die Rationie- rung im Gesundheitswesen zum Ausweg aus einer vermeintlichen medizinischen Fortschrittsfalle und finanziellen Krise deklarieren, die so nicht existiere, sagte Nagel.
Gleichwohl räumte er ein, dass die Transplantationsmedizin ein Para- debeispiel für das Problem der Verteilungsgerechtigkeit sei. Aller- dings seien hier weniger das Geld und der Fortschritt die limitieren- den Faktoren als vielmehr der Man- gel an Spendern. Nagel zufolge stagniert in Deutschland die Zahl der gespendeten Organe bei etwa 3 900 pro Jahr. Die Folge: Täglich sterben drei Patienten auf der War- teliste, weil für sie nicht rechtzeitig ein Spenderorgan verfügbar ist. Ei- ne Priorisierung hält deshalb auch Nagel für unabdingbar. Es sei Auf- gabe der Politik, dies auf der Grundlage eines gesellschaftlichen Diskurses zu entscheiden. Die Trans- plantationsmedizin sei zugleich ein ideales Paradigma, um das Thema der Verteilungsgerechtigkeit öffent- lich zu diskutieren. ■ Petra Spielberg
„ Die moderne Medizin ist Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. “
Walter Krämer, Gesundheitsökonom
Foto: AWK