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ie evidenzbasierte Medizin (EbM) hat infolge ihres wissenschaftli- chen Charakters und ihrer strin- genten Bewertungskriterien in vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung einen Standard gesetzt, an dem die Wirksamkeit diagnostischer und thera- peutischer Maßnahmen gemessen wird.Vielerorts werden Meta-Analysen aus der Cochrane Library wie selbstver- ständlich auf Visiten diskutiert. Die Er- gebnisse kritisch bewerteter und für glaubwürdig befundener Studien doku- mentieren sich in Leitlinienempfehlun- gen. Selbst bei der Entscheidung über die Leistungen der Gesetzlichen Kran- kenversicherung beim Gemeinsamen Bundesausschuss, Sitz: Siegburg, wer- den die EbM-Bewertungskriterien her- angezogen. Folgerichtig wird die evi- denzbasierte Medizin auch als Grundla- ge der zertifizierten ärztlichen Fortbil- dung gefordert (siehe Deutsches Ärzte- blatt, Heft 14/2004). Die evidenzbasier- te Medizin hat ihren Platz in der Patien- tenversorgung gefunden.
Es knirscht
Der Strukturwandel im Gesundheitssy- stem stellt besondere Anforderungen und hohe Erwartungen: Mit evidenzba- sierten Leitlinien soll Unter-, Über- und Fehlversorgung vermindert werden, strukturierte Behandlungspfade sollen die Versorgung effizient und auf hohem Niveau sicherstellen, Auf- und Ausbau der Qualitätssicherung zählen zu vorran- gigen gesundheitspolitischen Themen und werden von der Politik mit Dring- lichkeit eingefordert. Bei der Ausgestal- tung dieser Ziele benötigen die verant- wortlichen Experten solide Kenntnisse in evidenzbasierter Medizin, um sicher- zustellen, dass die medizinischen Vorga-
ben in diesen Standardisierungsprozes- sen auch wissenschaftlich begründet sind und somit auf tragfähigen Fundamenten stehen. In der Praxis ist man jedoch noch weit davon entfernt, wie ein kritischer Blick auf die Leitlinien-Entwicklung zeigt. Unverändert genießen die Leitlini- en der wissenschaftlichen Fachgesell- schaften bei praktizierenden Ärzten ein hohes Ansehen und prägen die Versor- gung. Doch nur wenigen Anwendern ist klar, dass diese in der überwiegenden Mehrzahl aus gut gemeinten „Experten- statements“ bestehen und den interna- tionalen Ansprüchen nach einer syste- matischen und transparenten Vorge- hensweise mit begründeten Empfehlun- gen nicht genügen. Wenn beispielsweise in der AWMF-Leitlinie zur Behandlung der Hypertonie (www.awmf-leitlinien.de – Hypertonie) die Evidenzstufen für In- terventionsstudien völlig undifferenziert auch auf Diagnose- und Prognose-Studi- en angewandt werden und es keiner merkt, so sind grundlegende Prinzipien der EbM offensichtlich nicht verstanden worden. Selbst die so genannten S3- Leitlinien, bei denen Empfehlungen nachträglich mit Literatur unterfüttert werden, entsprechen nicht dem Stan-
dard der evidenzbasierten Medizin.
Medizinischer und methodischer Sach- verstand müssen zusammengeführt werden. Die Anzahl an qualifizierten Methodikern hinkt in Deutschland je- doch dem Bedarf weit hinterher.
Außerdem werden die Empfehlun- gen nur dann konsequent umgesetzt, wenn die verantwortlichen Ärzte in der Versorgung die zugrunde liegende wis- senschaftliche Begründung verstehen und mittragen. Dafür benötigen sie ebenfalls klinisch-epidemiologisches Allgemeinwissen und dessen Anwen- dung unter den Bedingungen der Praxis, eben evidenzbasierte Medizin.
Doch wo kann man sich dieses Wissen beschaffen? Noch immer vermitteln nur wenige Universitäten ihren Studie- renden nachhaltige Kenntnisse in evi- denzbasierter Medizin, und trotz wie- derholter Forderungen hat die EbM noch keinen allgemeinen Eingang in die Weiterbildungsordnung oder in die Zertifizierungsgrundlagen der Lan- desärztekammern gefunden.
Lücke geschlossen
Um Ärzten in den verschiedenen Ver- sorgungsebenen eine Qualifikationsmög- lichkeit zu bieten, den laufenden Struk- turwandel konstruktiv zu gestalten, ha- ben das Deutsche Netzwerk EbM und das Ärztliche Zentrum für Qualität im Auftrag von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung mit dem Curriculum Evidenzbasierte Me- dizin (www.ebm-netzwerk.de) eine pra- xis- und bedarfsorientierte Grundlage geschaffen. Ärzte lernen die struktu- rierte Vorgehensweise der EbM kennen:
wie man vorhandene Aufgaben und Probleme als strukturierte Fragen kon- kretisiert; in welchen Datenbanken T H E M E N D E R Z E I T
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A2166 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 31–322. August 2004
Evidenzbasierte Medizin
Eine Lücke wird geschlossen
Erstmals wird ein Aufbaukurs nach dem EbM-Curriculum angeboten.
Regina Kunz, Frank Thalau, Günther Jonitz, Jürgen Hammerstein
Der Berliner Grund- und Aufbaukurs in EbM wird gemeinsam von der Kaiserin-Friedrich- Stiftung, der Ärztekammer Berlin, der Charité und vom Gemeinsamen Bundesausschuss im Kaiserin-Friedrich-Haus in Berlin, Robert- Koch-Platz 7, veranstaltet. Der nächste Grund- kurs findet vom Freitag, 3., bis Sonntag, 5.
September 2004 statt, der Aufbaukurs er- streckt sich über zwei Wochenenden, Frei- tag, 3., bis Sonntag, 5. September und Frei- tag, 19., bis Sonntag, 21. November 2004.
Weitere Informationen unter www.kaiserin- friedrich-stiftung.de beziehungsweise bei Marianne Beljan,Telefon: 0 30/30 88 89 20.
Textkasten
nach relevanter Studien-„Evidenz“ ge- sucht werden kann, um die Fragen zu beantworten; wie man die gefundene Evidenz auf ihre Glaubwürdigkeit hin untersucht und im eigenen Versor- gungskontext bewertet. Dieser Ansatz hat sich für den Leitlinienersteller oder den Entwickler von Behandlungspfa- den ebenso wie für den Arzt bewährt.
Das Curriculum besteht aus drei Kursmodulen, die im Schwierigkeits- grad aufeinander aufbauen. Die Modu- le bieten die Möglichkeit, nach Neigung eigene Schwerpunkte zu setzen: Dem Neugierigen genügt vielleicht ein Grundkurs von 20 Stunden, um ein Ver- ständnis für die EbM-Prinzipien zu ent- wickeln und mitreden zu
können. Ärzte, die EbM- Kenntnisse in ihren Berufs- alltag einbringen möch- ten, Leitlinien oder Be- handlungspfade erstellen, erhalten im Aufbaukurs im Umfang von 60 Stunden die Gelegenheit, das Ge- lernte zu wiederholen und praxisbezogen weiter zu vertiefen. Sie lernen die Merkmale für hochwertige Studien zu Fragen der Dia- gnostik und Therapie ken- nen, Kriterien für systema- tische Übersichten und Meta-Analysen, zuverlässi- ge Leitlinien, solide Tech- nologiebewertungen oder
hilfreiche und vertrauenswürdige Pati- enteninformationen. In einem Praxis- projekt zwischen den Kursteilen sam- meln die Teilnehmer Erfahrungen mit der Anwendung von EbM im eigenen beruflichen Umfeld. Das kann ein lau- fendes Leitlinien-Projekt, Arbeit in ei- nem Qualitätszirkel, Qualitätsverbesse- rung auf einer Station oder die Überar- beitung der Ausbildung von Studenten im Praktischen Jahr in einem akademi- schen Lehrkrankenhaus sein. Der Nut- zen der evidenzbasierten Medizin wird am wirklichen Leben gemessen.
Beim dritten Modul, dem Kurs für Fortgeschrittene, kann der Teilnehmer in 40 Stunden seinen eigenen Schwer- punkt setzen und zwischen Themen wie
„evidenzbasierte Leitlinien“, „systema- tische Übersichten und Meta-Analy- sen“, „Patienteninformationen“ oder
„Train-the-(EbM-)Trainer“ auswählen.
Dabei findet eine Verschiebung der Zielgruppe statt, vom „Nutzer“ zum
„Macher“. Jedes Modul steht für sich und wird separat zertifiziert. Dadurch können Kursteilnehmer unterschiedli- che Anbieter kennen lernen; nach Ab- schluss aller drei Module winkt das
„große“ EbM-Zertifikat (www.ebm- netzwerk.de).
Seit den ersten EbM-Kursen in Lü- beck und Berlin 1998 wurden bereits mehrere Tausend Ärzte geschult, die die Ideen aufgegriffen und weitergetragen haben. Während der Berliner Grund- kurs bereits zum siebten Mal in Folge stattfindet, wird in diesem Jahr das zwei-
te Modul erstmals als öffentlich zugäng- licher Aufbaukurs durchgeführt. Da Module zum Fortgeschrittenenkurs in der Vergangenheit bereits stattgefunden haben, wird hier eine wichtige Lücke ge- schlossen, und die Teilnehmer können die letzte zum „großen“ EbM-Zertifikat noch fehlende Qualifikation erwerben.
Die Mühe lohnt
In Kursevaluationen finden EbM- Schulungen stets eine positive Reso- nanz, trotz oder gerade wegen der ge- hobenen Anforderungen. Obwohl die Zufriedenheit der Teilnehmer für jeden Veranstalter ein wichtiges Kriterium ist, sagt dieses Kriterium jedoch wenig darüber aus, ob das Ziel der Veranstal- tung, ein Zuwachs an Wissen über EbM
und Fertigkeiten im Praktizieren von EbM, auch erreicht wurde. Lohnt sich also die Mühe? Dieser Kernfrage wur- de in den Berliner EbM-Kursen über mehrere Jahre nachgegangen, indem mit einem standardisierten und vali- dierten Instrument der objektive Zuge- winn an Wissen und Fertigkeiten abge- fragt wurde. Die Ergebnisse zeigten mit verblüffender Stabilität, dass der Kurs zu einem statistisch signifikanten und klinisch bedeutsamen Zuwachs an Wis- sen führt, der bei den beiden Kontroll- gruppen (von EbM unbeleckte Studen- ten und EbM-Experten) nicht zu beob- achten war (Grafik). Die Ergebnisse wurden kürzlich im British Medical Journal publiziert (L. Frit- sche et al. BMJ 2002; 325:
1338–1341). Dies war in- ternational die erste Stu- die, die einen Zugewinn an Wissen objektiv und zu- verlässig nachweisen konn- te. Zurzeit läuft unter der Federführung der Berliner Gruppe ein internationa- ler Vergleich von EbM- Kursen in Großbritannien, in den Niederlanden, in den USA, Kanada, Neu- seeland und der Schweiz sowie Kursen der WHO, um mehr über den Grad des Vorwissens oder die Auswirkung unterschiedli- cher Lehrmethoden und unterschiedlicher Intensität zu erfah- ren. Untersuchungen darüber, ob und wie sich der Zuwachs an Wissen und Fertigkeiten auch in die Praxis aus- wirkt, stehen zwar noch aus. Mit der Dokumentation des Wissenszuwachses durch den EbM-Kurs konnte jedoch das gängige Argument widerlegt wer- den, dass die evidenzbasierte Medizin etwas ist, das Ärzte ohnehin gemacht haben. Quod erat demonstrandum!
❚Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2004; 101: A 2166–2167 [Heft 31–32]
Anschrift für die Verfasser:
Privatdozentin Dr. med. Regina Kunz Stabsstelle Methodik und Information Gemeinsamer Bundesausschuss Auf dem Seidenberg 3a, 53721 Siegburg Telefon: 0 22 41/93 88 48
Fax: 0 22 41/93 88 35 E-Mail: regina.kunz@g-ba.de T H E M E N D E R Z E I T
Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 31–322. August 2004 AA2167
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Kurse in evidenzbasierter Medizin: signifikanter Zuwachs an Wissen