ist im „GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000“ in § 137 e SGBV gesetzlich vor- geschrieben worden, dass ein Koordi- nierungsausschuss (der noch nicht ge- gründet ist) auf der Grundlage evidenz- basierter Leitlinien Kriterien für eine zweckmäßige und wirtschaftliche Lei- stungserbringung für mindestens zehn Krankheiten pro Jahr beschließen soll, bei denen Hinweise auf Unter-, Über- oder Fehlversorgung bestehen.
Ein Dilemma
Die Leiterin der Stabsstelle „Grundsatz- fragen der medizinischen Versorgung/
Leistungen“ der Ersatzkassenverbän- de, Dr. med. Elke Herz, Siegburg, po- stulierte: „Evidenzbasierte Medizin ist eine Methode, die auf den Grundsätzen der klinischen Epidemiologie basiert.
Diese biostatistisch-epidemiologische Betrachtungsweise bedingt eine Mess- barkeit von Untersuchungswerten. Al- lerdings gibt es eine Vielfalt von medizi- nischen Bereichen, die sich nur schwer quantifizieren lassen.“ Die Ersatzkas- sen-Sprecherin ebenso wie Pötsch als Repräsentant der KBV verwiesen auf die Arbeit des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, der schon seit mehr als zehn Jahren auf EbM- Kriterien bei der Entscheidungsfindung zurückgreife. Herz behauptete, dass für die meisten Dienstleistungen im Ge- sundheitsbereich „nur eine mäßige oder gar überhaupt keine wissenschaftlich begründete Evidenz“ vorliege. Nur für etwa zehn bis 20 Prozent aller medizini- schen Verfahren lägen beispielsweise randomisierte Doppelblindstudien vor.
Pötsch, Mitglied des Arbeitsausschus- ses „Ärztliche Behandlung“ (gegründet 1997) des Bundesausschusses, wies auf ein Dilemma hin: Zwar bediene sich der Bundesausschuss Ärzte und Kranken- kassen der Bewertungs- und Prüfkrite- rien, die den Methoden der EbM ent- sprechen, doch spielen vielfach in die Entscheidungsfindung auch politische und wirtschaftliche Überlegungen hin- ein (Beispiel: Ablehnung der Kosten- übernahme durch die Krankenkassen bei Verordnung von Viagra, obwohl dieses Präparat medizinisch indiziert wäre). In jedem Fall sei es geübte Praxis des Bundesausschusses – und dies im
Konsens mit der Kassenärzlichen Bun- desvereinigung und den Spitzenverbän- den der Krankenkassen –, dass medizi- nische Verfahren anhand der Qualität der Wirksamkeitsnachweise überprüft werden müssen. Die beiden anderen
gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien – die Einhaltung der Notwendigkeit und der Wirtschaftlichkeit – können jedoch ohne Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit eines Verfahrens nicht erfüllt werden. Dr. rer. pol. Harald Clade
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A3320 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 49½½½½8. Dezember 2000
T H E M E N D E R Z E I T
KOMMENTAR
rztinnen und Ärzte werden durch eine evidenzbasierte Medizin (EbM) in die Lage versetzt, sich selbst die wissenschaftlichen Informa- tionen zu besorgen, zu bewerten und re- levante Erkenntnisse in die Behandlung der Patienten einzubringen. Gegebe- nenfalls kann der Arzt begründen, war- um er etwas nicht tut. Sie werden aufge- fordert, ihr eigenes Handeln, ihre Er- gebnisse kritisch zu hinterfragen und gleichzeitig Wege zu finden, kontinuier- lich auf der Höhe der Zeit zu bleiben.
Ziel der evidenzbasierten Medizin ist die optimale Diagnostik und Therapie auf dem Boden weitgehend gesicherter Erkenntnisse oder – wo keine brauch- baren Studien vorliegen – das Erkennen der Relativität des ärztlichen Handelns.
Mithilfe der EbM kann der Arzt die Qualität von Fortbildungsveranstaltun- gen und von wissenschaftlichen Ori- ginalarbeiten erkennen und bewerten.
Folge: Keine Resignationen mehr ange- sichts der Flut an wissenschaftlichen In- formationen. Er kann mit Kollegen er- folgreich diskutieren, ob eine bestimm- te Therapie oder diagnostische Maß- nahme für die Patienten relevant ist.
Die ärztliche Freiheit wird durch gesi- chertes Wissen gestärkt. Ihr ärztliches Können bleibt dauerhaft gut.
Als Mitverantwortlicher für die Or- ganisation im Gesundheitswesen profi- tiert der Arzt durch die bessere Er- kenntnis darüber, welche medizinischen Maßnahmen sinnvoll, angemessen und notwendig und damit bezahlbar sind.
Gibt es zu bestimmten Fragen keine ge- sicherten Erkenntnisse, wird offenkun- dig, wo gezielte klinische Forschung fehlt. Wo es keine objektive Wahrheit gibt, wird zumindest die Grauzone der Entscheidung offenbar; die Wahrhaftig- keit nimmt zu.
Evidenzbasierte Medizin stellt die Abkehr von der bisherigen autoritär ge- steuerten Medizin dar. Durch den kon- sequenten Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse sind Fehlsteuerungen durch einzelne Personen erschwert.
Durch den klaren Bezug auf patienten- bezogene Ergebnisse werden die Hu- manität und Ethik im Gesundheitswe- sen gestärkt und die Glaubwürdigkeit von Arzt und Wissenschaft erhöht. Evi- denzbasierte Medizin führt zu einer Neuorientierung, und zwar in Richtung eines lernenden Systems, das sich daran misst, wovon der Patient einen konkre- ten Nutzen hat.
Der EbM-praktizierende Arzt sollte nach David Sackett vier Grundanforde- rungen erfüllen: erstens die Beherr-
schung der primären ärztlichen Tugend, Anamnese und klinischen Status zu er- heben. Ohne diese wird der Arzt nicht wissen, was für die Patienten und für den Arzt im Vordergrund steht und wo am besten mit der Behandlung begon- nen wird. Auch das Wissen ersetzt nicht das ärztliche Können.
Zweitens: die Bereitschaft, ein Be- rufsleben lang selbstständig zu lernen und sich fortzubilden – wenn nicht, wird das Wissen schnell veraltet sein.
Drittens: die Bewahrung der ärztli- chen Demut, sonst fällt der Arzt ver- meintlichen Höhenflügen oder Fort- schritten in der Medizin zum Opfer.
Der Arzt sollte vor allem mit Begei- sterung, aber auch mit Respektlosigkeit an die Sache herangehen, denn ohne diese würde ihm der Spaß entgehen, der mit den Inhalten und Geisteshaltung der evidenzbasierten Medizin verbun- den ist.
Dr. med. Günther Jonitz Präsident der Ärztekammer Berlin