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Archiv "Standesberuf Arzt: Medizin als „profession“" (08.01.1999)

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in schönes Wort ist profession- alization nicht. Den Amerika- nern, die Streptokokken längst zu streps und Labor zu lab verkürzt haben, fällt zu diesem Wortungeheuer keine Abkürzung ein, und dennoch geht es ihnen leicht von der Zunge.

Nicht erst seit Carr-Saunders und Wil- son im Jahre 1933 ihre grundlegenden Betrachtungen über The Professions veröffentlichten, dauert in den USA eine angeregte Diskussion darüber an, welche Berufsgruppen zu den pro- fessions zählen und welche nicht, und wie aus einer non-profession eine pro- fession werden kann.

Eine handfeste Auseinandersetzung

Das ist keine akademische Strei- terei im entrückten Elfenbeinturm praxisferner Intellektueller, sondern eine handfeste Auseinandersetzung um Selbstbestimmung und Entloh- nung, das heißt um gesellschaftliche Stellung. Im berufssoziologischen Dis- kurs hierzulande führt der amerikani- sche Begriff unter dem eher ungeeig- neten Äquivalent „Professionalisie- rung“ ein Randdasein und zählt noch nicht einmal zu den Lieblingsworthül- sen, die Generation über Generation der Gesellschaftswissenschaftler in Theorie-Seminaren einpaukt und mit wechselnden Inhalten zu füllen sucht.

Man könnte vermuten, das man- gelnde Interesse bei uns liege daran, daß die Deutschen mit Professionali- sierung in der Regel allein den Über- gang vom Amateur zum Profi assozi- ieren und daß es kein geeignetes Sub- stantiv zu geben scheint, mit dem wir profession ins Deutsche übersetzen könnten. Daß professionalization freilich nichts mit dem Wechsel aus dem Lager des unbezahlten Tennis- amateurs in den Kreis der hochdotier- ten Ballschläger zu tun hat, ist somit nur wenigen bekannt, und daß es in der Tat geeignete deutsche Äquiva- lente für professionalization und pro-

fession gibt, um die sich der Diskurs ranken könnte, nämlich „Verselb- ständigung“ und „Standesberuf“, ist daher völlig außer acht geblieben.

Die schwache Flamme einer Dis- kussion in Deutschland, in welchem Ausmaß und mit welchen Strategien sich einzelne Berufsgruppen unseres Gesundheitswesens verselbständigt haben und welche Abhängigkeiten untereinander existieren, ist jedoch si- cherlich nicht so sehr durch semanti- sche Inkongruenzen verursacht, son- dern liegt in andersartigen gesell- schaftlichen Strukturen. Eine solche Diskussion war bislang schlichtweg ir- relevant. Es gab und gibt im deut- schen Gesundheitssystem eine klare fachliche Hierarchie: an der Spitze steht die Ärzteschaft als alleiniger Standesberuf; alles andere ist abhän- gig und somit zweitrangig.

Die festgefügte und scheinbar gottgegebene Hierarchie in Deutsch- land ist in erster Linie für das Desin- teresse verantwortlich, nachzufragen, wie es denn zu der aus ärztlicher Sicht so erfreulichen standespolitischen Si- tuation seit Anfang der fünfziger Jah- re kommen konnte, welche lang- und kurzfristigen gesellschaftlichen Verän- derungen den deutschen Ärzten nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihren als Berufsgruppe insgesamt weltweit ein- zigartigen Rang ermöglicht haben. Ei- ne kleinere oder größere Anzahl sehr bekannter und hochdotierter Medizi- ner läßt sich in Vergangenheit und Ge- genwart in jedem Land finden. Daß je- doch eine ärztliche Berufsgruppe ins- gesamt eine Einkommensgarantie auf hohem Niveau beansprucht, ist eine Besonderheit der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik.

Die vermeintliche Selbstverständ- lichkeit dieses Status hat eine gute Ge-

neration lang gewährt; sie hat ihr Ende genommen mit dem Ende der fetten Jahre unserer Nachkriegsordnung.

Der Abbruch trifft die Ärzteschaft un- vorbereitet; Straßenproteste und die nicht selten berechtigten Klagen derer, die sich im gegenwärtigen Gebühren- diktat außerstande sehen, ein ange- messenes Ein- und Auskommen zu er- zielen, sind die hilflosen und wohl auch ergebnislosen Versuche, dem kalten Wind, der plötzlich aus allen Richtun- gen weht, entgegenzusteuern.

Vergessen oder unwiderruflich der Vergangenheit zugeschrieben ist die ökonomische Schichtung der Ärz- teschaft der vergangenen zwei Jahrtau- sende. Der mittellose Praktiker war je- doch stets ebenso präsent wie der Mo- dearzt der oberen Zehntausend, der es sich gelegentlich sogar leisten konnte, seiner Heimatstadt den Bau einer Stadtmauer aus eigener Tasche zu fi- nanzieren. Mit dem modernen Sozial- staat, der nur die Einklassenmedizin auf anspruchsvollster Ebene garantie- ren möchte, kam erstmals auch der Ty- pus der Ärzteschaft auf, die sich insge- samt gleichsam als Verwalter dieser Garantie anbot und dafür auch eine homogene Entlohnung aller ihrer Mit- glieder auf höchstem Niveau erwarte- te. Und genau dies dürfte in der Zu- kunft nicht mehr funktionieren.

Medizin von oben nach unten

Zwei-Klassen-Medizin ist ein po- litisches Schlagwort, doch eine solche Medizin wird sich nicht einstellen.

Eher könnte man von einer zukünfti- gen Vielstufenmedizin sprechen. Die unvermeidliche Aufkündigung der – ohnehin nie völlig verwirklichten – A-35 Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 1–2, 8. Januar 1999 (35)

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Standesberuf Arzt

Medizin als „profession“

Seit jeher gibt es gültige Verhaltensweisen, die einer Berufsgruppe den Aufstieg in der Gesellschaft ebnen. Für die Ärzteschaft ist die Frage nach

dem Wesen ihrer „profession“ aktueller denn je.

E

Paul U. Unschuld

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Garantie der einen, besten Heilkunde für alle weicht einer Medizin, die sich wie eine Treppe parallel zu den Ge- halts- und Einkommensstufen ihrer Klientel von oben nach unten oder von unten nach oben, je nach eigener Stellung und Sichtweise, ausformen wird. Es ist nicht zu erwarten, daß die- jenigen Heilkundigen, die die unterste Stufe bedienen, dasselbe Einkommen beanspruchen können und erzielen werden wie diejenigen, deren Fähig- keiten ganz oben Hilfe leisten. Das ist vor dem Hintergrund der so- zialen und gesundheitlichen Sicherheit der letzten dreißig Jahre sehr bedauerlich, stellt aber letztlich wohl nichts an- deres dar als die Rückkehr zur historischen und weltweiten Normalität.

Zu beeinflussen sein wird allein das Ausmaß des Falles, das heißt, die Höhe der Stufen der zukünftigen Vielstufenme- dizin. Und genau hier mag es sich nun rächen, daß die fetten Jahre den Blick in die Vergan- genheit, auf die Frage nach dem Ursprung der Gegenwart verstellt haben. So wäre es vielleicht doch ganz hilfreich, wenn die Frage nach dem Wesen der professions zumindest von der Ärzte- schaft aufgegriffen würde. Mit Erstau- nen würde sie feststellen, daß es ganz bestimmte, seit Jahrtausenden und über die kulturellen Grenzen hinweg gültige Verhaltensweisen gibt, die ei- ner Berufsgruppe den Aufstieg in die höchsten Ränge der Gesellschaft eb- nen.

Wem wird das höchste Ansehen gewährt?

Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß die Hingabe für die Gesundheit und das Leben der Mitmenschen per se das höchste Ansehen und das beste Einkommen garantiert. Sowohl die Vergangenheit als auch die Realität anderer Hochkulturen bieten Gegen- beispiele. Das höchste Ansehen und das höchste Einkommen wurden in der Geschichte in der Regel denjeni- gen Ärzten gewährt, die sich um das Wohl solcher Patienten kümmern, die selbst wiederum das höchste Ansehen

und das höchste Einkommen be- saßen. Dem kümmerlichen Wert des Lebens derer ganz unten entsprach fast immer das kümmerliche Einkom- men des Armenarztes.

Nicht nur die Gesellschaft als sol- che muß zu verhindern suchen, daß diese Zustände ungeachtet eines lang- anhaltenden wirtschaftlichen Nieder- gangs im alten Maße wiederkehren.

Auch die Ärzteschaft wäre gut bera- ten, das Ihre dazu beizutragen, daß sie auch zukünftig als Gruppe Anse-

hen und Vertrauen genießt und nicht nur in einzelnen herausragenden Ver- tretern. Tatsächlich aber deutet sich gegenwärtig eine gegenteilige Ent- wicklung an. Das Bewußtsein um mehrere zentrale Elemente vergan- gener professionalization ist zumin- dest Teilen der gegenwärtigen Gene- ration abhanden gekommen. Das Vertrauen der Gesellschaft in die Gruppe als Ganzes ist die Grundlage der Wertschätzung. Es wird durch un- bedingtes Festhalten an den Grund- werten des Lebens ebenso gefördert wie durch scheinbare Nebensächlich- keiten im äußeren Erscheinungsbild ihrer Mitglieder.

Im Zentrum des Bemühens stand daher das Streben nach der Einheit der Gruppe; einen wichtigen Aspekt in diesem Streben bildete über zwei Jahrtausende das Verbot der Wer- bung. Werbung ist nichts anderes als die Betonung des eigenen Könnens und somit, explizit oder nicht, die Her- absetzung des Könnens der Konkur- renten. Wenn kürzlich ein Befürwor- ter der Liberalisierung der Werbung

im Bereich der Medizin die Meinung vertrat, Werbung schaffe Vertrauen, so ist er möglicherweise der Zynik von Coca-Cola oder der Waschmittelre- klame erlegen. In Wirklichkeit schadet Werbung dem Standesansehen, indem sie auf Unterschiede aufmerksam macht und somit Mißtrauen sät. Der kurzfristig zu erwartende wirtschaftli- che Nutzen einiger bricht somit den uralten Konsensus im Streben nach homogener Außenwirkung auf. Damit trägt ein Teil der Ärzteschaft selbst zur Herausbildung einer Vielstu- fenmedizin bei.

Schwerer in Hinblick auf den Verlust von Vertrauen wirkt noch die derzeiten aller- orten außerhalb Deutschlands geführte Debatte über Sterbe- hilfe und den Unwert mancher Formen des Lebens. Zwei Jahr- tausende lang, bis zu Beginn unseres Jahrhunderts, konnten sich nachdenkliche Ärzte mit der Einsicht durchsetzen, daß ihren Interessen in der Gesell- schaft kaum ein Verdacht so sehr schadet wie die Vermutung ihrer Klientel, das Leben der Mitmenschen sei ihnen nicht das höchste Gut. Nur eine Ärz- teschaft, die diesen Wert bedingungs- los vermittelt, verdient langfristig Ver- trauen und höchsten gesellschaftlichen Rang. Wer der Versuchung erliegt, nach lebenswertem und lebensunwer- tem Leben zu unterscheiden, sät Zwei- fel an der Integrität der Gruppe und zwingt den Blick auf die Prüfung jedes einzelnen; unter solchen Umständen verdient nicht die Ärzteschaft als sol- che Vertrauen, sondern nur diejenigen ihrer Mitglieder, die es vermögen, sich persönlich ein entsprechendes Anse- hen zu erarbeiten.

Kompetenz spiegelt sich auch in der äußeren Erscheinung wider

Da scheint es angesichts solch schwerwiegender Umwälzungen der Wertmaßstäbe müßig, auch auf Äußerlichkeiten zu verweisen. Seit der Antike war sowohl in Europa als auch in anderen Hochkulturen be- kannt, daß fachliche Kompetenz al- lein nur eine begrenzte Überzeu-

A-36 (36) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 1–2, 8. Januar 1999

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

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gungskraft besitzt. Kompetenz muß auch in jedem Individuum die passen- de Erscheinung finden, um gleichsam auf den ersten Blick Vertrauen zu be- wirken.

Der Verfasser dieser Zeilen hat vor einigen Jahren in einer medizini- schen Fachzeitschrift unter der provo- zierenden Überschrift „Jeans und Sandalen“ eine Betrachtung „zum heutigen Erscheinungsbild einiger niedergelassener Ärzte“ veröffent- licht. Resümee der Ausführungen war, daß derjenige, der sich wie ein Provinzfußballer kleidet, nicht erwar- ten kann, daß er anders eingestuft wird als ein Provinzfußballer. Das Le- serbriefecho war, wie zu erwarten, ge- teilt. Einige ältere Ärzte trauerten den Zeiten nach, als eine „korrekte“

Kleidung noch als selbstverständlich galt. Eine viel größere Anzahl offen- sichtlich jüngerer Ärzte warf dem Verfasser jedoch überholtes elitäres Denken vor. Ein Briefschreiber stellte gar die Frage, ob er denn die Mörder der 40er Jahre in ihren Nadelstrei- fenanzügen den Jeans- und Sandalen- trägern der Gegenwart vorziehe, de- ren ethisches Verhalten und fachliche Kompetenz jedenfalls einwandfrei seien. In dieser Unterstellung liegt die heute weitverbreitete Unkenntnis um die Macht und Notwendigkeit der Symbole. Vom vertrauenswürdigen Arzt erwartet die Gesellschaft, daß er eben ein gutes Stück sorgfältiger ar- beitet und ein gutes Stück sauberer ist als alle diejenigen, die ihren Beruf al- lein mit einer Job-Mentalität ausüben.

Dem Arzt entgleitet die Kontrolle

über das Fachwissen

Schließlich sei ein weiterer Punkt genannt, der der weiteren Verselb- ständigung der Ärzteschaft entgegen- wirkt und statt dessen eine Verringe- rung der Selbständigkeit herbeiführt.

In wachsendem Maße wird medizini- sches Wissen nicht mehr von Ärzten geschaffen und an Ärzte weitergege- ben. Die herausragende Rolle der Angehörigen eines Standesberufs ist nicht zuletzt dadurch legitimiert, daß sie ihr Fachwissen selbstverantwort- lich schaffen und anwenden. Hier dro- hen dem Ärztestand langfristig durch-

aus Gefahren aus zumindest zwei Richtungen.

Zum einen geht die neue Anbin- dung an die Molekularbiologie, die von der Nephrologie über die Chirur- gie und Pathologie für viele Fachrich- tungen der Medizin verheißungsvoll erscheint, mit einer zunehmenden Abhängigkeit von einem Wissen ein- her, das in erster Linie von Biologen erarbeitet wird. Kontrolle über ein Wissen und über die Entlohnung, die für die Herausbildung von Wissen vergeben wird, übt letztlich immer der aus, der die Quelle, aus der das Wis- sen sprudelt, kontrolliert. Noch ist es undenkbar, daß der Strom molekular- biologischen Wissens durch andere als ärztliche Kanäle an den Patienten weitergegeben wird; aber das muß nicht ewig so sein.

Zum anderen hat die Technisie- rung der Medizin eine zunehmende Abhängigkeit von Geräten und Tech- niken in Diagnose und Therapie mit sich gebracht, die zwangsläufig nicht mehr alle von Ärzten selbst ent- wickelt und somit vollständig kontrol- liert werden können. Hier erwächst der Ärzteschaft nicht so sehr deshalb eine andauernde Konkurrenz, weil nichtärztliche Berufsgruppen sich als kompetente Anwender profilieren könnten. Ein Versuch, beispielsweise, der Fotografen zu Beginn des 20.

Jahrhunderts, die Anwendung bildge- bender Diagnoseverfahren zu mono- polisieren, konnte von den Ärzten oh- ne große Schwierigkeiten zurückge- wiesen werden. Die Gefahr droht eher auf der Ebene der Abhängigkeit in der Vermittlung des Wissens über die für die Medizin unverzichtbaren Geräte und Techniken und über de- ren Anwendung.

Wenn das Wissen, wie man diese Geräte und Techniken anwendet, von außen kommt, dann sinkt die Kompe- tenz der Ärzteschaft, dann wird ein wichtiger Teil ärztlicher Kontrolle über die eigenen Therapien abhängig von äußeren Zulieferern. Da die Selbständigkeit in der Gestaltung und Anwendung von Wissen ein ganz we- sentliches Element einer profession- alization, das heißt eines Standesberu- fes und der damit zusammenhängen- den gesellschaftlichen Wertschätzung und – davon abhängig – gesellschaftli- chen Entlohnung ist, besteht durchaus

die Möglichkeit, daß diese neuen Ent- wicklungen zumindest einen Teil der Ärzte in Abhängigkeiten bringen, die auch eine Minderung des Einkom- mens nach sich ziehen.

Die Krankenkassen machen den Ärzten ihre Rolle streitig

In welchem Maße die gesell- schaftliche Rolle der Ärzte und damit die Möglichkeit, wirtschaftliche Inter- essen effektiv zu vertreten, bereits ge- schwächt sind, zeigt beispielhaft das Verhalten der Krankenkassen wäh- rend der vergangenen Jahre. Die Krankenkassen haben sich, ohne in dieser Entwicklung von ärztlichen Standespolitikern energisch zurückge- wiesen zu werden, von bescheidenen Mittlern zwischen den Sicherungsbe- dürfnissen finanziell weniger gut ge- stellter Bevölkerungskreise einerseits und der Einkommenssicherung der Ärzte andererseits zu gesundheitspoli- tisch einflußreichen Wirtschaftsunter- nehmen gewandelt, deren Zielsetzung genau wie bei jedem anderen Wirt- schaftsunternehmen nicht zuletzt in der Mehrung der eigenen Finanzbasis und der Finanzausschüttung an die ei- genen leitenden Mitarbeiter liegt.

Der Gesetzgeber hat, ohne damit einen weitreichenden Protest aus- zulösen, ein weiteres Kennzeichen ei- nes selbständigen Berufsstandes ein- geschränkt, nämlich die Selbstbestim- mung, wer den Beruf ausüben möchte und wie lange. Indem mit dem Ge- sundheitsstrukturgesetz zum 1. Janu- ar 1999 alle diejenigen Kassenärzte ih- re Kassenzulassung verlieren, die das 68. Lebensjahr vollendet haben, ist der Ärzteschaft eine völlig willkürli- che Beschränkung auferlegt worden.

Welche Studie belegt, daß die Grenze des Zumutbaren im altersbedingten Absinken ärztlicher Leistung mit Ein- tritt in das 69. Lebensjahr erreicht worden ist? Wieso ist es nicht das 75.

Lebensjahr, oder das 62.? Mit welcher Berechtigung wurde eine Pauschalre- gelung eingeführt, anstelle einer Ein- zelbewertung? Es ist doch unbestrit- ten, daß der Verlust geistiger und körperlicher Höchstleistungsfähigkeit nicht ebenso automatisch zu einem bestimmten Zeitpunkt eintrifft, wie

A-38 (38) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 1–2, 8. Januar 1999

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

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ihn das Verfallsdatum für eine Pak- kung Antibiotika vermuten läßt.

Gäbe es noch ein allgemeines Standesbewußtsein, dann hätte diese Regelung einen Aufschrei auslösen müssen, hätte die Ärzteschaft selbst ei- nen Modus anbieten müssen, die Al- tersgrenze zu regeln. Dies ist nicht ge- schehen. Interessanterweise sind damit die drei klassischen Standesberufe der Juristen, Theologen und Ärzte nun wieder auf einer Ebene angesiedelt.

Richter und andere Juristen im Staats- dienst scheiden ebenso mit Erreichen der allgemeinen Pensionsgrenze aus wie Theologen, die – etwa als Profes- soren in theologischen Fakultäten – vom Staate besoldet werden. Der pen- sionierte Richter kann als freiberufli- cher Rechtsanwalt weiterhin tätig sein;

der Bischof, Kardinal oder andere Theologen außerhalb des Staatsdien- stes können bis zum Erreichen biolo- gisch bedingter Grenzen wirken. Eben- so steht es dem aus der Kassenzulas- sung entlassenen Arzt frei, eine Privat- praxis so lange fortzuführen, wie es ihm seine Kräfte erlauben. In dieser Hin- sicht unterscheiden sich die Angehöri- gen der klassischen Standesberufe nun nicht mehr von anderen Freiberuflern, seien es Kaufleute oder Handwerker.

Alle diese Entwicklungen zeigen einmal mehr, daß die Ärzteschaft sich gesamtgesellschaftlichen Strukturver- änderungen zwar nicht entziehen kann, andererseits sich jedoch auch darüber im klaren sein sollte, welche Interessen sie als Gesamtgruppe lang- fristig verfolgen möchte.

Nein, ein sehr attraktives Wort ist professionalization nach wie vor nicht, und der Begriff eines Standes- berufs scheint heute vollends veraltet.

Keiner wird jedoch abstreiten kön- nen, daß die historischen Entwicklun- gen, die hinter diesen Worten und Be- griffen stehen, erneut eine unerwarte- te Aktualität erhalten haben.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1999; 96: A-35–39 [Heft 1–2]

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. Paul U. Unschuld

Institut für Geschichte der Medizin der LMU München

Lessingstraße 2 80336 München

A-39 Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 1–2, 8. Januar 1999 (39)

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE/BERICHTE

amilien mit sterbenskranken Kindern befinden sich in ei- ner ganz besonderen Situation.

Zum einen fällt es den Eltern beson- ders schwer, die Pflege und Betreuung auch nur partiell zu delegieren, zum anderen ist es ein langwieriger Pro- zeß, die Krankheit als nicht therapie- fähig zu akzeptieren. Das erste deut- sche Kinderhospiz in Olpe, das im September seine Tore öffnete, will in erster Linie diesen Familien, die in ständiger psychischer und physischer Anspannung leben, Unterstützung und Entlastung ge-

währen. Die Funkti- on als Sterbeheim ist nachgeordnet.

„Zunächst fie- len wir in ein tiefes schwarzes Loch“, er- innert sich Birgit Grohe*, Mutter des an Mukopolysaccha- ridose (MPS) er-

krankten Till. „Als wir langsam wie- der zu uns kamen, wollten wir alles für Till tun, damit er noch eine schöne Zeit hat. Natürlich merkten wir, daß unsere anderen beiden Kinder zu kurz kamen.“ Im Kinderhospiz trifft Birgit Grohe auf Menschen, denen solche Reaktionen vertraut sind. Werner Weber, der die Eltern im Hospiz be- treut, kennt die Problematik aus eige- ner Erfahrung: sein Sohn starb vor gut einem Jahr an MPS. 1990 gründeten sieben Familien einer Selbsthilfegrup- pe den Kinderhospizverein e.V. mit dem Ziel, eine Stätte der Begegnung, des Austausches und der Erholung für

„austherapierte“ Kinder und ihre Fa- milien zu schaffen. Die „Gemein- nützige Gesellschaft der Franziskane-

rinnen zu Olpe mbH“ erklärte sich 1997 bereit, die Trägerschaft für das Projekt zu übernehmen, und bereits ein Jahr später konnten die ersten Gä- ste die neue Herberge besuchen.

Till ist jetzt 15 Jahre alt, seit vier Jahren an einen Rollstuhl gefesselt und muß mit einer PEG-Sonde künst- lich ernährt werden. Er hat im Kin- derhospiz sein eigenes Zimmer. Seine Mutter und seine Geschwister schla- fen eine Etage höher. Die Pflege Tills wird vom Personal übernommen. Bir- git Grohe hat jetzt endlich mal Zeit, mit ihren beiden an- deren Kindern et- was zu unternehmen.

Auch wenn im Haus

„Balthasar“ die mei- ste Zeit das Lachen und Spielen von Kin- dern zu hören ist, vergißt doch nie- mand, daß die kran- ken Kinder hier in einer nicht sehr fernen Zukunft ster- ben müssen. Die Familien entschei- den, ob sie in der letzten Phase lieber zu Hause oder im Hospiz sein wollen.

Am Ende eines Flurs befindet sich der Abschiedsbereich. In einem gekühlten Raum wird das verstorbe- ne Kind aufgebahrt. Die Eltern kön- nen mehrere Tage lang Abschied neh- men, in einem Vorraum Besuch emp- fangen und sich ihrer Trauer hinge- ben. Über eine außenliegende Wen- deltreppe erreichen sie ihr Schlafzim- mer, ohne den anderen begegnen zu müssen.

Die Gemeinnützige Gesellschaft der Franziskanerinnen zu Olpe will so lange wie möglich an diesem in Deutschland einmaligen Projekt fest- halten, auch wenn seine Finanzierung nicht gesichert ist. Reimund Freye

Kinderhospiz

Eine Stätte der Begegnung

Das Haus „Balthasar“ in Olpe will Familien Unterstützung und Entlastung gewähren.

F

Informationen: Christoph Leiden, Gemeinnützige Ge- sellschaft der Franziskane- rinnen zu Olpe mbH, Maria- Theresia-Straße 30a, 57462 Olpe, Tel 0 27 61/92 65 38, Fax 92 65 18, Bankverbin- dung: Sparkasse Olpe, Konto 54 54, BLZ 462 500 49.

*Name von der Redaktion geändert

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