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Archiv "Ambulante Behandlung alkoholkranker Patienten — eine Aufgabe für den niedergelassenen Arzt" (22.03.1979)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Heft 12 vom 22. März 1979

Ambulante Behandlung alkoholkranker Patienten

— eine Aufgabe

für den niedergelassenen Arzt

Etwa 1,5 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland gelten als alko- holkrank, die Zahl der Gefähr- deten ist weitaus höher. Der Alkoholmißbrauch nimmt zu, gerade auch bei Jugendli- chen. Die Vorkehrungen sind demgegenüber unzureichend.

Vor allem die niedergelasse- nen Ärzte stehen hier vor einer großen Herausforderung. Sie sollten sie annehmen. Die am- bulante Behandlung von Alko- holikern — in Zusammenarbeit von Arzt, Suchttherapeut, Selbsthilfegruppe. Familie und Sozialarbeiter — ist näm- lich weitaus erfolgverspre- chender als bei einer Isolie- rung des Kranken in einer An- stalt: das Krankenhaus und die Spezialklinik behalten selbstverständlich ihre große Bedeutung bei der stationären Entzugsbehandlung. Der Verfasser ist praktischer 'Arzt, er kennt aus eigener (haus-) ärztlicher Erfahrung das, wor- über er schreibt. Darüber hin- aus wurde soeben aus seiner Arbeitsgruppe in der Zeit- schrift „der niedergelassene Arzt" eine Arbeit veröffent- licht, die neben einer Umfrage bei niedergelassenen Ärzten zum Thema Alkoholkrankheit einmal alle Arbeitsunfähigkei- ten und Krankenhausaufent- halte infolge Alkohol im Be- reich der Ortskrankenkassen in Nordrhein-Westfalen zu- sammenstellt (Hillen). Die Er- gebnisse weisen auch auf die enorme sozialpolitische Be- deutung dieser gesamten Pro- blematik hin.

Wolf-Rüdiger Weisbach

Die gesellschafts- und gesundheits- politische Relevanz, ja es ist erlaubt zu sagen, die Brisanz der Alkohol- krankheit, des Alkoholkonsums in der Bundesrepublik Deutschland schlechthin, wird glücklicherweise in letzter Zeit sowohl in der öffentli- chen als auch der fachmedizini- schen Presse erkannt. Die Öffent- lichkeit scheint sensibilisiert.

Auch die Ärzte scheinen sich end- lich, wenn auch noch zögernd, der Wichtigkeit dieses Themas bewußt zu werden. Es wird häufig behaup- tet, daß die ärztlichen Körperschaf- ten und Verbände in den letzten Jah- ren häufig nur in unzureichendem Maße auf die teilweise tiefgreifenden sozialstrukturellen Veränderungen unserer Industriegesellschaft etwa in der ärztlichen Fortbildung oder

„mittels Impulsen" für die staatliche Gesundheitspolitik reagiert haben.

Auch Baier erinnert daran, wie zö- gernd sieh Erkenntnisse der sozia- len Medizin, der Arbeitsmedizin, ja auch der Allgemeinmedizin in den vergangenen Jahren dort durchge- setzt haben, obwohl, ich zitiere Baier: „Das Fluchtverhalten von Ju- gendlichen in Alkoholismus, Dro- gensucht und andere Leistungsver- weigerungen ... mit den verheeren- den Folgen für die soziale Substanz durchaus frühzeitig registrierte Phä- nomene waren."

Dabei ist es eine Tatsache, daß heu- te 47 Prozent der Bevölkerung regel- mäßig, d. h. mehrfach wöchentlich

bzw. täglich Alkoholgenuß betreibt.

4 Prozent der Bevölkerung, das sind etwa 2 Millionen Menschen, haben eine sehr enge Beziehung zum Alko- hol bzw. sind abhängig. Zur Zeit wird angenommen, daß rund 1,5 Mil- lionen im medizinischen Sinne als alkoholabhängig und behandlungs- bedürftig zu bezeichnen sind. Be- trug der Pro-Kopf-Konsum an rei- nem Alkohol 1950 noch 3,6 I/Jahr so betrug er 1975 bereits 12,4 I/Jahr!

Das bedeutet auf den Normalver- braucher umgesetzt: 1501 Bier, 7I Branntwein und 24 !Wein oder Sekt pro Jahr. Die Ausgaben für Alkohol 1975: 33,9 Milliarden DM, das sind 500 DM pro Kopf der Gesamtbevöl- kerung. Diese Ausgaben bewegen sich in etwa in s Höhe der Ausgaben für die Gesundheitssicherung im ambulanten Bereich. Die Ausgaben, bedingt durch die sozialen Folgen der Alkoholkrankheit wie Arbeits- unfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Krankheit und stationäre Behand- lungskosten sind dabei nicht be- rücksichtigt. Nach den Angaben der Hauptstelle gegen Suchtgefahren in Hamm/Westfalen nahm der Fiskus 1974 rund 4,9 Milliarden DM an Al- koholsteuern ein, im Jahr 1975 so- gar erstmals mehr als 5 Milliarden DM. Die Hammer Hauptstelle warnt:

„Alkohol ist das größte sozialmedizi- nische Problem in der Bundesrepu- blik."

Beängstigend ist in letzter Zeit die zu beobachtende Zunahme der Al- koholabhängigkeit auch unter Ju-

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Ambulante Alkoholiker-Behandlung

gendlichen. Fachleute schätzen heute die Zahl der Abhängigen un- ter 18 Jahren auf etwa 150 000.

Schnaps wird zum „Brot der frühen Jahre".

Die Motivationen und Bedingungen des Alkoholmißbrauches sind viel- schichtig und teilweise noch zu we- nig erforscht. Sicherlich ist eine der Hauptursachen die Gesellschaftsfä- higkeit des Genuß- und Rauschmit- tels Alkohol, das in unserer heutigen Zeit ein Statussymbol ersten Ranges geworden ist. Gerade der Jugendli- che wird mehr oder weniger zum Alkoholkonsum gezwungen, will er sich nicht selbst als Schwächling oder Outsider, ja sogar als Spinner identifizieren oder zu erkennen geben.

Auf dem Boden dieser im Grunde genommen gesellschaftlich sanktio- nierten, ja sogar geförderten Trink- bereitschaft werden bestimmte Per- sönlichkeiten bei zusätzlich vorhan- dener Disposition leicht zu Abhän- gigen.

Wird das Problem Alkohol als ein aktuelles gesellschaftliches betrach- tet, ja vielleicht sogar gleichzeitig mit dem zunehmenden Psychophar- makaabusus in nahezu allen indu- strialisierten Ländern, so scheint hier ein gewisser Parallelprozeß zum gegenwärtigen industriellen Wachs- tum abzulaufen.

Janz spricht von einer chemischen Inweltverschmutzung, die der Mensch im industriellen Zeitalter sich selbst und damit auch seinem sozialen Umfeld zufügt, indem er be- stimmte Substanzen mit besonderer Wirksamkeit auf das Nervensystem

„durch ihren Mißbrauch in Schad- stoffe verwandelt".

Fritsch sieht die Ursache für den zu- nehmenden Mißbrauch von Drogen und Alkohol in einem „Anpassungs- defizit" des heutigen Menschen.

Während die Technik und die indu- strielle Entwicklung scheinbar Sprünge machen können, ist dies in der Entwicklung des Menschen nicht möglich: „Natura non salta fa- cit". Mißbrauch und Abhängigkeit

von psychotropen Substanzen ge- hören nach Meinung von Fritsch zu den Signaturen eines epochalen Prozesses, der gekennzeichnet ist durch das Unvermögen einer zuneh- menden Zahl von Menschen, die mit der überstürzten Industrialisierung, Ökonomisierung und Urbanisierung verbundenen gesellschaftlichen Umstrukturierungen, ökologischen Balancestörungen und individuellen Anpassungserfordernisse geistig, ethisch und psychophysisch zu be- wältigen". Bedingt durch dieses Mißverhältnis, entwickelt sich eine Anpassungskrisis oder aber ein An- passungsdefizit. Auch Fritsch spricht in diesem Zusammenhang von einem sich entwickelnden natio- nalen und übernationalen Not- standsgebiet der Volksgesundheit.

Der gleiche Autor glaubt, daß dieses Anpassungsdefizit noch nicht über- wunden werden kann, da der Mensch in der heutigen Gesellschaft weithin die Orientierung an festen geistigen, weltlichen und religiösen Standorten verloren hat.

Die Droge Alkohol wird als ein Mittel zur Daseinsbewältigung benutzt.

Manchmal ist sie auch ein Flucht- weg vor der Selbstverwirklichung, nicht zuletzt auch Ersatzstoff für tragfähige und haltgebende zwi- schenmenschliche Beziehungen.

Wird doch die Alkoholkrankheit auch als Lonely-sickness, also Ein- samkeitskrankheit bezeichnet.

Schlüsselposition des Hausarztes Da der Arzt, insbesondere der Haus- arzt, in dieser Situation eine Schlüs- selposition besitzt, sollte er unter dem Eindruck dieses aktuellen ge- sellschaftspolitischen Spannungs- feldes aufgefordert sein, eine beson- dere Stellung einzunehmen. Der Arztberuf in seiner freien Berufsaus- übung muß sich berufen fühlen, in den sich entwickelnden Circulus vi- tiosus einzugreifen und bessere Möglichkeiten der Hilfe anzubieten, wie sie zur Zeit gegeben sind. Auch muß der Arzt über seine Körper- schaften (wie oben schon erwähnt) in der Öffentlichkeit die Verantwort- lichen in weit stärkerem Maße als

bisher auf die auf uns zukommen- den Gefahren hinweisen.

Die derzeitige Situation der medizi- nischen Betreuung der Alkoholkran- ken, sei es durch die niedergelasse- nen Ärzte, sei es im stationären Be- reich, ist gekennzeichnet durch un- zureichende Kenntnisse vieler Ärzte in diesem speziellen Fachgebiet. Es fehlen häufig sowohl Kenntnisse in der Diagnostik als auch Kenntnisse der therapeutischen Möglichkeiten.

Diese Informationslücken der Ärzte, die nicht dem einzelnen Arzt, son- dern unserem Ausbildungs- und — in gewissem Umfange — auch dem Fortbildungssystem zu Last gelegt werden müssen, sind die Hauptursa- chen für das Desinteresse auch der niedergelassenen Ärzte an der Alko- holkrankheit.

1976 wurde eine von Lohse in Ber- lin-West durchgeführte Befragung von Ärzten veröffentlicht. Nach die- ser Umfrage bestand über das We- sen der Alkoholkrankheit nur eine verschwommene Vorstellung:

27 Prozent der Befragten waren der irrigen Meinung, ein Alkoholiker dürfe nach einer gewissen Zeit der Abstinenz wieder trinken,

48 Prozent empfahlen lediglich eine Änderung der Trinkgewohnheiten, 40 Prozent (!) des Anteils der prakti- schen Ärzte kannten nicht das Urteil des BSG vom 18. Oktober 1968, nach dem der Alkoholismus eine Krankheit im Sinne der RVO ist (Lohse zitiert bei Janz).

Auf einer Fortbildungsveranstaltung im Juni 1978 erlebte der Verfasser, daß von einem Hochschulprofessor im Rahmen eines Vortrages über Schlafstörungen ein abendlicher Al- koholtrunk in regelmäßiger Form als bestes Heilmittel empfohlen wurde.

Im ganzen werden in der Praxis we- niger Alkoholiker bekannt, als es der Häufigkeit entspricht. Noch weniger werden in der Praxis behandelt! Ei- ne mit Hilfe des Verfassers von Ril- len durchgeführte Befragung von 124 Allgemeinmedizinern und Ner-

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venärzten im Rhein-Sieg-Kreis (Stichtag 15. November 1977) zeigte, mit welchen Schwierigkeiten der niedergelassene Arzt zu kämpfen hat, um seine Patienten vom Wesen der Krankheit Alkoholabhängigkeit zu überzeugen, denn 85 Prozent der dem Arzt bekannten Alkoholkranken waren nicht bereit, ihre Alkohol- krankheit oder Alkoholabhängigkeit zuzugeben, geschweige denn sich einer Behandlung zu unterziehen.

Das derzeitige Therapiekonzept der Alkoholkrankheit besteht im wesent- lichen in einer stationären Entzugs- behandlung zum Beispiel im Kreis- krankenhaus auf Entgiftu ngsstatio- nen mit nachfolgender Überführung in eine entsprechende Spezialklinik oder aber Direktaufnahme in einem Landeskrankenhaus oder einer neu- rologischen Spezialklinik. Im Be- reich der stationären Therapie un- terscheiden wir heute drei Therapie- formen:

~ die kurzfristige,

~ die mittelfristige,

~ die langfristige Therapie.

ln diesem Schema hat sich die mit- telfristige Therapie im Sinne einer psychosomatischen Behandlung als optimale Behandlungsform heraus- kristallisiert, wenn entsprechende Nachbehandlung in einer Selbsthil- feorganisation oder durch einen in- teressierten niedergelassenen Arzt gegeben ist.

Im Rahmen dieser Therapie bewegt sich die stationäre Behandlungs- dauer zwischen sechs Wochen und drei Monaten. Diese sogenannte mittelfristige Therapie wird, dahin scheint der Trend zu verlaufen, zur Standardtherapie, insbesondere im Rahmen der psychosomatischen Therapie, wie sie in Deutschland durch Frau Dr. Lange-Treschhaus in der Fachklinik Bad Tönisstein indu- ziert wurde.

Diese Therapie ist charakterisiert durch einen nahtlosen Übergang von klinischer Therapie und ambu- lanter Nachsorge in sogenannten Selbsthilfegruppen. Dieses Thera-

Spektrum der Woche

Aufsätze ·Notizen

Ambulante Alkoholiker-Behandlung

piepragramm richtet sich nach dem Stadium der Krankheit und ist ge- kennzeichnet durch eine Mehrdi- mensionalität: über eine eventuell notwendige Entgiftungsbehandlung führt sie sowohl zur Gruppenthera- pie als auch zur Einzeltherapie. Das Behandlungsprinzip wird abgerun- det durch Beschäftigungstherapie, sogenannte therapeutische Spazier- gänge, lnformationsgroßgruppen, Filmvorführungen, Gymnastik, auto- genes Training, um nur die wichtig- sten Therapiebausteine zu nennen.

Die Rolle der "Suchttherapeuten"

Neben dem geschulten Arzt nimmt der Suchttherapeut im Rahmen des therapeutischen "Personals" eine dominierende Rolle ein. Dieser Suchttherapeut, der sich in der Re- gel als ehemaliger Alkoholiker zu er- kennen gibt, besitzt das entspre- chende Einfühlungsvermögen in diese Krankheit und ist auf Grund einer differenzierten Ausbildung in der Lage, in Kooperation mit dem behandelnden Arzt und mit dem Be- schäftigungstherapeuten optimale Erfolge zu erzielen.

Ist nämlich die körperliche Entzie- hung des Suchtmittels unter ärztli- cher Behandlung relativ schnell durchzuführen, so stellt das Kern- problem der Therapie die Notwen- digkeit dar, eine Persönlichkeitsum- wandlung des Patienten durchzu- führen. Dies wird in der Regel in der Gruppenpsychotherapie bzw. in der Gruppentherapie und im Gespräch versucht. Diese themenzentrierte Gruppentherapie stellt einen der Hauptbausteine dieser Behand- lungsform dar.

Kennt man die erstaunlichen Erfolge der psychosomatischen Therapie und berücksichtigt die wenigen sta- tionären Therapieplätze im Verhält- nis zu der enormen Zahl von Alko- holkranken, insbesondere der jün- geren Generation, wobei letztere diesem Behandlungsprinzip beson- ders zugänglich sind, so wird hier eine Diskrepanz erkennbar, die ge- rade unter dem Eindruck der Ko- stendämpfung im Gesundheitswe-

sen mit ihren Restriktionen, mit den derzeitigen Möglichkeiten nicht zu beseitigen ist.

Diese Diskrepanz zwischen dEm ge- ringen stationären Therapiemög- lichkeiten und auf der anderen Seite der Behandlungsbedürftigkeit einer Vielzahl von Patienten ist so evident, daß dieses Dilemma nur gelöst wer- den kann, wenn der niedergelassene Arzt hier neue Aufgaben erkennt und bereit ist, diese zu übernehmen. Denn sieht man das oben skizzierte Therapieprinzip als mehrdimensio- nale Behandlung, die auf psychi- sche und somatische Aktivierung bzw. Rehabilitation ausgerichtet ist, die letztlich den Patienten in die La- ge versetzen soll, "sich der Realität wie sie ist, nicht wie er sie sieht oder sich wünscht, zu stellen bzw. diese zu bewältigen" (zitiert nach Lange), so ist erkennbar, daß diese Thera- pieziele bei einem Großteil der Alko- holkranken mit etwas Mühe auch ambulant erreicht werden können.

Gerade die themenzentrierte Grup- pentherapie bietet sich als ambu- lante Behandlungsmöglichkeit an, wenn für den niedergelassenen Arzt die Voraussetzungen dafür geschaf- fen werden. Diese sind heute nur in geringem Maße gegeben, denn sie erfordern eine enge Kooperation mit medizinischen Assistenzberufen; und sie erfordern Zusammenarbeit mit einer Selbsthilfegruppe, und sie erfordern natürlich als Basis über- haupt ausreichende Kenntnisse über die Alkoholkrankheit

ln erster Linie muß eine Kooperation mit dem Suchttherapeuten ange- strebt werden, der zusammen mit der Selbsthilfegruppe und mit dem Arzt ein Behandlungsdreieck bildet.

ln diesem Behandlungsdreieck stellt der Arzt sozusagen den Steuermann dar, er stellt den Therapieplan auf, ist dank seiner Autorität in der Lage, dieses Behandlungsdreieck durch therapeutische Verbündete in der Familie, im Betrieb, im Freundes- kreis zu erweitern.

Da die Therapie des Alkoholkranken auch eine Soziotherapie ist, stellt die Zusammenarbeit mit der Familie

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Spektrum der Woche Aufsätze · Notizen

Ambulante Alkoholiker-Behandlung

auch eine solche erweiterte Sozial- therapie dar.

Der große Vorteil einer solchen am- bulanten Therapie liegt gerade dar- in, daß der Patient seiner Familie nicht entfremdet wird. Eine Arbeits- platzgefährdung, die häufig durch die stationäre Behandlung bedingt .st, kann eher vermieden werden. Die Konfrontation mit dem Arbeits- platzkollegen ist unter Umständen sogar wünschenswert und kann im Rahmen der ambulanten Therapie im oben skizzierten therapeutischen Bündnis besser bewältigt werden. Die häufig vorhandene Diskriminie- rung des Alkoholkranken durch die Hospitalisierung kann umgangen werden, und damit eine der häufig- sten Ängste des Alkoholkranken überhaupt, nämlich seine Krankheit als solche zuzugeben, schwindet.

Daneben führt das ambulante Be- handlungsprinzip, natürlich zu einer finanziellen Einsparung an Kosten gegenüber dem stationären Be- handlungsprinzip zusätzlich auch zu einem Erhalt der "Produktivkraft"

des Patienten, da er in der Regel weiterarbeiten kann.

Es sei erlaubt zu sagen, daß in die- sem Therapieprinzip kein anderer Arzt eine solch starke Position ein- nehmen kann, wie der Hausarzt. Er ist die Vertrauensperson, der Fami- lienarzt schlechthin, und stellt für den Patienten eine gewisse Autorität dar. ln diesem Therapieprinzip steht nicht das naturwissenschaftliche Konzept der Medizin im Vorder- grund, sondern dieses Behand- lungsprinzip ist eine echte patien- tenzentrierte Medizin. Sie ist auch nicht mit einer spezialisierten psy- chosomatischen Medizin zu identifi- zieren, die ja methodisch meist psy- choanalytisch operiert. Die patien- tenzentrierte Medizin geht von der Vorstellung aus, daß jede Krankheit mit zahlreichen menschlichen Pro- blemen verbunden ist, deren Beach- tung oder Nichtbeachtung auf das Krankheitsbild zurückführt (zitiert nach K. K. Engelhardt). Unter dieser Sicht wird also nicht nur die Krank- heit als solche behandelt, sondern darüber hinaus die gesamte Situa- tion des Patienten berücksichtigt,

um der Gesamtpersönlichkeit ge- recht zu werden.

Eigene Erfahrungen bestätigen:

Ambulante Behandlung

ist besonders erfolgversprechend Der Verfasser hat inzwischen bei Al- kohol kranken in seiner eigenen Pra- xis bzw. Arbeitsgruppe beste Erfah- rungen mit diesem Behandlungsvor- gehen gemacht und gerade bei jun- gen Alkoholkranken, bei denen eine echte Behand I u ngsbereitschaft vor- lag, festgestellt, daß bei diesen die Aussichten für eine ambulante Ent- zugsbehandlung optimal sind.

Im ländlichen Raume seiner Ge- meinde verfügt der Verfasser über zwei potente AA-Gruppen mit ent- sprechenden Ehepartnergruppen. ln beiden Gruppen sind Suchtthera- peuten aktiv. Ihre Erfahrungen brin- gen sie in die Gesprächs- und Gruppentherapie mit ein. Diese Suchttherapeuten sind in diesem Bereich ehrenamtlich tätig. Sie üben ihre Haupttätigkeit in einer Klinik aus. ln allen Fällen wurde die Ehe- frau des Patienten in den Behand- lungsplan miteinbezogen, teilweise die weiteren Angehörigen der Fami- lie. Eine ambulante Distraneurinbe- handlung, vor der heute ja wegen der Gefahr der Abhängigkeit ge- warnt wird, war bisher nur in zwei Fällen notwendig. ln diesen Fällen auch nur in geringer Dosierung über vier Tage. Die Patienten mußten sich jeweils die Tabletten beim Arzt in der Praxis abholen und konnten so in- tensiv überwacht werden. Unter die- sen Voraussetzungen ist sicherlich eine kurzfristige ambulante Thera- pie mit Chlormethiazol gerechtfer- tigt. Auch Lundquist geht so vor, gibt allerdings häufig noch Vitamin- injektionen am ersten Tage. Er be- richtet allerdings auch über gute Er- fahrungen mit der Gabe von Benzo- diazinen.

ln zwei der Fälle wurde mit dem So- zialarbeiter des Betriebes Kontakt aufgenommen, um auch von dieser Seite dem Patienten Hilfestellung zu geben. Gerade dieser Kontakt mit dem Sozialarbeiter ist sehr wichtig,

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und er sollte von dem niedergelas- senen Arzt gesucht werden. Leider erfahren die Ärzte im Rahmen ihrer Ausbildung nur wenig von der Wirk- lichkeit einer Zusammenarbeit mit Sozialarbeitern. Dies ist ebenfalls ein spezifisches Ausbildungspro- blem der Ärzte, denn die in. freier Praxis tätigen Ärzte stehen einer Zu- sammenarbeit mit Sozialarbeitern keineswegs ablehnend gegenüber (zitiert nach Jungmann). Sicherlich würden' die Ärzte zu einer solchen Zusammenarbeit eher bereit sein, je mehr sie ihre Notwendigkeit erken- nen können. Im Bereich der Alkohol- krankenbetreuung ist diese Notwen- digkeit sicherlich leicht einsehbar.

Neben diesen rein medizinischen Aufgaben und parallel zu dieser Be- handlung sind zahlreiche Kontakte mit Ämtern, zum Beispiel dem Ar- beitsamt, den Sozialämtern, mit den Krankenkassen, aber auch mit dem Arbeitgeber der Patienten, notwen- dig, um in diesem Bereich dem Pa- tienten ebenfalls Hilfestellung zu leisten.

Um dieses Therapieprinzip zu opti- mieren, wäre es sinnvoll, bei schwe- reren Fällen zum Beispiel über vier Wochen jeden Tag oder mehrfach in der Woche Gruppenabende bzw.

Gespräche durchzuführen, um die Entwöhnung und die damit verbun- denen seelischen und somatischen

Schwierigkeiten besser in den Griff

zu bekommen. Eine solche fast täg- liche Therapie, wie sie auch unter stationären Bedingungen durchge- führt wird, kann dem Arzt unter den heutigen Bedingungen kaum zu- mutbar sein, da auch heute (jeden- falls für den praktischen Arzt) noch keine entsprechenden Honorie- rungsmöglichkeiten gegeben sind und aus diesem Grunde diese The- rapie, die ja einen hohen persönli- chen und zeitlichen Aufwand bedeu- tet, von ihm nicht zu übernehmen ist.

Die Beschäftigung mit diesem Pro- blem muß wohl heute bezüglich der entsprechenden Honorierung häufig noch als Hobby betrachtet werden.

..,.. Vielleicht wäre es auch sinnvoll, da der Suchttherapeut über teilwei-

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se bessere therapeutische Möglich- keiten verfügt, diesen ambulant mit- tätig werden zu lassen bzw. an eine entsprechende Praxis angliedern zu lassen, um gemeinsam aktiv zu wer- den, zum Beispiel in einer täglich notwendigen Gruppentherapie.

..,.. Der Verfasser ist sich über die Brisanz dieser Forderung im klaren, da hier ärztliche Kompetenzen dele- giert werden sollen. Als Gegenargu- ment dazu ist zu sagen, daß heute nahezu kein niedergelassener Arzt bereit ist, die Dinge in der oben skiz- zierten Weise durchzuführen, und dies auch aus zeitlichen Gründen nicht kann. Unter diesen Vorausset- zungen scheint es eher sinnvoll, ei- ner optimalen Zusammenarbeit mit entsprechenden Therapeuten auf- geschlossen zu sein, und damit dem niedergelassenen Arzt eine größere Kompetenz einzuräumen, als sie zur Zeit vorhanden ist.

Für den Patienten ist der oben auf- geführte Weg sicherlich der ange- nehmste und für die entsprechen- den Kostenträger sicherlich auch der wirtschaftlichste.

Es sei hier erwähnt, daß Sparrer über ein Modell berichtet, ähnlich dem oben skizzierten im Rahmen des werksärztlichen Dienstes, das heute in der Lage ist, im Rahmen einer sinnvollen Behandlungskette ambulant diese Hilfe anzubieten.

Optimal: Gruppenpraxen ...

Da dieses Therapieprinzip als Grundvoraussetzung Kooperation und Teamwork hat, da nur diese op- timale Zusammenarbeit dem Patien- ten Hilfe bieten kann, soll in diesem Zusammenhang auch auf die Mög- lichkeiten der Gruppenpraxis hinge- wiesen werden.

Denn geht man davon aus, daß eine der Alternativen zu dem derzeitigen System der ärztlichen Versorgung durch Einzelpraxen und nicht zu- letzt auch als freiheitliche Alternati- ve zu den von mancher Seite gefor- derten MTZ und medizinischer Ge- meindezentren die Gruppenpraxis darstellt, so scheint sich hier ein Weg anzubieten, der optimale Vor-

Spektrum der Wocbe Aufsatze · Notizen Ambulante Alkoholiker-Behandlung

aussetzungen für das oben ange- führte Behandlungsprinzip schafft.

Gerade in einer Gruppenpraxis wer- den sich sogenannte medizinische Assistenzberufe gut integrieren las- sen. Durchaus denkbar wäre der

Weg, daß zum Beispiel eine Gruppe

einen Suchttherapeuten einstellt bzw. ihn aktiv in die Gruppe auf- nimmt. Er eventuell selbst, seinen Leistungen entsprechend, mit den Krankenkassen direkt abrechnet.

Hier müssen Möglichkeiten geschaf- fen werden, um die ambulante Be- handlungsbreite auszunutzen, even- tuell müßte im speziellen Falle auch direkt mit Kostenträgern wie dem Landschaftsverband oder den Ver- sicherungsanstalten abgerechnet werden können.

Unsere Körperschaften sollten diese Modelle unterstützen, sich darüber im klaren sein, daß die Gebühren- ordnung eine enorme Lenkungs- funktion auf diese Dinge hat. Nur durch solche neuen Denkweisen können auch in diesem Bereich die ärztlichen Freiheiten erhalten wer-

den, von denen alle reden, die aber

trotzdem schrittweise abgebaut wer- den. Ausbau der entsprechenden Leistungsziffern eventuell auch für die Durchführung der Gruppenthe- rapie, vielleicht im Einzelfall auch ohne Nachweis der Zusatzbezeich- nung ,.Psychotherapie", sollte dis- kutiert werden.

Auch ohne diese erweiterten ambu- lanten Therapiemöglichkeiten sollte heute schon jeder in diesem Bereich tätige niedergelassene Arzt versu- chen, Kontakte zu bestehenden Selbsthilfegruppen anzuknüpfen

und, falls nicht vorhanden, Anstren-

gungen unternehmen, solche zu gründen. Jeder Arzt, der sich für die- sen Bereich der Medizin interessiert, muß aktiv werden und sich als Arzt erkennbar geben, der diesen Proble- men gegenüber aufgeschlossen ist.

Da dieses Problem, nicht nur sozial- medizinisch, sondern auch gesamt- gesellschaftlich gesehen, ein Not- standsgebiet ist, sollte der aktive Arzt durch sachgerechte Informa- tion auch in der Öffentlichkeit die Trinkgewohnheiten und Lebensge- wohnheiten des Patienten durch

Vorträge und entsprechende Veröf- fentlichungen in lokalen Blättern versuchen zu verbessern.

Auch an Aufklärungsarbeit in den Schulen durch entsprechende Vor- träge sollte sich der niedergelassene Arzt beteiligen, um auch hier die dringend notwendige Aufklärung unserer Jugend mit zu betreiben.

Gerade bei der letzteren Arbeit hat der Verfasser großes Interesse bei der Jugend an diesen Dingen vorge- funden, wenn zum Beispiel in Vor- trägen ehemalige jugendliche Alko- holiker an einer solchen Diskussion mitarbeiten.

ln dieser Arbeit wird gerade der praktizierende Arzt, vor allem der Hausarzt des Patienten, immer einen besonderen Platz einnehmen.

..,.. Darüber hinaus wird der Arzt, der hier mittut, auch etwas für sich selbst durch lebendige menschliche Kontakte und durch Reflexionen, vielleicht auch durch Neuorientie- rung seiner eigenen Werte und Vor- stellungen, gewinnen. Er wird einen neuen und emotionalen Zugang zu Abhängigen und. ein tieferes Ver- ständnis der psychosozialen Ursa- che dieser Krankheit, in die er ja miteinbezogen wird, lernen (zitiert nach Hart). Er wird damit nicht zu- letzt sensibler sein für das, was sich heute in unserer Gesellschaft ab- spielt, nicht zuletzt dadurch wird im Laufe der Zeit eine neue soziale Sensibilität gegenüber Veränderun- gen und Problemen entwickelt. Die- se Veränderungen verformen unsere Gesellschaft ja laufend und sind Ur- sache für viele Krankheiten.

Beschäftigung mit der Psyche des Alkoholkranken ist nicht zuletzt eine Beschäftigung mit unserer Zeit, die geprägt ist durch die Hybris der Technik auch in der Medizin, durch um sich greifende Langeweile sowie die Verarmung mitmenschlicher Be- ziehung.

Literatur beim Verfasser Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Wolf-Rüdiger Weisbach prakt. Arzt

Siegtalstraße 19 5227 Windeck-Herehen

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