T H E M E N D E R Z E I T
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A2934 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 457. November 2003
Er lag so tief im Koma, dass ich mir nicht die Mühe machte, ein Lokalan- ästhetikum zu verwenden, als ich die Wunde in seinem Gesicht nähte. Es war an einem Sonntagnachmittag in der Intensivstation, und ich war von zu Hause in die Klinik gerufen worden, um seine Gesichtsverletzungen zu versor- gen. In der vorangegangenen Nacht war er auf einer dunklen Straße durch die Windschutzscheibe geflogen.
Eigentlich war das eine Aufgabe für einen plastischen Chirurgen. Die Wun- de reichte von der Schädelmitte bis tief in das Gewebe um die Augen herum und weiter die Wange hinunter bis in den Mund hinein. Ich wusste, warum sie mich, den Intern, gerufen hatten. Man rechnete nicht damit, dass dieser Mann am Leben bleiben würde.
Ich tat mein Bestes, achtete sorgfältig darauf, dass die Hautfalten genau rich- tig zusammengefügt wurden, stach den glänzenden Halbmond der Nadel im- mer wieder in sein Fleisch und zog ihn wieder heraus, wischte die dunklen Blutstropfen ab, die sich an der Spitze der Nadel bildeten, band die Knoten wie ein Angler, der mit Fliegen fischt.
Der Thermostat im Zimmer war ganz hochgedreht, aber er war dennoch kalt – ich fühlte es durch die Handschuhe.
Nach einiger Zeit verschwamm sein Gesicht vor meinen Augen. Nur die Wunde blieb klar erkennbar und bekam ein Eigenleben. Die Intimität, die ich anfangs empfunden hatte, als ich mich über ihn beugte und mein Atem ihn einhüllte, verschwand, und übrig blieb nur meine Aufgabe.
Es dauerte Stunden. Mein Rücken schmerzte, und mein Baumwollanzug
wurde feucht unter dem blauen OP-Kit- tel. Außer dem regelmäßigen Zischen des Sauerstoffgeräts war nichts zu hören. Die weiche, braune Haut um sei- ne Augen herum war wie die eines Kin- des. Das Auge war starr geradeaus ge- richtet, und die Pupille bewegte sich nicht, nicht einmal, als ich das Augenlid nähte, wobei ich ängstlich darauf be- dacht war, nicht in den Augapfel selbst zu stechen. Als ich fertig war, zitterten mir die Hände. Ich stand auf, streckte mich und trat vom Bett zurück. Er war in Decken eingehüllt, und erst jetzt be- merkte ich, dass zwischen seinen Knien eine einzelne Adlerfeder und eine klei- ne Plastiktüte mit gelben Pollen lag, die wohl seine Familie bei ihm zurückgelas- sen hatte, um ihn zu retten.
Am nächsten Morgen ging ich in sein Zimmer, um meine Arbeit zu überprü- fen. Sein Gesicht sah ganz heil aus. Nur die dünnen blauen Linien der Nylonfä- den verrieten, wie groß die Wunde war.
Erst nachdem ich mindestens eine Mi- nute lang mein Werk bewundert hatte, fiel mir auf, dass das Geräusch des Sau- erstoffgeräts, das am Tag zuvor in die- sem Zimmer mein ständiger Begleiter gewesen war, verstummt und dass der Mann tot war. Frank Huyler
Das Deutsche Ärzteblatt beabsichtigt, demnächst auch literarisch anspruchsvolle Geschichten aus der Ärzteschaft zu veröffentlichen. Diese sollten eine Länge von 4 800 Anschlägen nicht überschreiten.
Wer andere an seinen Erfahrungen und Erlebnissen teilhaben lassen möchte, schicke bitte seine Beiträge an die Feuilleton-Redaktion des Deutschen Ärzteblat- tes (Ottostraße 12, 50859 Köln, Fax: 0 22 34/70 11- 142, E-Mail: aerzteblatt@aerzteblatt.de). Weitere Informationen: Telefon: 0 22 34/70 11-110
Eine schöne Naht
Die Geschichte „Eine schöne Naht“ wurde dem Buch „Notaufnahme.
Geschichten zwischen Leben und Tod“ von Frank Huyler entnommen (173 Seiten, C. H. Beck, 2001, 23,80 Euro). In diesen Geschichten berichtet Frank Huyler über seine Ausbildung zum Notarzt an einer US-amerika- nischen Notfallklinik. Er berichtet über Patienten, Arztkollegen und die eigenen Schwierigkeiten in einem anspruchsvollen Beruf.
hausserien dargestellte Wirklichkeit für wenig wahrheitsgetreu halten,und denje- nigen, die diese als realistisch einschät- zen: So bezeichneten die Erstgenannten die vom Pflegepersonal aufgewandte Zeit häufig als „vollkommen ausrei- chend“, wohingegen Letztere die Ge- sprächszeit meist für zu knapp hielten.
Unter den Befragten gaben deutlich mehr Frauen als Männer an, regelmäßige Konsumenten von Krankenhausserien zu sein. Im Ergebnis bezeichneten Frau- en auch die Zeit, die das Pflegepersonal sich für ein Gespräch mit ihnen nahm, als deutlich geringer als Männer.
Die in vielen Krankenhausserien ver- mittelte Wirklichkeit hat häufig mit dem realen Krankenhausalltag wenig zu tun.
Gerade Serien wie „Für alle Fälle Stefa- nie“, „Schwarzwaldklinik“ oder „Dr.
Stefan Frank – der Arzt, dem die Frauen vertrauen“, die von den Probanden am häufigsten genannten Serien, gehören in die Kategorie „guter Samariter“.
Enttäuschung programmiert
Für diese Serien ist typisch, dass Einfüh- lungsvermögen, Engagement für andere und Selbstlosigkeit das Handeln des Arzt- und Pflegepersonals außerhalb je- des realistischen Rahmens prägen. Die Medizin und Pflege mit den entsprechen- den Abläufen liefern nur den Hinter- grund für die glanzvolle Präsentation der Protagonisten.Eine Unterscheidung zwi- schen medialer und primärer Wirklich- keit ist umso schwieriger, je mehr die Er- fahrung der medialen Wirklichkeit an die Stelle der Erfahrung primärer Wirklich- keit tritt.Dies ist offensichtlich auch dann der Fall, wenn Patienten ihr Wissen über den Alltag im Krankenhaus nahezu aus- schließlich aus entsprechenden Serien im Fernsehen beziehen. Dieses Wissen führt zu einer Illusionsbildung und zur Entste- hung von Klischees. Findet dann eine Konfrontation mit der Wirklichkeit statt, muss es zu einer Enttäuschung kommen:
Die im Krankenhaus tatsächlich erlebte Wirklichkeit tritt in Konkurrenz zur me- dialen und als ideal empfundenen Wirk- lichkeit. Ärzte und Schwestern, die weder wie Dr. Stefan Frank noch wie Schwester Stefanie daherkommen, haben dann von vornherein schlechte Karten.
Dr. med. Kai Witzel, Tanja Hipp, Cornelia Kaminski