• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Möglichkeiten psychosozialen Handelns in der ärztlichen Praxis" (09.03.1978)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Möglichkeiten psychosozialen Handelns in der ärztlichen Praxis" (09.03.1978)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 10 vom 9. März 1978

Spektrum der Woche Aufsätze •Notizen

Möglichkeiten

psychosozialen Handelns in der ärztlichen Praxis

Kurt Schiffner

Der Panoramawandel von or- ganischen Erkrankungen zu psychogen ausgelösten oder psychisch mitgeprägte Ge- sundheitsstörungen ist unver- kennbar. Bei etwa 25 Prozent aller einen Arzt aufsuchenden Patienten sind die Ursachen der Beschwerden im psycho- sozialen Umfeld zu suchen.

Zur Behandlung dieser Er- krankungen reichen die Vor- stellungen einer weitgehend somatisch orientierten Medi- zin allein nicht aus. Möglich- keiten zum Erkennen psycho- sozialer Zusammenhänge bie- ten sich in psychologischer und soziologischer Hinsicht.

Die Grundfrage des Themas scheint mir zu sein, ob im vorklinischen Raum und besonders in der Allge- meinpraxis psychischen und sozia- len Faktoren bei der Krankenbe- handlung eine wesentliche Rolle zu- kommt. Es ist bekannt, daß sich na- turwissenschaftlicher und psycho- sozialer Aspekt des Krankseins nicht ausschließen, sondern daß sie eng zusammengehören. Dabei ist der Panoramawandel von schweren or- ganischen Erkrankungen zu psy- chosomatisch ausgelösten oder psychisch weitergeschleppten Or- ganerkrankungen nicht zu überse- hen. Die Vorstellungen einer weitge- hend somatisch orientierten und da- mit stark apparate- und laborato- riumsgläubigen Medizin haben sich als nicht ausreichend erwiesen, die Vorstellung nämlich, daß man mit Mikroskop, Röntgenapparat, Endo- skop und Laboratoriumsuntersu- chungen alle Faktoren menschli- chen Krankseins erfassen könne.

Damit ist auch die Illusion zerstört worden, daß dem Arzt die Therapie als Frucht dieser rein somatisch-na- turwissenschaftlich fundierten Dia- gnostik von selbst in den Schoß fal- len würde.

Verbindung mit den Umweltreizen das seelische und somatische Gleichgewicht in so entscheiden- dem Maße, daß nach Kielholz z. Z.

etwa 25% aller Kranken, die einen Arzt aufsuchen, an funktionellen Or- ganbeschwerden, psychovegetati- ven Störungen oder depressiven Zu- standsbildprn leiden. Nur wenige Prozent dieser Krankheitsfälle er- scheinen in der Klinik als Endpro- dukte dieser Krankheitsabläufe, während die Vorstadien, oft auch mit subtilen Methoden nicht klar faßbare •rämorbide funktionelle Störungen, in der Allgemeinpraxis zur Behandlung kommen.

Die psychosozialen Faktoren seines Krankseins bietet der Patient in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle nicht von sich aus dem Arzt als mög- liche Ursachen seiner Beschwerden an, da sie ihm oft überhaupt nicht bewußt sind, er in anderen Fällen ihre Bedeutung nicht erkennt oder nicht erkennen will. Er klagt über organbezogene Beschwerden. Auf- gabe des Arztes ist es, durch ein Anamnesegespräch die Möglichkei- ten des Vorliegens krankmachender Faktoren aus der Umwelt des Pa- tienten zu erfassen.

Wir wissen heute, daß das Kranksein eines Menschen ein dynamischer Vorgang ist, dessen Entstehung und Verlauf von somatischen Faktoren, von der Persönlichkeit des Erkrank- ten und von seiner Umwelt mit all ihren vielfältigen Einflüssen geprägt wird. Die Dauerbelastungen durch Beruf, Umwelt und Familie stören in

Die Grundlage für die Erhebung ei- ner biographischen Anamnese ist das verstehende Gespräch und das sprachliche Geschick im Umgang mit Menschen aller sozialen Schich- ten. Dieses sehr wichtige und weite Feld der richtigen Gesprächsfüh- rung zwischen Patient und Arzt zu

579

(2)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Psychosoziale Erkrankungsfaktoren

untersuchen und lehrbar zu machen ist eine wichtige gemeinsame Auf- gabe für Ärzte und Psychologen.

Bisher wird vielfach noch aus der Zeit des patriarchalischen Verhal- tens der Ärzte gegenüber „'en Pa- tienten ein gönnerhafter laterton für richtig gehalten. Es ist zu be- zweifeln, ob diese Art dem heutigen partnerschaftlichen Verhältnis von Arzt und Patient noch angemessen ist und ob sich die Betroffenen in einer Art Vater-Kind-Verhältnis in ih- rer Krankheit geschützt und gebor- gen fühlen.

Eine weitere wichtige Grundlage ist die Empirie, die allerdings auch die Gefahr hausgemachter Irrtümer in sich birgt. Zur Weckung von Ver- trauen gehört Einfühlungsvermögen in die Persönlichkeit und die beson- dere Situation des Patienten und ein feines Fingerspitzengefühl dafür, wie weit man bei Erhebung der Le- bensumstände jeweils gehen kann.

Einerseits soll die Anamnese hin- sichtlich familiärer oder beruflicher Schwierigkeiten möglichst ergiebig gestaltet werden, andererseits darf nicht durch ein Zu-weit-Gehen der Patient zum Schweigen gebracht werden. Dies gilt vor allem beim Ge- spräch über Probleme zwischen- menschlicher Beziehungen in und außerhalb der Ehe. Diese den psy- chischen und sozialen Hintergrund des Kranken ausleuchtenden Fra- gen wird der Arzt selbst stellen müs- sen und sie weder Arzthelferinnen noch Fragebogen überlassen kön- nen. Der Wert von Fragebogen für bestimmte Patientengruppen als Vororientierung dürfte dann unbe- stritten sein, wenn die Auswertun- gen kritisch erfolgen. Sie können je- doch keinen Ersatz für die persön- lich erhobene Anamnese darstellen.

Die anamnestischen Gespräche ko- sten Zeit, und Zeit ist bei der Art der Krankenbehandlung im vorklini- schen Raum, die durch die Entwick- lung der Medizin und der sozialen Krankenversicherung sowie durch die Gesundheitserziehung der Be- völkerung ausgelöst wurde, sehr kostbar. Sie trotzdem für den Pa- tienten aufzubringen verlangt vom Arzt organisatorische Fähigkeiten.

Er muß Delegierbares an Helferin- nen delegieren. Dadurch erhält er Zeit für die genannten wichtigen Aufgaben.

Eine besondere Möglichkeit zur Er- gründung psychosozialer Faktoren bei Gesundheitsstörungen bietet sich dem Allgemeinarzt beim Haus- besuch. Dabei lernt er die Familien- und Wohnverhältnisse der Patienten mit etwaigen daraus resultierenden Störfaktoren kennen. Die am häufig- sten dabei in Erscheinung tretenden Ursachen sind Disharmonien im Zu- sammenleben der verschiedenen Generationen bzw. zwischen Ehe- leuten. Störungen von seiten der Wohnsituation sind einerseits durch eine zu große Enge des Aufeinan- derlebens von Menschen mit ver- schiedenem Lebensrhythmus und damit verschiedenen Lebensge- wohnheiten zu beobachten. Ande- rerseits treten sie auch bei äußerlich guten Wohnverhältnissen durch ein zu starkes Abgesondertsein alter Menschen auf, die dadurch in die Isolierung gedrängt werden.

Hausbesuch: bester Einblick in Gesamtsituation

Hausbesuche werden als Glück und Elend des Allgemeinarztes bezeich- net. Das Glück beruht darauf, daß der Arzt am Bett eines hoch fiebern- den oder starke Schmerzen erlei- denden Kranken in stärkstem Maße in seiner Funktion als Helfer in Er- scheinung tritt. Beim Hausbesuch erhält er auch am besten Einblick in die Gesamtsituation des Patienten.

Das Elend beim Hausbesuch liegt darin, daß ihm dort am wenigsten technische und personelle Hilfen zur Verfügung stehen.

Der Einblick bzw. das Wissen um die häusliche Sphäre ist für den Arzt ne- ben möglichen diagnostischen Er- kenntnissen besonders wichtig für die Entscheidung der Frage der Ar- beitsruhe bei psychisch bedingten oder psychisch überlagerten Stö- rungen. In dem einen Fall kann das häusliche Milieu günstig auf die Stö- rungen wirken, im anderen Fall wird jedoch die Ablenkung von häusli-

chen Problemen durch die Tätigkeit am Arbeitsplatz vorzuziehen sein.

Diese Frage ist von besonderer Be- deutung bei Frauen, die durch ihre Doppelfunktion im Beruf und als Hausfrau überlastet sind.

Störungen von seiten des Arbeits- platzes wird der Arzt in vielen Fällen aus der Anamnese erheben müssen, da direkte Einblicke bei der Struktur unserer heutigen Arbeitswelt im all- gemeinen nur in bäuerlichen oder in handwerklichen Kleinbetrieben durch die Verbindung von häusli- cher Sphäre und Arbeitsplatz mög- lich sind. Über Störungsquellen von seiten der beruflichen Sphäre haben wir heute schon recht gute Erkennt- nisse. Die Hauptursache für Störun- gen dürfte einerseits in größeren Be- trieben das Fehlen einer persönli- chen Bindung zum Arbeitgeber sein.

Im gleichen Sinne wirkt eine Auflö- sung der Arbeitsvorgänge in kleine Teilabschnitte ungünstig, so daß der arbeitende Mensch keine Beziehung zum Werkstück mehr hat. Dazu kommt häufig die Abhängigkeit des Arbeitstempos von Maschine und Fließband, die keine individuellen Abweichungen gestattet und da- durch einen psychischen Druck auslöst.

Als Gründe für Spannungen, die zwischen Individuum und Umwelt in unserer technisierten Welt verstärkt auftreten und zu einer Störung der persönlichen Entfaltung führen, sind im einzelnen zu nennen:

schlechtes Arbeitsklima, mangelnde Gerechtigkeit am Arbeitsplatz, Spannungen zwischen Mitarbeitern im Betrieb, Frustration durch Ak- kordarbeit, unterschiedlicher Aus- bildungsgrad und schließlich gerin- ge oder fehlende Verantwortung am Arbeitsplatz. Ein weiterer Faktor ist die Austauschbarkeit in Großbetrie- ben, die bei vielen Arbeitnehmern das Gefühl auslöst, nicht eine unver- wechselbare Persönlichkeit, son- dern ein austauschbarer Bestandteil einer Maschinenwelt zu sein. Die Li- beralisierung der geschlechtlichen Beziehungen ergänzt diese uner- freuliche Entwicklung der Frustra- tion auf dem persönlichen bzw. pri- vaten Sektor. Diese Faktoren haben

580 Heft 10 vom 9. März 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(3)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Psychosoziale Erkrankungsfaktoren

eine Entwicklung in der Richtung ausgelöst, daß immer mehr Men- schen sich mit ihrer Arbeit nicht mehr zu identifizieren vermögen. Sie ist für sie zum ungeliebten Job ge- worden, dessen dauernde zeitliche Verkürzung angestrebt wird, da das eigentliche Leben erst nach Arbeits- schluß beginnt. In Extremfällen wird die Arbeit zur Fron, und daraus re- sultiert dann der häufig vom Patien- ten geäußerte Wunsch, schon bei geringen Störungen des Wohlbefin- dens Arbeitsruhe verordnet zu be- kommen. Diese Entwicklung wurde durch den langen wirtschaftlichen Aufschwung gefördert, da die Ar- beitsplätze auch bei erheblicher Strapazierung einer großzügigen Auslegung von Arbeitsruhe durch Krankheit sicher erschienen.

Die Bandbreite von einer subjektiv besonders ausgeprägten Empfind- lichkeit für leichte Befindensstörun- gen bis zu echter Simulation ist da- bei sicher sehr groß. Die Entschei- dungen des Arztes hinsichtlich der Frage der Arbeitsruhe bzw. deren Dauer erfordern ein Erfassen der psychosozialen Gesamtsituation.

Tut der Arzt dem Patienten unrecht, indem er ihn zum Weiterarbeiten veranlaßt, obwohl eine ernst zu neh- mende — wenn auch nicht objekti- vierbare — Störung vorliegt, verstößt er gegen eine seiner wichtigsten Aufgaben. Er gefährdet oder zerstört die Vertrauensbasis Patient — Arzt und gefährdet gesundheitlich den Patienten.

Verhält er sich zu großzügig, wird er seiner Pflicht hinsichtlich eines sorgsamen Umganges mit den fi- nanziellen Mitteln der Versicherten- gemeinschaft nicht gerecht und wirkt darüber hinaus besonders bei jungen Menschen sozialpädago- gisch ungünstig. Die Folgen derarti- ger sich in Zeiten des Aufschwungs einspielender Gewohnheiten wirken sich in Zeiten der Rezession für die- se Patienten hinsichtlich der Erhal- tung ihrer Arbeitsplätze negativ aus, wie die jüngsten Erfahrungen zeigen.

Durch psychische Störfaktoren aus der Familien- oder Arbeitswelt kön-

nen entweder bereits früher vorhan- dene Beschwerden, die bisher baga- tellisiert wurden, anders eingestuft werden. Nach Sopp wirken Fehlein- stellungen und Mißmut dann wie ein Vergrößerungsglas bei der Selbst- betrachtung solcher Störungen. Die Maladaptation führt dann dazu, daß die Behandlungsschwelle für solche Störungen, die bis dahin ignoriert oder selbst behandelt wurden, über- schritten wird und sie Krankheits- wert erhalten.

Streßbedingte

funktionelle Störungen

Andererseits werden funktionelle Syndrome geäußert, die durch diese Fehlanpassung ausgelöst sind, wo- bei psychische und somatische Stö- rungen in bunter Symptomatik ver- eint sein oder sich abwechseln kön- nen. Nach Schätzungen maßgebli- cher Autoren leiden 30 bis 40 Pro- zent aller vorübergehend Krankge- schriebenen an streßbedingten, funktionellen Störungen. Wenn die- se in den Statistiken nicht als solche erscheinen, so ist dies darauf zu- rückzuführen, daß der Arzt die Aus- wirkungen solcher sozialen Störun- gen mit medizinischen Diagnosen etikettiert. Diese körperliche Be- gründung erleichtert es dem Patien- ten, sein Mißempfinden als Krank- heit zu akzeptieren. Es gibt ihm den reputierlichen Status eines Kranken, während der psychisch oder neuro- tisch ausgelösten Störung vielfach das Odium des Unseriösen anhaftet.

Das Erkennen und die Berücksichti- gung von Faktoren aus der psychi- schen und sozialen Sphäre war für die alten Hausärzte früherer Genera- tionen wohl eine Selbstverständlich- keit, und zwar schon zu einer Zeit, als man in der Medizin von Psycho- logie wenig und von der Soziologie überhaupt nicht sprach. Denn nur durch ein intuitives Erfassen dieser Faktoren konnten sie ihrer umfas- senden Aufgabe als Betreuer einzel- ner Patienten, ganzer Familien und mehrerer Generationen gerecht werden. Das intuitive Erfassen und die autodidaktische Beschäftigung mit diesen Fragen wird zweifellos den Erfordernissen der heutigen

Medizin nicht mehr gerecht. So wie für den Allgemeinarzt durch eine vorgegebene Weiterbildung auf an- deren Sektoren seiner späteren Tä- tigkeit der früher autodidaktische Prozeß erheblich verkürzt werden soll, wird es auch auf diesem spe- ziellen Sektor der Beschäftigung mit Störungen aus der psychischen und sozialen Sphäre einer systemati- schen Ausbildung in medizinischer Psychologie und Soziologie be- dürfen.

Die eindeutige Verschiebung des Krankengutes der Allgemeinpraxis von organischen zu psychischen oder psychisch überlagerten Krank- heitserscheinungen erfordert dies ebenso dringend wie die zunehmen- de Dauerbehandlung chronisch Kranker und die Behandlung von Endstadien. Diese nehmen auf Grund der uns heute zur Verfügung stehenden Heilmittel an Zahl zu. Bei ihnen spielt neben der medikamen- tösen Behandlung die seelische Führung zweifellos eine gleich wich- tige, wenn nicht noch höher einzu- stufende Rolle. Ebenso erfordert ein erfolgreiches Tätigwerden auf dem Sektor der Gesundheitserziehung, der Vorsorgemedizin und Früher- kennung mit allen ihren großen, uns immer mehr bewußt werdenden Pro- blemen eine psychologische und so- ziologische Ausbildung.

Die Psychologen und Allgemeinme- diziner verbindet hinsichtlich ihres Denkens die Tatsache, daß sich ihre Überlegungen nur zum Teil auf harte apparative Daten stützen. Die sozial- medizinischen Fächer andererseits erfassen die für die Gesundheit gro- ßer Populationen relevanten Daten und bemühen sich, Verhaltensände- rungen bei diesen zu erzielen. Ihre Ergebnisse bezieht der Allgemein- arzt in seine diagnostischen und therapeutischen Überlegungen zum Wohle des einzelnen Kranken und seiner Familie ein, denn diese ste- hen für ihn im Vordergrund seines Denkens und nicht die große Popu- lation.

Genauso wie der Allgemeinarzt im- mer Fortschritte der klinischen Fä- cher unter dem Gesichtspunkt

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 10 vom 9. März 1978 581

(4)

Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen

Psychosoziale Erkrankungsfaktoren

durchforsten muß, welche neuen Er- kenntnisse unter den Gegebenhei- ten der Praxis hinsichtlich breiter Anwendbarkeit, Ungefährlichkeit, eines vertretbaren personellen und apparativen Einsatzes und damit der Wirtschaftlichkeit anwendbar sind, so muß er sich auf ähnliche Weise auch die Erkenntnisse der Psycholo- gen und Sozialmediziner nutzbar machen. Gemeinsam ist diesen Fä- chern die Grunderkenntnis, daß dem Versuch einer Objektivierung von Krankheiten und ihrer Abstrahie- rung vom Patienten trotz des tiefen Eindringens in pathophysiologische Zusammenhänge recht enge Gren- zen gesetzt sind.

Gemeinsam ist ihnen das Wissen, daß es in der Medizin nicht um die Diagnose einer Krankheit, sondern um das Kranksein eines bestimmten Menschen in seinem Lebensraum geht. Gemeinsam ist ihnen des wei- teren, daß sie bei der Frage nach der Ätiologie von Gesundheitsstörun- gen in starkem Maße die soziale Pa- thologie berücksichtigen.

Bei der Ausbildung auf diesen Sek- toren sollte man die heute drohende Überforderung der jungen Ärztege- neration durch die Ausweitung des Wissens auf den verschiedenen Sek- toren berücksichtigen und nicht nach Perfektion streben, sondern sich auf das Wesentliche beschrän- ken.

Dies gilt besonders auch für die Wei- terbildung des Allgemeinarztes mit seinem Übersichtswissen. Er soll da- durch befähigt werden, somatische und psychosoziale Faktoren bei der Entstehung und beim Ablauf von Krankheiten gleichwertig nebenein- ander zu berücksichtigen und nicht wie bisher primär nach somatischen Ursachen zu suchen. Damit würde die Gefahr beseitigt, daß der Patient entweder mit einer Verlegenheits- diagnose etikettiert weiterlebt oder daß die Beschwerden etwas abwer- tend als „nur funktionell" oder „nur psychisch bedingt" eingestuft werden.

Das Spektrum der möglichen Hilfs- maßnahmen für den Patienten geht

heute weit über die früheren Mög- lichkeiten hinaus und erstreckt sich auf den medizinischen, beruflichen und sozialen Sektor. Auf dem medi- zinischen Sektor ist in unserer kom- pliziert gewordenen Medizin eine enge Zusammenarbeit zwischen Ärzten aller für den besonderen Fall in Frage kommenden Fachrichtun- gen das Gebot der Stunde. Neben einer seelischen Führung des Kran- ken, einer medikamentösen Thera- pie und evtl. operativen Maßnahmen sind hier auch Beschäftigungsthera- pie und prothetische Versorgung anzuführen. Überlegungen zu unse- rem Kurwesen — oder wie manche meinen, Kurunwesen — würden den Rahmen dieser Betrachtungen sprengen.

Auf dem beruflichen Sektor sind ne- ben einer mehr oder weniger lang dauernden Arbeitsruhe die wichtig- sten möglichen Maßnahmen eine andersartige Verwendung im Be- trieb, also eine Arbeitsplatzumset- zung, die Umschulung auf einen an- deren Beruf, wobei die Berufsförde- rungsmaßnahmen des Staates die wirtschaftliche Basis dazu bieten, und schließlich die Tätigkeit in einer beschützenden Werkstatt. Auf die Fehlentwicklungen der Berufsförde- rungs- und Umschulungsmaßnah- men der letzten Jahre im einzelnen einzugehen ist wohl keine primär ärztliche Angelegenheit.

Jedoch soll an die Notwendigkeit erinnert werden, diese hohen Aus- gaben der Steuerzahler volkswirt- schaftlich sinnvoll einzusetzen. Sie sollen Menschen helfen, eine andere Tätigkeit auszuüben, die durch per- sönliches Schicksal oder Struktur- änderungen der Wirtschaft dazu ge- zwungen werden. Sie sollen aber nicht dazu mißbraucht werden, daß sich Menschen über viele Jahre ihren arbeitsmäßigen Verpflichtungen der Gesamtheit gegenüber entzie- hen und dafür von dieser noch wirt- schaftlich getragen werden. Die So- zialhilfen letztlich haben die Aufga- be, den Lebensunterhalt der Betrof- fenen und ihrer Familien vor allem in finanzieller Hinsicht zu sichern, je- doch auch ihre Betreuung während dieser Zeit sicherzustellen.

Neben Ärzten, vor allem auch den Amtsärzten und Ärzten der Arbeits- ämter, haben dabei Psychologen, Soziologen, Pädagogen, Berufsbe- rater und Sozialarbeiter ihre wichti- gen beratenden Aufgaben. Es ist ein sehr breites Feld der Möglichkeiten und Aufgaben eines sozialen Rechtsstaates, das hier eben mit we- nigen dürren Strichen skizziert wurde.

Die Allgemeinpraxis hat dabei inso- fern eine sehr wichtige Aufgabe, als sie häufig die erste Anlaufstelle für einen Behinderten ist und häufig auch die Stelle, von der eine oft le- benslange kontinuierliche Betreu- ung erfolgt, denn kein Mensch bleibt sein ganzes Leben lang in einem Rehabilitationszentrum. Der Allge- meinarzt wirkt dabei maßgeblich bei den wichtigen Hauptaufgaben der Rehabilitation mit, einem geretteten Leben eine den Umständen entspre- chende lebenswerte Zukunft zu sichern.

(Nach einem Referat auf der Jahres- tagung der Fachgesellschaft Medizi- nische Psychologie in Ulm.)

Literatur

Brandlmeier, Die Allgemeinpraxis, Taschenbü- cher Allgemeinmedizin, Springer-Verlag, 1974

— Enke u. a., Lehrbuch der Medizinischen Psy- chologie, Verlag Urban und Schwarzenberg, 1974 — Gross, Medizinische Diagnostik, Heidel- berger Taschenbücher, Springer-Verlag, 1969

— Haehn, Der Kranke in seiner sozialen Umwelt, Internationaler Kongreß für Allgemeinmedizin der SIMG, Igls, 1973, Krüger Verlag — Häussler, Das banale Problem, „Die Krankschreibung"

Monatskurse für die ärztliche Fortbildung 1/

1976 — Häussler, Das Kurwesen aus der Sicht des Kassenarztes, Arbeitsmedizin, Sozialmedi- zin, Präventivmedizin 11. Jahrgang, Heft 3, März 1976— Kielholz, „Streß und Arzt" Festvor- trag in Badgastein und Davos, DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 12 vom 18. 3. 1976 — Schrömbgens, Das ärztliche Gespräch, Haus- ärztliche Versorgung, Taschenbücher Allge- meinmedizin, Springer Verlag, 1974 — Wieck, Valentin, Specht, Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, UTB, Schattauer, 1973

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med.

Kurt Schiffner

Arzt für Allgemeinmedizin/

Arbeitsmedizin Bismarckring 40

7950 Biberach an der Riß

582 Heft 10 vom 9. März 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Bleibt die erhoffte, positive Wir- kung einer Psychotherapie aus, ja verschlimmert sich der Zustand des Patienten sogar noch, ist eine Er- klärung schnell gefunden: Der Be-

Vilmar an einem aktuellen Beispiel: Verlangt eine Polizeidienststelle beispiels- weise Auskunft über ärztliche Be- handlungsmaßnahmen und die Angabe von Diagnosen, die

Die Einweisung und das Verweilen im Krankenhaus etwa können nicht gerechtfertigt sein, wenn die medizinische Versor- gung des Patienten auch unter ambulanten Bedingungen zu

Fertigkeiten: Die Teilnehmenden können, ausgehend von einem klinischen Problem, eine Frage formulieren, eine Literaturrecherche durchführen, Original- und Übersichtsarbeiten

Half- dan Mahler sehr kritisch, insbesondere nachdem sich auch noch herausge- stellt hat, daß die Koordi- nierung der ganzen Ange- legenheit durch eine priva-

Unter dem Motto „Gesund – mitten im Leben“ werden die Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen Möglichkeiten aufzeigen, wie Krankhei- ten nicht nur frühzeitig erkannt

Kranke lassen sich in vielen Punkten nicht ausschließlich reduktionistisch be- schreiben: vieles bleibt auf Dauer körperlich nicht fassbar, hat keine materiellen Entsprechungen,

Deutschen Ärztetages im An- schluß an die Debatte folgender Pas- sus angefügt: „Strukturelle Verände- rungen, welche die Weiterbildung für Allgemeinmedizin nicht fördern und