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irmen sollten nicht auf eine bessere Politik warten, sondern eine Ab- wanderung ins Ausland erwägen.Sinngemäß hat dies vergangene Woche der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Ge- org Braun, geäußert. Dem Wirtschafts- standort Deutschland hat er damit ei- nen Bärendienst erwiesen. Die Äuße- rungen Brauns, von der Regierung als
„unpatriotisch“ bezeichnet, lassen je- doch erahnen, dass der seit Jahren zu verzeichnende Unternehmensexodus, vor allem in Richtung Osteuropa und Fernost, künftig erst richtig in Fahrt kommen könnte. Unter dem Druck der Globalisierung scheinen weitere Werk- schließungen und Massenentlassungen programmiert.
Arbeitsplätze lassen sich dagegen im personalintensiven Dienstleistungsbe- reich schaffen. Und hier ganz besonders im Gesundheitswesen. Auf die volks- wirtschaftliche Bedeutung dieses Wachs- tumsmarktes wies am 24. März in Berlin das Bündnis Gesundheit 2000 hin, ein Zusammenschluss von 37 Verbänden und Organisationen des Gesundheits- wesens. Gemeinsam forderten sie auf ihrem Bündnistag, den „enormen Ent- wicklungspotenzialen und Beschäfti- gungschancen im Gesundheitswesen“
Rechnung zu tragen.
Schon heute sind rund 4,1 Millionen Menschen direkt oder indirekt im Ge- sundheitswesen beschäftigt. Dies ent- spricht rund 10,3 Prozent aller Erwerbs- tätigen in Deutschland. Nach Angaben der Bundesärztekammer bieten allein die niedergelassenen Ärzte mehr Ar- beitsplätze als jeder andere Industrie- zweig. Zusammen mit den Zahnärzten beschäftigen sie fast eine Million Men- schen in ihren Praxen. Diese Arbeits- plätze befinden sich auch in struktur- schwachen Regionen und sind unabhän-
gig von globalen Konjunkturschwan- kungen.
Nach Ansicht der Gesundheitsberu- fe ist die Entwicklung der „Jobmaschi- ne Gesundheitswesen“ durch die Ko- stendämpfungspolitik des Staates ge- fährdet. Tatsächlich verengt die Politik ihren Blick in dem Streben, die Lohnne- benkosten zu senken, fast ausschließ- lich auf die Entwicklung der Kranken- kassenbeitragssätze. Und das, obwohl
diese nur einen Bruchteil der gesamten Lohnnebenkosten ausmachen. Die Fol- gen sind „erhebliche Verwerfungen“
auf dem Arbeitsmarkt Gesundheitswe- sen und damit auch in der Versorgung der Patienten, warnte das Bündnis Ge- sundheit.
Gertrud Stöcker vom Berufsverband der Pflegeberufe wies darauf hin, dass keine andere Branche in den vergange- nen zwei Jahrzehnten einen solchen Zu- wachs an Arbeitsplätzen zu verzeichnen hatte wie das Gesundheitswesen. Mitt-
lerweile aber stagniere die Zahl der Be- schäftigten, obgleich der Bedarf an me- dizinischen und pflegerischen Leistun- gen weiter zunehme. In einer auf dem Bündnistag verabschiedeten Resoluti- on* warnen die Gesundheitsberufe des- halb, wer in der Gesundheitsversorgung ausschließlich einen Kostenfaktor sehe, ignoriere die volkswirtschaftliche Be- deutung dieses Wachstumsmarktes. Bei künftigen Reformen müssten die At-
traktivität der Berufe im Gesundheits- wesen erhöht und die Arbeitsbedingun- gen wesentlich verbessert werden.
Bundesärztekammer-Präsident Prof.
Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe zeigte Verständnis, dass der Wachstumsmarkt Gesundheitswesen nicht allein von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanziert werden könne. Er ist sich aber mit den übrigen Bündnis- teilnehmern einig, dass die Leistungser- bringer für die Kluft zwischen Lei- stungsanstieg und wegbrechenden Ein- nahmen der GKV nicht verantwortlich gemacht werden können. „Mit Rationa- lisierungen und Rationierungen kann P O L I T I K
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Bündnis Gesundheit 2000
Wachstumsmarkt Gesundheitswesen
Angesichts der Massenarbeitslosigkeit biete die Gesundheitsbranche enorme Beschäftigungschancen, sagen Ärzte und andere Leistungserbringer.
Die Politik soll dem Rechnung tragen.
Die Gesundheitsberufe warnen die Politik auf ihrem Bündnistag, die „Jobmaschine Gesund- heitswesen“ zu gefährden.
* Die Resolution des Bündnisses Gesundheit 2000 im In- ternet: www.aerzteblatt.de/plus1404
Foto:Georg Lopata
der wachsende Bedarf an notwendigen medizinischen und pflegerischen Lei- stungen nicht kompensiert werden. Vor dem Hintergrund der erodierenden Einnahmen der gesetzlichen Kranken- kassen müssen deshalb zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten eröffnet werden“, heißt es in der Resolution der Gesundheitsberufe.
Wie diese Finanzierungsmöglichkei- ten aussehen könnten, diskutierten die zum Bündnistag geladenen Vertreter der Bundestagsfraktionen. Dabei kün- digte die stellvertretende SPD-Frakti- onsvorsitzende Gudrun Schaich-Walch an, dass ihre Partei sich nun offiziell mit der Bürgerversicherung befassen wolle, auf die sich der Bochumer Parteitag be- reits im vorigen November eingeschwo- ren hatte. Eine Expertenrunde nehme in Kürze die Arbeit auf. Vorüberlegun- gen für einen Systemwechsel (wenn auch in konträrer Richtung) stellt man auch bei der FDP an. Deren gesund- heitspolitischer Sprecher, Dieter Tho- mae, kündigte ein Diskussionspapier an, in dem der Umstieg auf ein reines Prämienmodell skizziert werde. Vorlie- gen soll das Konzept beim Bundespar- teitag der Liberalen im Mai. Im Gegen- satz zu Bündnis 90/Die Grünen, die un- verändert hinter ihrer Forderung nach einer Bürgerversicherung stehen, lässt die Union eine klare Linie vermissen.
Während die CDU für ein Kopfpau- schalensystem in Anlehnung an die Vorschläge der Herzog-Kommission plädiert, prognostizierte der CSU-So- zialexperte Wolfgang Zöller, dass es we- der zur Bürgerversicherung noch zum Kopfpauschalensystem kommen wer- de. Die CSU unterbreite demnächst ei- gene Vorschläge, kündigte Zöller vor den Mitgliedern des Bündnisses an.
Diese äußerten sich nur verhalten zu den Reformüberlegungen der Politik.
Bundesärztekammer-Präsident Hoppe warnte allerdings davor, dass ein steuer- finanzierter Sozialausgleich die Gefahr einer „Gesundheitsversorgung nach Kassenlage“ berge. Steuerfinanzierte Systeme im Ausland hätten oft gezeigt, dass der Staat Gelder zuteile und nicht die Ansprüche der Patienten Priorität hätten. Die gute Gesundheitsversor- gung hierzulande müsse erhalten blei- ben – auch um den Gesundheitsstandort Deutschland zu sichern. Samir Rabbata
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ordergründig herrscht Waffenstill- stand. Doch der „harte gesund- heitspolitische Winter“ steckt so- wohl der Politik als auch der gemeinsa- men Selbstverwaltung noch in den Kno- chen. Zwar lieferten sich die Vertreter des Bundesgesundheitsministeriums, der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung (KBV), der Krankenkassen sowie der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses bei der KBV-Veran- staltung „Letzte Chance für die Selbst- verwaltung oder lebenslänglich auf Be- währung?“ am 25. März in Berlin keine scharfen Wortgefechte. Dennoch wollte eine konstruktive und Gewinn bringen- de Diskussion nicht so recht aufkom- men. Zu tief sitzen offenbar noch die Geschehnisse der vergangenen Wochen.Angefangen hatte der Streit mit In- Kraft-Treten der Gesundheitsreform zum 1. Januar. Als aufgrund ungeklärter Details, wie die Definition von chro- nisch Kranken, die Fahrtkostenregelung oder die Ausnahmen bei der Praxisge- bühr, das Chaos ausbrach, hatte Bun- desgesundheitsministerin Ulla Schmidt schnell einen Schuldigen zur Hand: die gemeinsame Selbstverwaltung. Ihr schob sie die Verantwortung für den
verpatzten Start der Reform zu und for- derte gleichzeitig den Bundesausschuss medienwirkam zu Korrekturen auf.
Dabei hat die Politik bei der Verab- schiedung der Gesundheitsreform sehr wohl gewusst, dass das Gesetz soziale Härten mit sich bringt. Wohl von der Empörung der Patienten (und Wähler) überrascht, beauftragte Schmidt die Selbstverwaltung, für mehr Sozialver- träglichkeit zu sorgen. Geht dies nicht schnell genug, wird ihre Existenzbe- rechtigung infrage gestellt. Inzwischen zeigt sich das Bundesgesundheitsmini- sterium (BMGS) versöhnlicher: „Es wird auf ein Mischsystem hinauslau- fen“, sagte Dr. Klaus Theo Schröder, Staatsekretär im BMGS, in Berlin. „Es werden immer Rahmenbedingungen nötig sein, die sowohl durch den Staat als auch durch die gemeinsame Selbst- verwaltung sicherzustellen sind.“
Mitte Januar hatte dies noch ganz an- ders geklungen. Damals drohte die Mi- nisterin in einem Spiegel-Interview:
„Das ist jetzt die letzte Chance für die Selbstverwaltung.“ Der Bundesaus- schuss nutzte diese und klärte die noch offenen Fragen. Seitdem herrscht vor- läufig Ruhe. Doch ob die von Dauer sein wird, ist fraglich. Spätestens wenn klar wird, dass die von den Reformkoalitionären er- hofften Einsparziele mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) nicht erreicht wer- den können, droht weiteres Ungemach.
„Der neu gegründete Ge- meinsame Bundesausschuss wird künftig verstärkt im Licht der Öffentlichkeit ste- hen, weil er vom Gesetzgeber ,politisiert‘ wurde“, erklärte der Vorsitzende des Bundes- ausschusses, Dr. jur. Rainer
Foto:Georg Lopata
Gemeinsame Selbstverwaltung
Sündenbock der Politik
Das Fachwissen liegt bei der gemeinsamen Selbstverwaltung, doch ihre Existenz wird nicht zum letzten Mal infrage gestellt worden sein.
Vorerst befriedet: Dr. med. Richter-Reichhelm und BMGS- Staatssekreträr Dr. Schröder