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ie zwölfjährige Nadine wurde mit Spina bifida geboren. Seit ihrer Geburt pflegt die Mutter sie. Nun ergreift die Frau die Chance, halbtags zu arbeiten. Einmal am Tag soll deshalb ein Mitarbeiter des ambulanten Pflegedien- stes Nadine in der Schule katheterisie- ren. Die restlichen dreimal am Tag würde es die Mutter wie immer übernehmen.Die Krankenkasse lehnt jedoch eine entsprechende Verordnung ab. Die Ka- theterisierungen seien der Grundpflege zuzurechnen und Sache der Pflegeversi- cherung. Eine Behandlungspflege in der Schule sei nicht Aufgabe der Gesetzli- chen Krankenversicherung (GKV).
Folge: Die Mutter muss ihre neue Ar- beitsstelle wieder aufgeben. Nadine, die sich mehr Selbstständigkeit trotz ihrer Erkrankung wünscht, muss an diesem Punkt darauf verzichten. Der Pflege- dienst, der die Familie seit langem be- gleitet, kommt in Konflikte. Fazit von Sabine Mittmann, Deutscher Berufsver- band für Pflegeberufe: „Angehörige werden für ihr Engagement, die Kosten niedrig zu halten, bestraft.“
Budgetdruck in allen Bereichen spürbar
Auch bei kleineren Kindern treten oft schon gravierende Wahrnehmungs- und Koordinationsstörungen auf, die durch Ergotherapie frühzeitig behandelt wer- den könnten. Doch immer häufiger zö- gern die Ärzte, diese zu verordnen, und trösten die Eltern damit, die Störung wachse sich vielleicht noch aus. Fazit von Monika Tietz, Deutscher Verband der Ergotherapeuten: „Der Budget- druck verschlechtert zunehmend die Versorgungssituation von behinderten Kindern.“
Eine ältere Frau, Patientin in einem Pflegeheim, hat eine Hüftoperation mit Gelenkersatz überstanden. Ihr Arzt verordnet zehnmal Krankengymnastik.
Die Krankenkasse lehnt die Verord- nung ab: Zur Pflege gehöre doch auch die Aktivierung von Patienten – als ob aktivierende Pflege dasselbe ist wie Be- wegungstraining. Fazit von Eckhardt Böhle, Deutscher Verband für Physio- therapie: „Rationierung ist Realität.“
Die Rationierung im Berufsalltag – sie machte das Bündnis Gesundheit
2000 (siehe Kasten)in der vergangenen Woche zum Thema. Die Repräsentan- ten von 38 Organisationen im Gesund- heitswesen luden nach Berlin in den Tränenpalast am Bahnhof Friedrich- straße, um zu diskutieren über „Krank- heit – das schlechte Risiko“.
Ihre Erfahrungen können sie nicht mit repräsentativen Befragungen oder Langzeitstudien belegen. Doch gerade die Berichte aus dem Alltag zeigen, was
„draußen“ passiert; da, wo Gesetze und Verordnungen umgesetzt werden. Viele Beispiele belegen dabei, wie ineffizient und kurzsichtig manches scheinbar wirt- schaftliche Verhalten sein kann. In Ber- lin stimmten Kinderkrankenpflegerin, Logopädin und niedergelassener Arzt überein: Die Budgetierung der Gesund- heitsausgaben hat spürbare und thera- peutisch nicht zu rechtfertigende Aus- wirkungen auf die Patientenversorgung.
Schizophrene Patienten suchen in mehreren Anläufen einen Arzt, der ih- nen neuere Medikamente mit niedrige-
ren Nebenwirkungen verschreibt. Psy- chotherapeuten wird ihre Arbeit man- cherorts nur mit ein paar Mark vergü- tet, obwohl die Krankenkassen die The- rapien der Versicherten zuvor geneh- migt haben. Kinder in logopädischer Behandlung müssen auf eine kontinu- ierliche Therapie verzichten, weil das Folgerezept hinausgeschoben wird.
„Vorsichtig, sehr vorsichtig greifen wir Ärzte zum Rezept“, bestätigte Dr.
med. Manfred Rich- ter-Reichhelm, Vor- sitzender der Kas- senärztlichen Bundes- vereinigung. Nicht zu- letzt die miserable Datenlage zwinge zu Restriktionen, weil man nicht die Zeche, sprich die Verord- nung, aus der eigenen Tasche bezahlen kön- ne. Die Gesundheits- berufe hätten es im- mer schwerer, ihre Aufgaben wahrzu- nehmen, sagte Rich- ter-Reichhelm. Mit Anspielung auf den Ort der Veranstaltung wünschte er dem Bündnis jedoch, „dass aus dem Tal der Tränen ein Aufbruch entsteht“.
In der sich anschließenden Diskussi- on der Gesundheitsberufe und mehre- rer Vertreter von Selbsthilfegruppen mit Gesundheitspolitikern war davon allerdings nichts zu spüren. Ulf Fink (CDU) und Dieter Thomae (FDP) spra- chen sich gegen Budgets aus. Klaus Kir- schner (SPD), der als einziger Vertreter der Regierungsparteien überhaupt den nahen Weg zum Tränenpalast gefunden hatte, beharrte darauf, dass Rationali- P O L I T I K
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Bündnis Gesundheit 2000
Tacheles im Tränenpalast:
Rationierung nimmt zu
Patienten mit schwersten Erkrankungen werden wegen der Ausgabenbegrenzung nicht mehr angemessen behandelt – das ist die Alltagserfahrung der Gesundheitsberufe.
Der Tränenpalast diente zu DDR-Zeiten als Grenzabfertigungshalle.
Hier mussten sich Ost- und Westberliner nach einem Besuch wieder voneinander verabschieden. Heute finden dort Konzerte und Theater-
aufführungen statt. Foto: dpa
sierung nötig sei, nicht Rationierung.
Dass Erwin Jordan, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesgesundheits- ministerium, trotz Zusage nicht erschie- nen sei, wollte der Moderator „nicht kommentieren“. „Wir aber“, schallte es aus dem Saal auf die Bühne, und dann folgten doch einige Buhrufe.
Dr. Ruth Fuchs (PDS) plädierte für einen Erhalt der GKV, allerdings mit ei- ner Versicherungspflicht für alle Bür- ger. Rationalisierungsreserven gebe es sicher, sie seien jedoch nicht von heute auf morgen zu erschließen. Zudem soll- ten entsprechend frei werdende Mittel im System bleiben. Auf die konkreten Beispiele aus den Gesundheitsberufen ging keiner ein. Deren Repräsentanten ließen nicht locker. Sie warfen den Poli- tikern Ignoranz und Ideologie vor.
Gertrud Stöcker, Deutscher Pflege- rat, kritisierte, dass ein Abbau qualifi- zierter Kräfte und ein Ausbau der Lai- enpflege politisch gewollt sei. Dr. med.
Astrid Bühren, Vorsitzende des Deut- schen Ärztinnenbundes, sagte, Frauen
seien die Hauptbetroffenen von Ratio- nierung. Vor allem ihre Stellen im Krankenhaus würden abgebaut, weil durchschnittlich 87 Prozent der dort Beschäftigten Frauen seien. Auch ein Arbeitsplatzabbau in der Pflege be- laste Frauen, weil sie es in der Regel seien, die Angehörige zu Hause be-
treuten. Sabine Rieser
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ieder einmal gibt es Gerangel und Diskussionen um die Wer- bung und ihren Einfluss auf das Gesundheitsverhalten. Diesmal geht es jedoch nicht um Tabak, sondern um Al- kohol. Geändert hat sich mit dem The- ma offenbar auch die Position der Bun- desregierung. Nachdem sie sich un- längst für die Tabakwerbung eingesetzt und sogar gemeinsam mit der Zigaret- tenindustrie gegen die Richtlinie der Europäischen Union zum Tabakwerbe- verbot in Europa vor dem Europäi- schen Gerichtshof geklagt hatte (siehe Deutsches Ärzteblatt, Heft 26/2000), appelliert sie nun an die Alkohol- und Werbeindustrie, die Alkoholwerbung einzuschränken.Gespräche mit der Werbe- und Alkoholwirtschaft
Gesetzlich will die rot-grüne Regierung nicht gegen die Alkoholwerbung vorge- hen. Sie setzt vielmehr auf Freiwillig- keit und gemeinsame Verhandlungen mit der Alkohol- und Werbeindustrie.
Diese müsse in die gesamtgesellschaft- liche Verantwortung besonders für Kinder und Jugendliche eingebunden werden, sagte Christa Nickels (Bünd- nis 90/Die Grünen), Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesund- heitsministerium (BMG), anlässlich der WHO-Tagung zum Europäischen Al- kohol-Aktionsplan 2000 bis 2005 Mitte Juni in Bonn.
Wie auch schon beim beabsichtigten Tabakwerbeverbot (damals jedoch ohne Erfolg), forderte der Präsident der Bun- desärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg- Dietrich Hoppe, die Regierung auf, sich für ein Verbot der Alkoholwerbung ein-
zusetzen. Es sei ein Unding, dass eine Substanz, an deren Folgen in Deutsch- land rund 42 000 Menschen pro Jahr sterben, in schillernden Filmspots öf- fentlich angepriesen werde, so Hoppe.
Initiative hat das Bundesgesund- heitsministerium in diesem Fall bereits ergriffen. Ende Juni trafen sich Vertre- ter der Werbewirtschaft, der Alkohol- industrie und des Sports mit Bundes- gesundheitsministerin Andrea Fischer, Staatssekretärin Christa Nickels sowie
den Ländergesundheitsministerinnen Heide Moser (Schleswig Holstein) und Dr. Martina Bunge (Mecklenburg-Vor- pommern) zu einem „Gedankenaus- tausch“ zum Thema „Jugendliche und Alkohol“.
„Trotz unterschiedlicher Auffassung in Einzelfragen wurde Übereinstim-
Alkohol
Industrie soll freiwillig die Werbung einschränken
Die Regierung will die Werbung für Alkohol reduzieren, die nach ihrer Ansicht einen „Risikofaktor“ für den Alkohol- konsum besonders bei Kindern und Jugendlichen darstellt.
Alkoholwerbung wie diese soll nach Willen der Regierung zwar nicht verboten werden, jedoch seltener zu sehen sein. Foto: Linie Aquavit
Bündnis Gesundheit:
Durchhaltevermögen
Das Bündnis Gesundheit 2000 ist ein Zusammen- schluss von 38 Gesundheitsberufen. Vertreten sind die Ärzte und Zahnärzte, die Pflegeberufe, Physiotherapeuten, Logopäden und Atem-, Sprech- und Stimmlehrer, Technische Assistenten, Ergotherapeuten, Diätassistenten, Apotheker, Kassenpsychotherapeuten. Hervorgegangen ist die Initiative aus der Konferenz der Fachberufe im Gesundheitswesen bei der Bundesärztekammer.
Im April 1999 trat das Bündnis zum ersten Mal öf- fentlich in Erscheinung. Es folgte im Sommer eine große Demonstration auf dem Berliner Gendar- menmarkt, bei der die betroffenen Berufe ihren Protest gegen die anstehende Gesundheitsreform formulierten. Damals kamen schätzungsweise 25 000 Menschen. Inzwischen will das Bündnis nicht mehr nur protestieren, sondern Alternativen zur jetzigen Gesundheitspolitik aufzeigen. Im Mai hat es „Eckpunkte für ein patientengerechtes Ge-
sundheitswesen“ vorgelegt. Rie
mung erzielt“, heißt es in der gemeinsa- men Presseerklärung. Ein wirklicher Konsens kam bei diesem Gespräch je- doch nicht zustande. Dazu haben die Teilnehmer zu konträre Ansichten. Sie vereinbarten lediglich, dass eine ge- meinsame Arbeitsgruppe in den näch- sten Monaten „Vorschläge zum verant- wortungsvollen Umgang mit alkoholi- schen Getränken“ erarbeiten soll. Ge- plant ist zudem ein gemeinsamer Kon- gress in kommenden Jahr.
Die deutsche Alkohol- und Werbe- wirtschaft hat 1976 freiwillige Verhal- tensregeln zur Werbung für alkoholi- sche Getränke entwickelt. Dass diese seither nahezu unverändert gelten, wird von Nickels kritisiert: „Ich denke, es ist an der Zeit, diese Verhaltensregeln neueren Erkenntnissen anzupassen.“
Der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft ist anderer Meinung:
„Wir sehen aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse keinen Anlass, die Re- geln zu verschärfen“, erklärte der Spre- cher des Verbandes, Volker Nickel, ge- genüber dem Deutschen Ärzteblatt.
„Es besteht keine Kausalität zwischen Gesamthöhe des Verbrauchs alkoholi- scher Getränke und Markenwettbe- werb.“ Vielmehr gleiche der Trend ei- ner Scherenbewegung: Die Werbeaus- gaben wuchsen in den Neunzigerjah- ren, der Alkoholkonsum hingegen sank in dieser Dekade.
Nickels verweist auf eine Untersu- chung des Ifo-Instituts (Institut für Wirtschaftsforschung), München, nach der der Pro-Kopf-Konsum alkoholi- scher Getränke von 176 Litern im Jahr 1990 auf 156 Liter 1998 gesunken ist.
Auch bei Jugendlichen ist ein Abwärts- trend des Alkoholkonsums sichtbar. Die Drogenaffinitätsstudie der Bundeszen- trale für gesundheitliche Aufklärung, Köln, ergab für den Vergleichszeitraum 1997 gegenüber 1993 einen Rückgang des Konsums von allen vier untersuch- ten alkoholhaltigen Getränken (Bier, Wein/Sekt, Spirituosen und alkoholhal- tigen Mixgetränken) bei den 12- bis 25- jährigen Kindern und Jugendlichen. Zu- gleich erhöhte sich der Anteil derjeni- gen, die selten oder nie Alkohol trinken.
Auch Christa Nickels würdigt diesen rückläufigen Trend. „Dennoch können wir mit den bisher erreichten Ergebnis- sen nicht zufrieden sein“, erklärte die
Staatssekretärin und Drogenbeaufrag- te der Bundesregierung. „Sondern wir müssen weitere und intensivere An- strengungen unternehmen, um den ris- kanten Konsum und die damit verbun- denen Risiken zu senken.“ Ein „Risiko- faktor für den Alkoholkonsum“ ist für sie dabei die Werbung, „die Trends setzt oder verstärkt und subtil Lebens- stile beeinflusst“.
Durch solche Äußerungen fühlt sich die Werbewirtschaft angegrif- fen. „Werbe- und
Vertriebsverbote für alkoholhal- tige Getränke zum Zweck des Jugendschutzes sind Ausdruck der Hilflosigkeit der Gesundheits- politik“, zitiert Volker Nickel ei- ne sozialpsycho- logische Studie von Professor Dr. Reinhold Bergler (Uni- versität Bonn) zum Alkohol- konsum Jugend- licher. Die Po- litik müsse sich um die Ursachen des Missbrauchs kümmern, sagt der Werbefach-
mann. Zu sachlichen Gesprächen und einer Beseitigung von objektiven Fehl- entwicklungen wäre die Werbewirt- schaft bereit, allerdings werde sie keine
„faulen Kompromisse“ mit der Politik schließen.
Neue Studie
zum Alkoholkonsum
Das Bundesgesundheitsministerium will zunächst das Thema Alkohol stär- ker ins öffentliche Bewusstsein rücken.
Christa Nickels stellte in Bonn die neue Studie des BMG zu Alkoholkonsum und Folgeschäden in Deutschland vor.
Danach sind:
❃1,6 Millionen Menschen (2,4 Pro- zent der Wohnbevölkerung ab 18 Jah- ren) akut alkoholabhängig,
❃ Alkoholmissbrauch liegt aktuell bei 2,65 Millionen Menschen (vier Pro- zent) vor,
❃ direkt oder indirekt in Verbindung mit Alkohol sterben jährlich rund 42 000 Personen,
❃ 238 000 Straftaten (sieben Prozent aller Straftaten) werden pro Jahr unter Alkoholeinfluss begangen,
❃ Trunkenheit spielt bei 60 Prozent der 150 000 Verurteilungen wegen Straftaten im Straßenverkehr eine Rol- le; rund 1 500 Perso- nen werden bei Ver- kehrsunfällen mit Al- koholeinfluss getötet,
❃ Arbeitsunfähig- keit und Invalidität wegen Alkoholabhän- gigkeit und Alkohol- psychosen werden in etwa 92 000 Fällen jährlich festgestellt,
❃ zehn bis zwölf Prozent der Bundes- bürger konsumieren Alkohol in einer Grö- ßenordnung, die zwar nicht akut gefährlich ist, aber langfristig ein hohes Risiko von ge- sundheitlichen und so- zialen Schäden mit sich bringt,
❃ der volkswirt- schaftliche Schaden durch alkoholbezoge- ne Morbidität und Mortalität beläuft sich auf etwa 40 Milliarden DM jähr- lich.
In allen europäischen Ländern gebe es Anzeichen dafür, so Nickels, dass der Alkoholkonsum bei vielen Jugendlichen zu einem selbstverständlichen und wich- tigen Teil des Lebens geworden sei. Sie will deshalb stärkeres Augenmerk auf den Schutz der Jugendlichen vor Alko- hol legen. Dazu gehören politische Maß- nahmen, wie die Festsetzung eines Min- destalters für den Alkoholkonsum sowie der Schutz der Kinder vor der Animati- on zum Alkoholkonsum. Die 80 Exper- ten, die in Bonn über den europäischen Aktionsplan der WHO berieten, erwei- terten ihre Deklaration dahingehend.
Sie soll im Februar 2001 auf der Gesund- heitsministerkonferenz in Stockholm beschlossen werden. Dr. med. Eva A. Richter P O L I T I K
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Nach Aussage von Staatssekretärin Nickels gelten die Deutschen mit 127,4 Liter Bier pro Kopf und Jahr (1998) europaweit als Biertrin- kernation. Foto: Walter Oberländer