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eim ordentlichen Bundes- parteitag der SPD vom 17. bis 19. November in Bochum mussten die tonange- benden Politiker der Sozialde- mokraten ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen und taktische Finessen anwenden, um den Kurs und den Reform- fahrplan von Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einigen wesentlichen Änderungen in den Beschlussanträgen zu be- stätigen. Zwar blieb die Par- tei-Linke bei ihrer Funda- mentalkritik an der Agenda 2010 und am parteienüber- greifenden Schlusskompro-miss zur Gesundheitsreform (GKV- Modernisierungsgesetz), doch waren die meisten Delegierten bereit, die Realitäten anzuerkennen, die Schröder im Frühjahr zu einem teilweisen Kurs- wechsel und zur Präzisierung der Agen- da 2010 veranlasst haben.
Sichtbar war der Parteitag darum bemüht, nicht einseitig Klientelpolitik zugunsten der Stammwähler zu betrei- ben, zumal die SPD zurzeit in der Wäh- lergunst auf einem Tiefpunkt steht und seit 2002 etwa 37 000 Mitglieder aus der Partei ausgetreten sind. Vielmehr doku- mentiert der mit nur einer Gegenstimme angenommene Leitantrag die Absicht, Traditionalistisches mit einer veränder- ten Programmatik zu verbinden und die Grundlagen für künftige innenpolitische Reformen zu ebnen. Die Partei bezeich- net sich als „Hort der sozialen Gerech- tigkeit“, die auch in absehbarer Zeit zen- tral etwas mit Verteilung und Vertei- lungsgerechtigkeit zu tun haben will. Da- bei soll es einen intensiven und offenen Dialog mit allen relevanten gesellschaft- lichen Gruppen geben – wiewohl die Selbstständigen und Freiberufler keine
Beachtung fanden, denn die Beschlüsse zur Renten- und Gesundheitsreform so- wie zur Steuerreform zielen eindeutig ge- gen diese Gruppen. Im nächsten Jahr will die SPD unter der Ägide des mit (nur) 52,6 Prozent wiedergewählten General- sekretärs Olaf Scholz eine Öffentlich- keitskampagne „Leitbild Gerechtigkeit“
inszenieren – ein Element zur Vorberei- tung eines neuen Grundsatzprogramms.
Dynamik, Eigenverantwortung und So- lidarität schlössen einander nicht aus.
Um den 1998 „begonnenen Weg der Erneuerung Deutschlands“ konse- quent fortzusetzen, müssten durchgrei- fende Reformen mit sozialdemokrati- schem Tiefgang durchgesetzt und noch in dieser Legislaturperiode in vielen Bereichen durchgesetzt werden. Dabei geht es der SPD um die Nachhaltigkeit der Finanzierung der „sozialstaatlichen Sicherung auch für künftige Generatio- nen“. Wie bereits im Godesberger Pro- gramm von 1959 werden als wesentliche Voraussetzung für die Schaffung sozia- ler Gerechtigkeit gleiche Start- und Le- benschancen für alle Menschen – unab- hängig vom Einkommen und Alter –
beschworen. Investitionen in Bildung, in die Familie und in die sozialen Sicherungssyste- me seien lohnend und der Schlüssel zu gesellschaftli- cher Innovation und indivi- dueller Emanzipation, heißt es im Leitbeschluss.
Die Gesundheitsreform, der die Konservativen in einem parteiübergreifenden Kom- promiss den Stempel aufge- drückt hätten, richte sich überwiegend gegen die Inter- essen der Beitragszahler und Patienten. Ein solcher Vor- gang dürfe sich nicht wieder- holen, mahnten die Delegier- ten. Stattdessen wird als „Zukunftspro- gramm Gesundheit“ eine grundlegende, sozialdemokratisch ausgerichtete Re- form beschworen, in deren Mittelpunkt sowohl die Finanzierungs- als auch die Ausgabenseite stehen müssten. Der Kanzler: Die Reformen seien notwen- dig, um vor allem die Lohnnebenkosten zu entlasten und den Wirtschaftsstand- ort Deutschland zu verbessern. Der Pro- duktionsfaktor Arbeit und die wirt- schaftliche Leistung müssten von Sozi- alabgaben und Steuern entlastet wer- den. Kurzfristig müssten die Kassen- beiträge gesenkt und der Rentenversi- cherungsbeitrag stabil gehalten werden.
Kritik an der
Gesundheitsreform
Die SPD will die Grundstrukturen der Systeme der sozialen Sicherung gezielt weiterentwickeln. Die Sozial- und Ge- sundheitspolitik müsse dabei Rücksicht auf gewachsene Traditionen nehmen.
Die Partei tut sich noch schwer mit einem von den Linken geforderten raschen und P O L I T I K
Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4828. November 2003 AA3135
SPD-Bundesparteitag in Bochum
Eingeschworen auf die Bürgerversicherung
Schröders Kurs 2010 mit Abstrichen bestätigt
Bundesgesundheits- und -sozialministerin Ulla Schmidt (neben dem Kanzler): „Die Gesundheitsreform muss umgesetzt werden.“
Fotos:phalanx
massiven Umbau der Renten- und Kran- kenversicherung. Für einen Neuentwurf gebe es weder einen Anlass noch die fi- nanziellen Möglichkeiten. Schon gar nicht will die SPD einen Umstieg in ein steuerfinanziertes System. Scholz: „Das wird nicht gehen, 350 Milliarden Euro im Jahr allein als Finanzierungslast der Sozi- alversicherung auf die Steuer zu packen, dies ist nicht zu schultern.“
Der Parteitag hat sich klar auf das Modell Bürgerversicherung festgelegt.
Der Weg in die Reprivatisierung von Krankheitsrisiken oder eine völlige Pri- vatisierung sei falsch, eine Umstellung auf Teil- oder völlige Kapitaldeckung finanziell nicht darstellbar. Das von der Herzog-Kommission der CDU vor- geschlagene einkommensunabhängige Kopfprämiensystem wird als unsolida- risch abgelehnt. Eine Kopfprämie, ein- heitlich für die Sekretärin und für den Vorstandsvorsitzenden – dies sei, so Schröder, „das Gegenteil von gesell- schaftlicher Solidarität“. Die Kranken- versicherung dürfe nicht in eine steuer- alimentierte Versicherung abdriften, bei der all diejenigen, die die Kopfprämie nicht aufbringen können, zu einem Bitt- steller- und Fürsorgeempfänger degra- diert werden. Der Kanzler: „Wer diesen Unfug über die Steuer finanzieren will, der soll nicht auch noch von Steuerver- einfachung reden.“ Dem Kopfprämien- modell sagt die SPD nach, es führe zu ei- ner Zweiklassenmedizin, die Einkom- mensschwache vom medizinischen Fort- schritt abkoppele. Medizinisch notwen- dige Leistungen, unabhängig vom Ein- kommen und vom Alter, müssten allen Bürgern und Bürgerinnen zukommen
und solidarisch gesichert werden, so Bundesgesundheits- und -sozialministe- rin Ulla Schmidt. Sämtliche Bürger, also auch Beamte, Selbstständige und An- gehörige der Freien Berufe, müssten der Pflichtversicherung unterworfen wer- den. Umstritten ist innerhalb der SPD noch, auf welches Niveau die Beitrags- bemessungsgrenze gehoben werden sollte (auf das Niveau der Rentenver- sicherung?) oder ob sie vollends entfallen soll.
Der Krankenversiche- rungsbeitrag müsse sich nach der finanziellen Lei- stungsfähigkeit richten.
Allerdings müssten bei der Finanzierung weitere Ein- kommensarten bei der Bei- tragsbemessung mit einbe- zogen werden. Bei der Fi- nanzierung müsse es bei der Beteiligung der Ar- beitgeber bleiben. Eine beitragsfreie Familienmit- versicherung von nicht er- werbstätigen Ehepartnern und Kindern in der GKV sei ebenso un- verzichtbar wie die Übernahme des Mut- terschaftsgeldes und der Lohnkosten von Erziehenden während der Krankheit ei- nes Kindes.
Mit knapper Mehrheit setzte die Par- teispitze ihr Votum durch, am Neben- einander von gesetzlichen Kassen und privaten Krankenversicherungen (PKV) festzuhalten, um den Wettbewerb zu verstärken. Viele Delegierten wollten die PKV auf eine Ergänzungs- und Zu- satzversicherung reduzieren. Die von der Antragskommission befürwortete Formulierung, dass zu prüfen sei, ob und wie neben den Erwerbseinkommen an- dere Einkommensarten bei der GKV-Fi- nanzierung berücksichtigt werden kön- nen, änderte der Parteitag mit 187 : 136 Stimmen insoweit ab, als nur das Wie der Einbeziehung anderer Einkunftsarten geprüft werden solle. Der SPD-Be- schluss drängt auf einen fairen Wettbe- werb nicht nur bei Krankenversicherun- gen, sondern auch zwischen den Lei- stungserbringern und Leistungsanbie- tern. „Anbieter-Monopole“, wie etwa die Kassenärztlichen Vereinigungen, müss- ten „aufgehoben“ werden. Während einzelne Gruppierungen, wie die SPD- Linke, für einen raschen Übergang zur
Bürgerversicherung eintraten, legten sich Schröder und Olaf Scholz auf ein behutsames Vorgehen fest, denn es dürfe jetzt kein Fehler passieren. Erst müsse der Weg festgelegt werden, der beschrit- ten werden soll. Der Prüfauftrag müsse zunächst auf die Finanzierbarkeit und ordnungspolitische Stimmigkeit begrenzt werden. Nach dem Beschluss des Leitan- trags sagte Schröder, über die Ausgestal- tung der Bürgerversicherung werde noch im Detail „zu reden sein“. In je- dem Fall sei mit der SPD nicht konsens- fähig, es der individuellen Entscheidung zu überlassen, sich aus der Solidaritäts- und Einstandspflicht in der gesetzlichen Versicherung zu entfernen. Am liebsten wäre es dem Generalsekretär, wenn bei den Auseinandersetzungen im Wahljahr 2006 die Optionen Kopfpauschale und Weiterentwicklung der solidarischen Krankenversicherung unter dem Stich- wort „Bürgerversicherung“ entschieden würden. Bei einem Wettbewerb von Ge- setzlicher und privater Krankenversi- cherung müssten die privaten Versiche- rer allerdings in einen umlagefinanzier- ten Solidarausgleich einbezogen wer- den. Der Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitiker Horst Schmid- bauer betonte, das Reformmodell müs- se noch in dieser Legislaturperiode prä- ziser formuliert werden.
Gewerbesteuerpflicht
Der Parteitag empfahl eine stufenweise Ausweitung der Rentenversicherungs- pflicht auf alle Erwerbstätigen, also auch auf Selbstständige und Freibe- rufler. Durch mehr Solidarität der Ge- nerationen würde die Altersvorsorge stabilisiert, und mit den Mehreinnah- men könnte ein „Generationenfonds“
gebildet werden. Dieser Kapitalstock könne dazu beitragen, die finanziellen Belastungen künftiger Generationen zu begrenzen. Die Ausdehnung der Ge- werbesteuerpflicht auch auf die selbst- ständigen und Freien Berufe ist so gut wie entschieden. Die Freien Berufe, oh- ne Lobby in der SPD, wurden als Hoch- verdienende gebrandmarkt, die ohne- dies alle Betriebsausgaben von der Ein- kommensteuer absetzen könnten. Also müsse sie eine erhöhte Erbschaftsteuer treffen. Dr. rer. pol. Harald Clade P O L I T I K
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A3136 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4828. November 2003
Gerhard Schröder: „Den Sozialstaat, für den wir so viele Jahrzehnte gekämpft haben, lassen wir von niemandem kaputtmachen.“