Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Heft 21 vom 24. Mai 1979
Versicherung des Pflegerisikos?
Eine Bund-Länder-Arbeits- gruppe beim Bundesmini- sterium für Jugend, Familie und Gesundheit erörterte kürzlich mit Sachverständi- gen die Möglichkeiten einer speziellen Pflegeversiche- rung im Rahmen des beste- henden Sozialleistungssy- stems. Ventiliert wurde zum Beispiel, alle oder wenig- stens die meisten Mitbürger obligatorisch gegen das Ri- siko der Pflegebedürftigkeit zu versichern. Eine solche Versicherung soll dann mit- ihren Leistungen eintreten, wenn ein Patient wegen Krankheit oder Alters ambu- lanter oder stationärer Pfle- ge bedarf.
Kontroversen beim Hearing
Ausgangspunkt ist die Überle- gung, daß manche Patienten nur deshalb in die Allgemeinkranken- häuser kommen oder dort länger bleiben, weil sie pflegebedürftig sind — obwohl die ärztlich-medizi- nische Indikation für einen Kran- kenhausaufenthalt strenggenom- men nicht (mehr) besteht.
Für die Betroffenen und ihre Fami- lien hat das aber immerhin den Vorteil — der für die Allgemeinheit ein Nachteil ist —, daß die Unter- bringung in diesen zumeist ko- stenträchtigen Einrichtungen in aller Regel von den Krankenkas- sen bezahlt wird.
Bei einer Aufnahme in Alten- und Pflegeheime müssen dagegen die Pflegebedürftigen oder ihre Fami- lienangehörigen selbst für die Ko- sten aufkommen. Nur bei Bedürf- tigkeit tritt an ihrer Stelle die So- zialhilfe ein.
Ebenso gehen auch die Kosten bei ambulanter Pflege weitgehend zu Lasten der Betroffenen. Die ge- setzliche Krankenversicherung (GKV) kommt nach § 185 der
Reichsversicherungsordnung (RVO) nur dann dafür auf, wenn durch ambulante Pflege ein Kran- kenhausaufenthalt ersetzt oder überflüssig gemacht wird.
Eine neu einzuführende „Pflege- versicherung" würde also die Pfle- gebedürftigen, ihre Familien, die Krankenkassen (hinsichtlich der Krankenhauskosten) und nicht zu- letzt auch ganz allgemein die So- zialhilfeträger von wesentlichen Aufwendungen entlasten.
Zur Pflegeversicherung werden drei Alternativen diskutiert:
> die Einführung eines neuen Versicherungsfalls „Pflegebedürf- tigkeit" in das Recht der gesetzli- chen Krankenversicherung mit der Konsequenz, daß die Aufwendun- gen hierfür aus den Beiträgen der Arbeitgeber und Versicherten mit- getragen werden,
> die gleiche Regelung mit dem Unterschied, daß ein gesonderter Beitrag für die „Pflegeversiche- rung" erhoben wird,
I> ein eigenständiges Leistungs- gesetz, daß möglichst alle Staats- bürger erfaßt, gegebenenfalls mit versicherungsähnlichen Beiträgen der Mitglieder.
Bei den bisherigen Beratungen wird allerdings einem Ausbau der Sozialversicherung der Vorzug gegeben.
Die bisherigen Aufwendungen in diesem Leistungsbereich werden in der Größenordnung von vier bis sechs Milliarden DM geschätzt.
Die Einführung einer Versiche- rung hätte aber ganz sicher we- sentliche Kostensteigerungen zur Folge. So wird zum Beispiel aus den Niederlanden berichtet, daß die Aufwendungen dort nach Ein- führung einer vergleichbaren Re- gelung innerhalb von zehn Jahren auf das Achtfache (I) gestiegen sind. Entscheidend wird die Ko- stenentwicklung natürlich davon abhängen, welche Leistungen er- bracht werden sollen. Wesentliche Mehrkosten würden vor allem dann entstehen, wenn mit Einfüh-
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Versicherung des Pflegerisikos?
rung einer Pflegeversicherung der bisher subsidiäre Charakter der Pflegeleistungen in einen generel- len Rechtsanspruch aller Pflege- bedürftigen gegenüber einer staatlichen oder halbstaatlichen Einrichtung umgewandelt werden würde. Es wäre generell ein An- steigen der Leistungserwartungen zu verzeichnen. Aber nicht nur die Kostenträger würden wesentlich höher belastet. Ein solcher Vor- gang würde sicherlich auch weit- gehende Folgen für das gesell- schaftliche Bewußtsein haben: Das Prinzip der Solidarität im Fa- milienverband würde damit in ei- nem weiteren wichtigen Be·reich aufgegeben und durch institutio- nelle Regelungen ersetzt. Darüber hinaus ist zu bedenken, ob das
"Lebensrisiko Pflegebedürftig- keit'' im herkömmlichen Sinne überhaupt versicherbar ist, ob man es hinreichend objektivieren kann. Es unterscheidet sich gewiß von den "klassischen" Versiche- rungsfällen des Todes, des Alters oder der Krankheit. Bei Pflegebe- dürftigkeit spielen in größerem Maße auch subjektive Gesichts- punkte mit. Dies gilt nicht zuletzt auch dann, wenn zu entscheiden ist, ob eine Pflege im Familien- haushalt möglich ist.
Fraglich ist schließlich auch, öb mit Einführung derartiger Leistun- gen wirklich so wesentliche Er- sparnisse im Bereich der allgemei- nen Krankenhausversorgung ein- treten werden, wie das immer be- hauptet wird. Bei einer Verkür- zung der Verweildauer - wie sie bei einer strengen Nichtaufnahme oder rechtzeitigen Entlassung nur noch pflegebedürftiger Menschen eintreten würde- tritt erfahrungs- gemäß eine Konzentration der Krankenhausleistungen auf einen kürzeren Zeitraum mit höherem Einsatz von Personal und Sach- mitteln ein. Die durch verringerte Krankenhaushäufigkeit und kürze- rer Verweildauer rechnerisch zu erfassenden Ersparnisse wären al- so gegen die Mehraufwendungen durch Intensivierung der Kranken- hauspflege und Krankenhausbe- handlung aufzurechnen.
Außerdem wird in diesem Zusam- menhang bereits davon gespro- chen, daß im stationären Pflege- bereich etwa 60 000 Betten fehlen und zusätzlich für ein Drittel der bestehenden stationären Einrich- tungen Ersatzneubauten notwen- dig sind. Vor allem müsse der Per- sonalbestand wesentlich aufge- stockt werden, und zwar durch qualifizierte Mitarbeiter. Auch hierdurch entstehen also gegen- über dem jetzigen Status erhebli- che Mehraufwendungen, die in ei- nem künftig ergänzten Sozialsy- stem aufzufangen wären.
Sprecher der Krankenkassenver- bände haben sich bei einer Anhö- rung im Bundesgesundheitsmini- sterium - vorbehaltlich der noch offenen Stellungnahme ihrer Or- gane- vorsichtig für die Übernah- me dieser neuen Aufgabe durch die gesetzliche Krankenversiche- rung ausgesprochen. Allerdings erwarten sie, daß ihnen die da- durch entstehenden Mehrkosten aus öffentlichen Steuermitteln er- stattet werden. Ebenso zeigte sich auch der Verband Deutscher Ren- tenversicherungsträger (VOR) für die Übernahme dieses neuen Ver- sicherungsrisikos durch die ge- setzliche Rentenversicherung auf- geschlossen. Er ging auch davon aus, daß die Bundeszuschüsse an die Rentenversicherung entspre- chend erhöht werden.
Dabei ist jedoch zu berücksichti- gen, daß der in der Rentenversi- cherung geschützte Personen- kreis kleiner ist als in der Kranken- versicherung, wo insbesondere auch die Familienangehörigen im allgemeinen Versicherungsschutz haben. Schließlich bestehen auch über den Leistungsumfang sehr differente Vorstellungen. So sind zum Beispiel die Krankenkassen der Auffassung, daß die Leistun- gen auf die reinen Pflegeaufwen- dungen beschränkt werden sollen. Das würde bei stationärer Unter- bringung bedeuten, daß der Auf- wand für Unterbringung und Ver- pflegung zu den Lebenshaltungs- kosten gerechnet und nicht in die Leistungspflicht einbezogen wird.
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Die Vertreter einer umfassenden Pflegeversicherung sind dagegen der Meinung, daß eine volle "Fi- nanzierung aus einer Hand" not- wendig sei. ln diesem Sinne befür- worten sie auch eine Zahlung von Pflegegeld, ähnlich wie dies in der gesetzlichen Unfallversicherung bereits geschieht.
Für die Ärzteschaft liegt die Not- wendigkeit einer ausreichenden und qualitativ guten Pflege für Kranke und alte Mitbürger auf der Hand. Die strukturellen Vorschlä- ge für die Eingliederung dieser Aufgabe in die gesetzliche Kran- kenversicherung sind jedoch au- ßerordentlich problematisch. Da- bei ist insbesondere an die Bemü- hungen zur Kostendämpfung in der gesetzlichen Krankenversiche- rung durch das "Kostendämp- fungsgesetz" und die "Konzertier- te Aktion" zu erinnern.
~ Eine Ausweitung des Lei- stungskatalogs würde unweiger- lich zusätzliche Kosten zur Folge haben, die das Bemühen um Bei- tragssatzstabilität sehr schnell ad absurdum führen würden. Daher ist aus diesem Aspekt der vorgese- henen Systemänderung zu wider- sprechen. Der gesetzlichen Kran- kenversicherung sollten aus den Beiträgen der Arbeitgeber und Versicherten nur krankheitsbe- dingte Leistungen zugerechnet werden. Alternativ ist daran zu denken, Pflegeeinrichtungen aus öffentlichen Mitteln zu subventio- nieren, etwa in der Höhe der Vor- haltekosten, wie das auch für die Allgemeinkrankenhäuser nach dem KHG geschieht. Eine solche Regelung wäre gesellschaftspoli- tisch sinnvoll. Allerdings sollte man sich dabei auch der negativen Erfahrungen mit dem KHG bewußt
sein, soweit es sich um die zentra-
le Planung handelt. Gerade im Pflegebereich wäre es notwendig, daß die Träger ebenso wie die Ärz- teschaft weitgehende Mitsprache- rechte für die Gestaltung eines solchen Systems von Pflegeein- richtungen erhalten, wenn nicht alle Eigeninitiativen gelähmt wer-
den sollen. gt