DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
In der Siegburger Zentrale der Ersatzkassenverbände zer- bricht man sich schon seit geraumer Zeit den Kopf. Welche Chancen und Risiken sind mit der Organisationsstruktur der gesetzlichen Krankenversicherung verbunden? Von den rich- tigen Antworten auf diese Frage hängt vieles ab — nicht zu- letzt der zukünftige „Marktanteil" der einzelnen Kassenarten.
in (noch inoffizielles) Strate- giepapier der Ersatzkassen- verbände (VdAK) läßt eines bereits jetzt erkennen: Der Wettbe- werb vor und hinter den Kulissen wird an Schärfe gewinnen — und das Buhlen um „gute Risiken" dabei noch mehr in den Vordergrund tre- ten. Zwar sehen die Ersatzkassen durchaus gute Chancen, sich auch unter den geänderten Rahmenbe- dingungen behaupten zu können.
Dennoch gilt es, neue Reviere abzu- stecken, denn spätestens in vier Jah- ren wird wohl nichts mehr so sein, wie es bislang war.
Ab 1994, so steht es im Gesund- heitsstrukturgesetz, wird es einen Ri- sikostrukturausgleich zwischen allen Kassenarten geben. Dabei geht es nicht um das Aufrechnen der tatsäch- lichen Ausgaben der jeweiligen Kas- sen, sondern um den Ausgleich un- terschiedlicher Versichertenstruktu- ren. Die entscheidenden Faktoren sind der Grundlohn (das beitrags- pflichtige Arbeitsentgelt des Versi- cherten), das Alter, Geschlecht und die Anzahl der Mitversicherten.
Mit anderen Worten: Eine Kran- kenkasse mit besonders gutverdie- nenden oder besonders vielen jungen Versicherten kann daraus keine Vor- teile mehr ziehen. Daraus resultie- rende Beitragssatzunterschiede wer- den sich angleichen — nach Berech- nungen der Ersatzkassenverbände sogar nahezu aufheben. In dem Stra- tegiepapier heißt es dazu: „Der Durchschnittsbeitragssatz wird dem- nach nur noch gering ... unter dem durchschnittlichen Beitragssatz der AOKn liegen, die aus dem Risiko- strukturausgleich in der Regel profi- tieren werden."
Der Faktor Grundlohnausgleich wird die größten Verschiebungen hervorrufen. Während die Ortskran- kenkassen im Schnitt auf diese Weise 0,5 Beitragssatzpunkte gewinnen, bü- ßen die Betriebskrankenkassen 1,5 Beitragssatzpunkte ein. Allerdings
stellen sich die Auswirkungen des Ri- sikostrukturausgleichs — berechnet auf die Landesebene — schon wieder völlig anders dar. So spielt nicht zu- letzt das Nord-Süd-Gefälle eine ent- scheidende Rolle.
Unterm Strich bleibt für die Kas- senstrategen gleichwohl die Erkennt- nis: Der Zwangsausgleich schafft An- reize zu wirtschaftlichem Kassenhan- deln und zu einer Mitgliederauswahl
Ersatzkassen rüsten für den knallharten
Wettbewerb
nach Faktoren, die nicht in den allge- meinen Ausgleich einfließen. Das ei- ne läßt sich nach Ansicht der VdAK- Vordenker über eine genaue Kon- trolle der Ausgaben in den einzelnen Leistungsbereichen bewerkstelligen.
Das andere — die Selektion der Mit- glieder — dürfte hingegen wesentlich schwieriger sein. Originalton Strate- giepapier: „Da beim Risikostruktur- ausgleich nur die standardisierte, nicht die tatsächliche Morbidität aus- geglichen wird, sollten z. B. in allen Altersgruppen die ,gesünderen' Ver- sicherten angeworben werden."
Sogenannte gute Risiken alleine reichen demnach nicht mehr. Es müs- sen schon die besten der guten sein.
Die Strategie, heißt es dazu in dem Papier, „sollte darauf abzielen, in den jeweiligen Alters- und Geschlechts- gruppen diejenigen, die unterdurch- schnittlich Leistungen in Anspruch nehmen und damit eine günstigere Morbidität aufweisen, zu identifizie- ren und durch besondere Werbestra- tegien und spezifische Leistungsan- gebote anzusprechen". Das Ganze sei „technisch schwierig und sozialpo-
litisch nicht ganz unbedenklich", räu- men die Verfasser des Strategiepa- piers ein. Aber immerhin: Als attrak- tive Zielgruppe werden die Angehö- rigen qualifizierter Facharbeiterbe- rufe ausgemacht.
Der Countdown für die gezielte Mitgliederwerbung ist auf das Jahr 1996 gerichtet. Ab dann gilt die Wahlfreiheit für alle Versicherten.
Nur die Betriebs- und Innungskran- kenkassen müssen sich nicht öffnen.
Für die Ersatzkassen bedeutet die Wahlfreiheit hingegen die erzwunge- ne Aufgabe ihrer besonderen Identi- tät und berufsbezogenen Orientie- rung. Wenngleich den Ersatzkassen im Wettstreit um Abwanderer und neue Versicherte ihr hohes Ansehen zugute kommen dürfte, sehen die Strategen genau darin auch eine Ge- fahr. Eine „Aldi-Kasse", sprich Mas- sen-Kasse, möchte man nun doch nicht werden. Bereits jetzt haben die Arbeiter- und Angestellten-Kran- kenkassen zusammen rund 400 000 Aktiv-Versicherte mehr in ihren Rei- hen als die AOK.
Der Leitgedanke heißt deshalb qualitatives Wachstum über Berufs- anfänger, zumal die Wechselbereit- schaft langjährig Versicherter von an- deren Kassen als nicht besonders hoch eingeschätzt wird. Daneben wollen die Ersatzkassen ihre Vorrei- terrolle bei der Umsetzung des medi- zinischen Fortschritts weiter ausbau- en. Doch auch brisante Überlegun- gen stehen in dem Papier. Beispiels- weise die (Profilierungs?-) Möglich- keit über die „Unterstützung der Ver- sicherten bei Behandlungsfehlern"
mit Hilfe eigener angestellter Ärzte.
Längerfristig scheinen sich die Ersatzkassen auf die zunehmende Ausgrenzung von Leistungen aus dem Katalog der gesetzlichen Kran- kenversicherung einzurichten. Sie se- hen die Verstärkung des Trends zur Individualisierung gesundheitlicher Risiken — und damit die Möglich- keit, zur gegebenen Zeit Wahltarife auflegen zu können. Konkretere Vor- stellungen dürften aber erst in eini- gen Wochen auf dem Tisch liegen.
Noch, ließ VdAK-Geschäftsführer Dr. Eckart Fiedler unterdessen ver- lauten, sei das Strategiepapier ledig- lich eine „Sammlung von Merkpo- sten". Josef Maus Dt. Ärztebl. 90, Heft 13, 2. April 1993 (17) A1-929