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Archiv "Macht Medizin krank?" (11.09.1985)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

DER KOMMENTAR

W

arum sind in Westdeutsch- land, trotz Rekordgesund- heitsausgaben von mehr als 200 Milliarden Mark pro Jahr, heute so viele Menschen krank?

An jedem beliebigen Stichtag lie- gen mehr als eine halbe Million Bundesbürger im Krankenhaus, und laut Mikrozensus des Statisti- schen Bundesamtes fühlt sich fast jeder fünfte heute nicht gesund.

Es gibt viele Gründe für dieses Pa- radox, aber der wichtigste wird oft übersehen. Trotz aller spektakulä- ren Erfolge und unbestrittener Fortschritte besteht die moderne Medizin zum großen Teil aus, wie die Amerikaner sagen, „half-way technologies": Sie rettet uns zwar das Leben, aber macht uns nicht gesund.

Moderne Morbiditätsstatistiken zeigen das sehr deutlich. Unge- zählte Diabetiker, Nierenkranke, Herz-Kreislauf-Patienten, Bluter, Querschnittsgelähmte oder ande- re Unfallopfer sind heute am Le- ben, wenn auch krank, die noch vor wenigen Jahren mangels ge- eigneter Therapien hätten ster- ben müssen. Daß sie aber heute leben, ist keine Niederlage, son- dern ein großer, wenn auch kein hundertprozentiger Erfolg für die moderne Medizin.

Noch vor 60 Jahren etwa war die Diagnose „Zucker" für die mei- sten Betroffenen ein Todesurteil, bis mit dem Aufkommen des Insu- lin auch längere Patientenkarrie- ren und als Folge davon die heute zwei Millionen Zuckerkranken in Westdeutschland möglich wur- den.

Ebenso ist die Zahl der Herzpa- tienten heute unter anderem auch deswegen so hoch, weil immer mehr von ihnen dank moderner Medizintechnik und Medikamente immer länger leben. Weit über 100 000 Bundesbürger etwa tra- gen heute einen Herzschrittma- cher in ihrer Brust, und je länger sie durch dieses Gerät am Leben bleiben, desto größer wird die Zahl der Herzpatienten sein.

Macht Medizin krank?

„Jedes Jahr sterben in West- deutschland rund 1300 Menschen an chronischem Nierenversagen — aber nur für zwei Dutzend Kranke steht die künstliche Blutwäsche zur Verfügung", klagte DER SPIEGEL noch im Dezember 1967. Heute steht die künstliche Blutwäsche mehr als 10 000 Kran- ken zur Verfügung — Menschen, die noch vor wenigen Jahrzehn- ten nach kurzer Krankheit qualvoll gestorben wären.

Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Leser an Karen Ann Quinlan, die in diesem Sommer nach zehnjährigem Koma mit 31

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Mit wachsendem Erfolg wird die durchschnittliche Gesundheit der (noch) Lebenden nicht besser, sondern schlechter, ganz einfach deshalb, weil die ansonsten Ge- storbenen durch ihr Weiterleben notwendig die Morbiditätsstatisti- ken belasten müssen.

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Jahren verstarb. Wie Karen Ann Quinlan liegen heute in entwickel- ten Industrienationen Zehntau- sende Menschen im Koma, laut Newsweek eine „stille Epidemie", lebend zwar, aber vollkommen ausgeliefert den Instrumenten des modernen Medizinbetriebs (wobei man sich hier schon fragen kann, wer wem zu dienen hat, und ob sich nicht der Medizinbetrieb zuweilen gegen den Willen der Menschen selbständig macht).

Und so löst sich das scheinbare Paradox des medizinisch-techni- schen Fortschritts: Mit wachsen- dem Erfolg wird die durchschnitt- liche Gesundheit der (noch) Le- benden nicht besser, sondern schlechter, ganz einfach deshalb, weil die ansonsten Gestorbenen durch ihr Weiterleben notwendig die Morbiditätsstatistiken bela- sten müssen. „Je besser eine me- dizinische Versorgung ist, um so mehr Behandlungsbedürftige wird es geben", stellte vor Jahren sehr richtig der Präsident der Bundesärztekammer fest. Im Gleichschritt mit einer steigenden Lebenserwartung nimmt auch die Zahl der Menschen zu, die zu ei- nem gegebenen Zeitpunkt gerade krank sind, und die niedrigste Krankheitshäufigkeit sowie die gesündeste Bevölkerung hat man dort, wo man medizinische Thera- pieversuche überhaupt nicht kennt und alle Kranken unbehan- delt sterben läßt.

Natürlich sind nicht alle Errungen- schaften der Medizin nur „half- way technologies". So ist etwa statt künstlicher Hämodialyse, mit ihrer lebenslangen Abhängigkeit von der Medizintechnik, auch eine Verpflanzung der Niere und damit ein weitgehend normales Leben möglich.

Zunehmend häufiger gelingt auch in anderen Sparten der Chirurgie die vollständige Wiederherstel- lung der körperlichen Funktions- fähigkeit, oder werden durch me- dikamentöse Behandlung nicht nur Symptome kuriert, sondern Krankheiten vollständig ausge- merzt. Man denke etwa an die Tbc, eine gefürchtete Killerkrank- heit des 19. Jahrhunderts, die heute durch Medikamente voll- kommen kontrollier- und heilbar ist, oder an die erfolgreiche Aus- rottung von Typhus, Pocken und Cholera.

Eine Krankheit zu heilen oder zu verhindern heißt aber nicht, Krankheit überhaupt zu verhin- dern. Der Triumph einer Medizi- nergeneration besiegt nie den

2610 (22) Heft 37 vom 11. September 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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Tod, sondern schafft nur Arbeit für die nächste. Die Medizin hat nicht in der Hand, ob man stirbt, son- dern nur, woran man stirbt. Die Tbc-Kranken von gestern sind die Dialysepatienten von heute und werden die multi-morbiden geria- trischen Pflegefälle von morgen sein.

Verglichen mit 1960 etwa sterben heute wesentlich weniger Men- schen an Grippe oder Lungenent- zündung, dafür mehr an Diabetes oder Krebs, und auch die vollstän- dige Elimination der Todesursa-

che "Krebs" hätte nicht unsere

Unsterblichkeit, sondern nur eine Verlängerung der Lebenserwar- tung um zwei bis drei Jahre und eine drastische Zunahme von Herz-Kreislauf-Krankheiten zur Folge (so wie umgekehrt die Hälf- te aller Herztoten ansonsten an Krebs gestorben wäre).

Moderne Killerkrankheiten wie Krebs sind daher keine Schande, sondern Zeichen eines großen Er- folges für die Medizin. Die Krebs- sterblichkeit etwa wäre im Hand- umdrehen drastisch zu reduzie-

ren, wenn man die Menschen wie

vor 100 Jahren wieder an Cholera, Typhus oder Tbc, oder wie heute noch in der Dritten Weit an ande- ren Infektionskrankheiten aller Art sterben ließe. Je höher dagegen die Todesraten bei Krebs oder Herz-Kreislauf-Krankheiten, desto besser ist die medizinische Ver- sorgung, und wo diese Krank- heiten nicht in der Statistik der To- desursachen erscheinen, muß mit der Medizin noch vieles im argen sein.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. rer. pol. Walter Krämer Institut für Höhere Studien Stumpergasse 56

A-1060 Wien

Literatur: Krämer, W. "Wer leben will, muß zahlen", Düsseldorf-Wien 1982 (Econ).

Der Verfasser übernimmt in Kürze eine Professur für Empirische Wirtschaftsfor- schung in Hannover.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Krankenpflege:

Neue Gesetzes·

grundlage

Z

um 1. September 1985 ist das neue Krankenpflegegesetz in Kraft getreten. Rund fünfzehn Jahre Vorbereitungszeit hat es ge- kostet, bis es zu einer weitgehen- den Zustimmung aller beteiligten Organisationen und Verbände ge- genüber einem Entwurf kommen konnte, der sowohl der Notwen- digkeit der Angleichung an die EG-Richtlinien entsprach wie auch den Reformbestrebungen hinsichtlich der inhaltlichen und formalen Struktur des Ausbil- dungswesens Rechnung trug.

Ein zentraler Punkt in der kontro- vers geführten Diskussion war die rechtliche Ausgestaltung des krankenpflegerischen Bildungs- ganges. Es bestanden Bestrebun- gen, den Ausbildungsgang ent- sprechend den Bestimmungen des Berufsbildungsgesetzes zu organisieren, womit die kranken- pflegerische Ausbildung dem Schema der betrieblich-dualen Ausbildung unterworfen worden wäre.

Von Beginn an war es hingegen die Meinung der Ärzteschaft, daß die Ausbildung zur Krankenpflege eine Ausbildung besonderer Art an der Nahtstelle zwischen schu- lischer Bildung und praktischer Unterweisung ist, die damit die Vorteile des dualen Systems und der schulischen Ausbildung in na- hezu idealer Weise auf sich ver- eint. Es wurde kein plausibler Grund gesehen, die über Jahre tradierte und bewährte Form der Krankenpflegeausbildung aufzu- geben.

Diese Einschätzung, die von der Deutschen Krankenhausgesell-

DER KOMMENTAR

schaft und den Schwesternver- bänden mitgetragen wurde, hat sich nun letztlich durchgesetzt;

das neue Krankenpflegegesetz wird dem besonderen Charakter der Krankenpflegeausbildung in- sofern gerecht und übernimmt nur die Bestimmungen des Be- rufsbildungsgesetzes, die die rechtliche Stellung der Schüler absichern.

Das neue Gesetz schreibt auch das Prinzip der Einheit des Lern- ortes fest, wonach die Schule mit einem Krankenhaus verbunden sein muß - auch dies ist als eine sinnvolle Bestimmung anzuse- hen.

..,... Durch das Gesetz wird der Bun- desminister für Jugend, Familie und Gesundheit ermächtigt, durch Rechtsverordnung in einer Ausbildungs- und Prüfungsord- nung die Mindestanforderungen an die dreijährige Ausbildung zu regeln. ln Angleichung an die ent- sprechenden Richtlinien der EG und das europäische Überein- kommen vom 25. Oktober 1967 ist bei einer Ausbildungsdauer von weiterhin drei Jahren eine Min- deststundenzahl von 4600 Stun- den vorgesehen.

Die Ausbildungs- und Prüfungs- verordnung für die Berufe in der Krankenpflege in der Fassung vom Juni 1985, wie sie dem Bun- desrat zur Zustimmung zugeleitet worden ist, sieht danach eine praktische Ausbildung von 3000 Stunden und einen theoretischen und praktischen Unterricht von 1600 Stunden vor; neben der Aus- bildung in der psychiatrischen Krankenpflege ist jetzt erstmals die Ausbildung in der häuslichen Krankenpflege vorgeschrieben. Durch die Neuordnung der recht- lichen Grundlagen in der Kran- kenpflege wurden die einschlägi- gen Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft in nationales Recht umgesetzt. Die Voraussetzungen für eine freie Berufsausübung im EG-Bereich wurden geschaffen.

Rosemarie lckert Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 37 vom 11. September 1985 (23) 2611

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