er Marburger Bund (Verband der angestellten und beamte- ten Ärzte Deutschlands e.V.) rechnet fest damit, daß die Gesund- heitsreform am Veto der Unionspar- teien und der FDP im Bundesrat am 26. November scheitern wird. Damit würde die erst seit einem Jahr amtie- rende rot-grüne Regierungskoalition die „Quittung für eine kurzsichtige und kurzatmige Politik erhalten, die von einem Chaos ins nächste stol- pert“. Mit dem Scheitern der zunächst anspruchsvoll angelegten Gesund- heitsreform, die in der Schlußabstim- mung im Bundestag mit einer Re- kordzahl von 175 Änderungsanträgen (345 Seiten!) eher „verschlimmbes- sert“ wurde, werde Schaden abgewen- det, so der Vorsitzende des Marburger Bundes, Dr. med. Frank Ulrich Mont- gomery, Radiologe aus Hamburg.
Angesichts dieser politischen Gemengelage bleiben die Auspizien weiter düster. Daß eine durchgreifen- de Reform längst überfällig wird, räumt auch der Marburger Bund ein.
Allerdings dürfe es keinen trickrei- chen Handel und keine Paketbildung wie in anderen innenpolitischen Pro- blemfeldern geben, etwa wie in der Rentenreform im Zusammen- hang mit der Steuerreform. Montgo- mery erläuterte: In der noch verblei- benden Zeit ist es unmöglich, bis zum 1. Januar 2000 ein durch den Bundes- rat zustimmungsfreies Gesetz neu zu entwerfen und zu beschließen; dies könnte frühestens zum 1. April näch- sten Jahres gelingen. Mithin blei- be als Handlungsoption eine Verlän- gerung der ursprünglich bis Ende 1999 befristet geltenden Regelungen des Vorschaltgesetzes. Der Marbur- ger Bund (MB) baut auf eine stabile Ablehnungsfront im Bundesrat; in- zwischen hätten auch zumindest die Ersatz- und Betriebskrankenkassen wegen beabsichtigter finanzieller So-
lidaritätsopfer des Westens zugunsten der neuen Bundesländer Andrea Fi- scher die Gefolgschaft aufgekündigt.
Möglicherweise gilt für die Ge- sundheitsreform eine Lebensweis- heit, die Friedrich Hölderlin for- muliert hat: „In der Gefahr liegt das Rettende sehr nahe.“ Will heißen:
Durch den Problemdruck müßten Regierung und Opposition, Kran- kenkassen und Leistungsträger im Gesundheitswesen an einen runden Tisch gerufen werden, um ohne Rücksicht auf traditionelle Frontstel- lungen in den nächsten zwei Jahren ein tragfähiges Reformwerk zu erar- beiten, das an den Wurzeln der Struk- turverwerfungen und Ursachen der ständigen Ausgabenschübe ansetzt und die zentralen Probleme löst. Der MB warf der Bundesregierung vor, sie setze interventionistisch und plan- wirtschaftlich an der Ausgabenent- wicklung der Gesetzlichen Kranken- versicherung an und beschwichtige, indem sie auf Rationalisierungserfol- ge und moderate Budgetanpassungen in der Zukunft baue. Sie ignoriere aber völlig das viel gravierendere Ein- nahmenproblem der Krankenkassen, das durch eine sinkende Zahl der Bei- tragszahler und die hohe Dauerar- beitslosigkeit verschärft werde.
Finanzreform der Krankenversicherung
Wie bisher schon sprach sich der Marburger Bund für eine Erweiterung der Finanzierungsbasis der Gesetzli- chen Krankenversicherung aus. Zu- mindest sollte erwogen werden, ob ei- ne Abkoppelung der GKV-Finanzie- rung von den Lohnkosten zu erreichen ist. Falls die Lohnnebenkostenstabili- sierung eine politische Vorgabe blei- ben müsse, sei auch eine Festschreibung des Arbeitgeberbeitrages eine Re-
formalternative. Allein die Bemes- sungsgrundlagen für das Globalbudget durch den Sachverständigenrat im Ge- sundheitswesen für die Konzertierte Aktion zu überprüfen reiche nicht aus, um die akuten Probleme zu lösen.
Globalbudget ungeeignet
Montgomery hält die Ausga- bendeckelung, das Globalbudget und eine Durchbudgetierung aller Lei- stungssektoren für untauglich, um eine hochstehende medizinische Ver- sorgung bei unveränderten Rahmen- bedingungen und ungekürztem Lei- stungskatalog zu garantieren. Das sek- torenübergreifende Globalbudget und das neu erfundene Integrationsbudget seien überaus kompliziert und ließen sich nicht über Verträge umsetzen.
Vielmehr sei der Weg in die Rationie- rung und damit in die Mehrklassen- medizin programmiert.
Der Marburger Bund warnt da- vor, die Leistungsträger erneut zum Sündenbock der Ausgabenschübe und zu den eigentlichen Finanziers des Leistungssystems zu machen.
Wirtschaftlich und bedarfsgerecht er- brachte medizinische Leistungen müß- ten vergütet und bezahlt werden. Die Leistungsträger dürften nicht als Sub- ventionskulis eingespannt werden. Ge- gen mit Augenmaß bemessene Bud- gets habe auch der Marburger Bund grundsätzlich keine Einwände. Es müßten aber folgende Bedingungen beachtet werden: Die Ausgabenvolu- mina müßten den Zukunftsbedarf berücksichtigen, die Leistungs- und Nachfragebedingungen innerhalb des Systems beachten, und für eine rasche Umsetzung der medizinischen Errun- genschaften und der Innovationen sorgen. Der Selbstverwaltung dürften nur jene Aufgaben übertragen wer- den, für die sie zuständig sind und die A-2950 (18) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 46, 19. November 1999
P O L I T I K AKTUELL
Marburger Bund
„Die Reform ist gescheitert“
Die 96. Hauptversammlung des Marburger Bundes in
Köln sprach sich für eine Wende in der Gesundheitspolitik aus.
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sie auch schultern könnten. Die Versi- cherten müßten mehr in die Verant- wortung genommen werden. Nicht to- lerieren können die Klinikärzte den in der Reform vorgesehenen Machtzu- wachs der Krankenkassen und deren Verbände; dies sei nicht glaubwürdig zu begründen und brin-
ge das gesamte System in eine Schieflage, zumal ungleiche Voraussetzun- gen bei der Verhand- lungsführung und bei den Vertragsabmachun- gen infolge unterschied- licher Verfügbarkeit der Daten gegeben seien.
Die bunt gemixte Ge- sundheitsreform und das Konvolut der Ände- rungsanträge, die für ein einziges (Artikel-)Ge- setz eingebracht wurden, könnten rasch zu Fehl- entscheidungen führen.
Versorgungsengpässe, Qualitätsverschlechte- rungen und eine Gefähr- dung des „Wirtschafts- standortes Gesundheits- wesen“ seien die Folge.
Der MB streitet statt des- sen für durchgreifende
Reformmaßnahmen, die bewerkstelli- gen, daß mindestens für einen Zeit- raum von zehn Jahren wieder Planbar- keit und Ruhe in den Arztpraxen und in den Klinikbetrieben einkehrt.
So sei auch die Finanzierung für den Krankenhaussektor unsolide kalkuliert und führe zu einer dauer- haften Unterdeckung. Trotz wach- sender Leistungsintensität der Klini- ken würden dadurch Zehntausende Planstellen im Krankenhaus gefähr- det. Daß die Krankenkassen auch für die Hochschulkliniken schrittweise die Investitionskosten von den Län- dern übernehmen sollen, hält der MB für finanziell nicht darstellbar. Der 2. Vorsitzende des Verbandes, Rudolf Henke, Internist aus Aachen, wies darauf hin, daß 20 Prozent der Krankenhausinvestitionen auf Uni- kliniken entfielen. Die Summe von 1,7 Milliarden DM überfordere aber die Krankenkassen. Erst auf Drängen des Bundesrates hatte die Koalition auch die Hochschulkliniken in das Monistik-Finanzierungskonzept ein-
bezogen. Berechnungen von Exper- ten gehen davon aus, daß die jährli- chen Kosten der Krankenhausinve- stitionen ab 2008 zwischen 20 und 30 Milliarden DM liegen. Nur ein geringerer Teil ist gegenfinanziert und durch eine Verlagerung des Mut-
terschafts- und Sterbegeldes auf die Länder kompensiert.
Der MB kritisierte in einem Be- schluß, daß die Bundesregierung die Beamtenbesoldung nicht wie üblich nach, sondern bereits vor den Tarif- verhandlungen im öffentlichen Dienst gesetzlich regeln wolle. Der MB sieht darin einen Eingriff in die Tarifauto- nomie – übrigens auch in dem beab- sichtigten Wegfall von § 6 der Bun- despflegesatzverordnung, wonach die Finanzierung der tariflich beding- ten Personalkostensteigerungen künf- tig allein dem Spiel der Kräfte der Arbeitgeber und dem Arbeitsmarkt überlassen werden sollen.
Medizinstudium:
Reform überfällig
Der Marburger Bund setzte sich dafür ein, die Novelle zur Approbati- onsordnung für Ärzte rasch zu ver- abschieden. Es sei nicht ausreichend, daß jetzt einige Modellstudiengänge
ermöglicht würden. Das Medizinstu- dium müsse praxisgerechter gestaltet und die Vorklinik und der klinische Studienabschnitt besser verzahnt wer- den, bereits im ersten Studienab- schnitt der Kleingruppenunterricht ein- geführt werden. Auch bei geänderten Zulassungsbedingungen (zum Beispiel von be- rufserfahrenen, qualifi- zierten Pflegern und Krankenschwestern oh- ne Abitur) müsse der wissenschaftliche An- spruch des Hochschul- studiums erhalten blei- ben. Jetzt müßten ein- heitlich die Studien- bedingungen festgelegt werden, ohne die Stu- dienkapazitäten dadurch auszuweiten. Die Länder müßten endlich die Ka- pazitätsverordnungen an die Zahl der Ärzte anpas- sen, die benötigt werden.
In elf Beschlüssen bekräftigt der MB sei- ne Essentials zur Revi- sion der (Muster-)Weiter- bildungsordnung. Darin wird die Einheitlichkeit des Arztberufes postu- liert. Die Weiterbildung sei dabei ein „Nebenprodukt“ ärztlicher Be- rufsausübung – mit allen arbeits- und tarifvertraglichen Konsequenzen. Der
„Arzt in Weiterbildung“ wird abge- lehnt. Weiterzubildende, Weiterbil- dungsbefugte und Weiterbildungsstät- ten müßten ständig überprüft und ein hoher Qualitätsstandard eingefordert werden. Die Befugnis zur Weiter- bildung setze die Weisungsfreiheit von dieser Tätigkeit aus, und zwar für alle in die Weiterbildung eingeschalteten Ärzte. Die Rotation der Weiterzubil- denden und vermehrte Verbundwei- terbildungsgänge müßten auch von den Arbeitgebern vertraglich unter- stützt werden. Die Möglichkeiten ei- ner flexiblen Weiterbildung müßten verbessert werden. Im Mittelpunkt der beim kommenden Deutschen Ärz- tetag in Köln stehenden Revision der Weiterbildungsordnung müsse die Ver- einfachung und Machbarkeit der No- vellierung, aber nicht eine Verlänge- rung der Mindestweiterbildungszeiten stehen. Dr. Harald Clade
A-2951
P O L I T I K AKTUELL
Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 46, 19. November 1999 (19) Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Marburger Bundes: „Die Bundes-
regierung sollte ihren Entwurf zurückziehen, anstatt kurzatmige Reanimierungsversu- che am längst klinisch toten Objekt durchzuführen.“ Foto: Johannes Aevermann