DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
KURZBERICHTE GLOSSE
Die „Wende"
braucht ihre Zeit
Kein Zweifel — auch unter den Ärz- ten geht Unzufriedenheit über die Ergebnisse der politischen Wen- de vor vier Jahren um. Man hatte sich mehr versprochen und kurz- fristigere Erfolge versprochen.
Die freien Berufe jedenfalls erwar- ten von der Bundesregierung eine entschiedenere Fortführung der Politik der „Wende"; Entbürokra- tisierung und Privatisierung müß- ten endlich in die Tat umgesetzt werden, forderte der Hauptge- schäftsführer des Bundesverban- des der Freien Berufe, Dietrich Rollmann, auf dem Verbands- tag des Steuerberater-Verbandes e. V. Köln im Oktober. Nur so kön- ne, erklärte Rollmann, der einzel- ne Bürger aus der Gängelung durch den Staat befreit und in sei- ner Eigenverantwortung gestärkt werden. Rollmann forderte dar- über hinaus namens der freien Berufe, Steuern und Abgaben spätestens in der nächsten Legis- laturperiode so zu senken, daß sich Leistung wieder lohne.
Rollmanns kritische Äußerungen zur „Wende" stehen für viele.
Ganz anders der Kieler National- ökonom Professor Dr. Norbert Walter. Er mahnte die ungeduldi- gen Kritiker, die die „Wende" bis- her vermissen, zur Geduld. Die
„Wende des Zeitgeistes" — womit nicht lediglich der politische Wechsel in der Bundesrepublik, sondern ein weltweiter geistiger Umschwung gemeint ist — habe zwar Anfang der 80er Jahre einge- setzt (nach der „Periode der Er- nüchterung" Mitte der 70er Jah- re), aber eine solche Wende sei ein langfristiger Prozeß. Wir stün- den noch mittendrin.
Doch gebe es ja bereits Wachs- tum, erinnerte Walter, die Kon- junktur sei freilich gespalten — nach Branchen, nach Regionen, sogar nach Unternehmen in ein- und derselben Branche. Für die nächsten Jahre prophezeite Wal-
ter Licht. Die resignative Phase, die jahrelang das gesellschaft- liche Leben bestimmt habe, gehe zu Ende. Statt Null-Bock und Null- Wachstum zeige sich schon jetzt wieder Leistung und Leistungsbe- reitschaft — ausgedrückt auch in der von offizieller Seite so ge- scholtenen Schattenwirtschaft;
diese sei nichts anderes als ein Umweg, den die Leistungsbewuß- ten einschlügen. Nach Überwin- dung der augenblicklichen Zwi- schenphase werde es eine markt- wirtschaftliche Offensive geben, versicherte der Kieler Professor.
Die junge Generation suche nach einer Zukunftsperspektive, sie werde sich, notfalls gegen den Wi- derstand der Älteren, Platz auf dem Arbeitsmarkt verschaffen. Für die nächsten Jahre verheißt Wal- ter: Sinken der Steuer- und Abga- benleistungen, Kappen der Sozial- leistungen, Zurückführung der Subventionen; Regulierungen der Wirtschaft würden abnehmen und die Lasten des Umweltschutzes würden gerechter verteilt werden.
Nicht ganz so fröhlich sieht Wal- ters Szenario für die Sozialversi- cherung aus. Er machte vor den Vertretern der Versorgungswerke der Heilberufe, die die Apotheker- und Ärztebank eingeladen hatte, einmal mehr auf die demographi- sche Entwicklung aufmerksam.
Allein schon deshalb könne das Sozialversicherungssystem nicht so bleiben wie gewohnt. Allge- mein werde es zu Selbstbeteili- gungen kommen, Schadenfrei- heitsrabatte würden auch in der Sozialversicherung eingeführt.
Die Probleme der Rentenversi- cherung, die sich in den 90er Jah- ren verschärfen würden, würden zu einer Verlängerung der Le- bensarbeitszeit führen. Wer die herkömmlichen Altersgrenzen nutzen wolle, werde sich mit einer geringeren Rentenhöhe abfinden müssen; er müsse sich schon heute durch private Vorsorge dar- auf vorbereiten. „Die jungen Leu- te werden einfach nicht mehr be- reit sein", erklärte Walter, „die derzeit geltenden Regelungen aufrechtzuerhalten." NJ
Heiratstest
Eine neue Blüte der AIDS-Hyste- rie: Je ein Abgeordneter der bei- den Parteien im Parlament des US-Bundesstaates New York will einen Gesetzentwurf einbringen, der Ehewilligen eine AIDS- Zwangsuntersuchung vorschreibt.
Der demokratische Abgeordnete Frederick Schmidt will die Ertei- lung der Ehegenehmigung von Antikörpertests bei beiden Ver- lobten abhängig machen. Ist ein Test positiv, dann soll das Ge- sundheitsamt darüber entschei- den, ob die beiden heiraten dür- fen oder nicht. Der Republikaner Ralph Mario verlangt vor der Hei- ratserlaubnis eine ärztliche Be- scheinigung, daß keiner der bei- den Partner AIDS in anstecken- dem Stadium hat. Gouverneur Ma- rio Cuomo fuhr schweres Ge- schütz auf: So etwas sei verfas- sungswidrig. Nun ja — wer schon einmal etwas von der Verbreitung des außerehelichen Beischlafs gehört hat, der sieht die Überflüs- sigkeit eines solchen Verfahrens ohnehin schnell ein. Oder sollte der auch von einer amtlichen Ge- nehmigung abhängig gemacht werden? bt
FRAGEN SIE DR. BIERSNYDER!
Kleiderordnung
Sehr geehrter Herr Doktor, Jog- ging und Aerobic sollen einen günstigen Einfluß auf Körper und Seele haben. Ist das etwa dassel- be wie Dauerlauf und Gymnastik?
Dr. Biersnyder antwortet: So ein- fach liegen die Dinge leider nicht.
Schon durch die vorgeschriebene Kleidung werden Sie unschwer ei- nen großen Unterschied zu den früheren Methoden erkennen können. Der Einfluß auf die Psy- che ist nicht gesichert. Im allge- meinen treiben Sport und Gymna- stik nur die, die von Hause aus ei- nen ziemlich gesunden Seelenzu-
stand besitzen. ❑
3674 (22) Heft 49 vom 4. Dezember 1985 82. Jahrgang Ausgabe A