E
s ist ein ehrgeiziges Projekt, das die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) im Frühjahr letzten Jahres gestartet hat. Sie will mit dem so ge- nannten Morbiditätsindex (MIX) die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich die Finanzierung der ambulanten Versorgung nicht mehr an der Entwick- lung der Löhne und Gehälter, sondern am medizinischen Bedarf orientiert.Über erste Ergebnisse des Projekts dis- kutierten Vertreter der KBV, des Bun- desgesundheitsministeriums und der Krankenkassen am 21. August in Berlin.
Zwei Schritte sollen nach dem Willen der KBV zum Ziel führen. Der Morbi- ditätsindex soll zunächst Aufschluss über den derzeitigen Versorgungsbe- darf geben. Dazu wird auf der Basis der aktuellen Ausgaben ein diagnosebe- zogenes Patientenklassifikationssystem entwickelt (MIX-1). Das heißt: Die Pa- tienten werden je nach Diagnose unter- schiedlichen Risikogruppen zugeord- net. Anhand der Ausgaben für diese Patientengruppen lässt sich der künfti- ge Bedarf prognostizieren. Die aus- schließliche Orientierung an den gegen- wärtigen Ausgaben greift jedoch nach Ansicht der KBV zu kurz, denn die ge- setzlichen Krankenkassen gehen von beträchtlichen Wirtschaftlichkeitsre- serven im Gesundheitssystem aus, während die Ärzte eher eine Unterfi- nanzierung vermuten. Deshalb sollen in einem zweiten Schritt (MIX-2) auf der Grundlage medizinischer Leitlinien so genannte Soll-Behandlungskosten für die verschiedenen Risikogruppen be- rechnet werden.
Wie notwendig ein neues Finanzie- rungskonzept ist, belegte der KBV-Vor- sitzende, Dr. med. Manfred Richter- Reichhelm, mit seiner Situationsbe- schreibung: „Die Finanzierung der am- bulanten Versorgung ist durch die Bin-
dung der Zuwachsraten für die Gesamt- vergütungen an die Grundlohnsummen- entwicklung abgekoppelt worden von der Morbiditätsentwicklung und der demographischen Entwicklung.“ Inno- vationen und Veränderungen des Ver- sorgungsbedarfs würden ebensowenig berücksichtigt wie Leistungsverlage- rungen vom Krankenhaus in die Arzt- praxen. Hinzu komme, dass notwendi- ge Leistungszuwächse in der Regel nicht durch zusätzliches Geld finanziert würden. Die Folge: Die Kassenärzte trügen in erheblichem Umfang das Ver- sicherungsrisiko.
Planungsgrundlagen für Honorarverhandlungen
Zusätzlich verschärft wird die Proble- matik nach Ansicht von Richter-Reich- helm dadurch, dass der Gesetzgeber für die integrierte Versorgung erstmals eine Vergütungsregelung eingeführt hat, die sich am Versicherungsrisiko orientieren soll. Unter Budgetbedingungen führe das dazu, dass anderen Versorgungsbe- reichen Geld entzogen wird. „Mit der Realisierung der Integrationsversor- gung wird es Versicherte erster und zweiter Klasse in der GKV geben“, fol- gerte der KBV-Vorsitzende. Zusätzliche Brisanz erhalte das Problem durch die geplante Einführung von Disease-Man- agement-Programmen im Rahmen der Reform des Risikostrukturausgleichs.
Gelingt hingegen das MIX-Projekt, las- sen sich daraus Planungsgrundlagen für Honorarverhandlungen, sektorüber- greifende Verträge und deren Finanzie- rung ableiten, hofft Richter-Reichhelm.
Teil 1 des Projekts ist auf gutem We- ge. Im Auftrag der KBV konnte die Fir- ma Risk Consulting unter Leitung des Versicherungsmathematikers Prof. Dr.
Jürgen Weyer in einer Studie die Treffsi- cherheit von diagnosespezifischen Pro- gnose-Modellen belegen. Grundlage bil- deten Daten aus der ambulanten Ver- sorgung in der privaten Krankenversi- cherung aus den Jahren 1998 und 1999.
Die Gutachter kamen zu dem Schluss, dass die in der GKV übliche Fortschrei- bung von Vorjahreskosten kein verlässli- cher Indikator für künftige Behand- lungskosten ist. Weyers Urteil über diese GKV-Praxis ist eindeutig: „Die Progno- sefähigkeit des GKV-Modells ist voll- kommen inakzeptabel.“ Berücksichtige man hingegen zusätzlich die Diagnosen des Vorjahres, lasse sich die Prognose der Aufwendungen eines Folgejahres deutlich verbessern. So liefere das Gut- achten beispielsweise Anhaltspunkte dafür, dass weniger als die Hälfte der Be- handlungskosten chronisch kranker Pa- tienten auf die jeweilige Grunderkran- kung entfalle – im Hinblick auf die Finanzierung der Disease-Management- Programme eine wichtige Erkenntnis.
In einer weiteren Studie hat das In- stitut für Gesundheits- und Sozialfor- schung (IGES) zusammen mit Prof. Dr.
Jürgen Wasem von der Universität Greifswald belegt, dass diagnosebezo- gene Risikoklassifizierungsverfahren, wie sie in den USA angewendet wer- den, prinzipiell auf deutsche Verhältnis- se übertragbar sind. Bei diesen Verfah- ren ordnet man die Versicherten auf- grund ihres Gesundheitszustandes und der deswegen zu erwartenden Kosten homogenen Risikoklassen zu. An diese Kosten kann dann die Kopfpauschal- vergütung je Versichertem geknüpft werden. „Wir haben die Phase der Mo- dellauswahl abgeschlossen“, sagte Wa- sem. „Jetzt müssen die Kassen mitwir- ken, damit wir vom Konzept in die Em- pirie wechseln können.“
Doch genau hier liegt die Schwierig- keit. Die Kassen haben sich bislang nicht am MIX beteiligt. Damit fehle die Grundlage für eine erfolgreiche Weiter- führung des Projekts, kritisierte Rich- ter-Reichhelm. Für den stellvertreten- den Vorsitzenden des AOK-Bundes- verbandes, Dr. Rolf Hohberg, ist der MIX noch Zukunftsmusik. Beteiligen werde man sich nur, wenn der Gesetz- geber die Morbiditätsorientierung im Risikostrukturausgleich in allen Schrit- ten festschreibe. Heike Korzilius P O L I T I K
A
A2316 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 37½½½½14. September 2001