Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 363. September 2004 AA2349
S E I T E E I N S
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ie Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände e.V. (BDA) bleibt am Ball. Hartz IV, die Reform beim Arbeitslosengeld, ist kaum un- ter Dach und Fach, da legt sie schon nach. Zunächst ließ BDA-Präsident Dieter Hundt verlauten, die Berufs- genossenschaften sollten nicht län- ger für Wegeunfälle aufkommen, die seien privat abzusichern. Am 18.August sekundierte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Er schlug eine private Pflichtversicherung für solche Unfäl- le vor und regte darüber hinaus eine allgemeine Debatte zur Reform der gesetzlichen Unfallversicherung an.
BDA und DIHK können sich da- bei auf den Bundesrat berufen, der sich schon am 23. Mai für eine ent- sprechende Revision von SGB VII ausgesprochen hatte.
Am 20. August legte wieder BDA-Hundt nach. In einem Inter- view mit der „Berliner Zeitung“ for- derte er, die gesamte Sozialversi-
cherung auf eine Basissicherung zurückzuführen, die den Bürger vor Risiken schütze, „die ihn individuell überfordern“. Alles Übrige müsse der Eigenverantwortung (sprich:
privaten Zuzahlungen) überlassen bleiben. Das erste Ziel, das Hundt im Sinn hat, ist die Pflegeversiche- rung. Die Beiträge dazu müssten vom Arbeitsverhältnis getrennt wer- den, ganz nach dem Muster, das zur- zeit für die Krankenversicherung diskutiert wird.
Generell plädiert Hundt dafür,
„dass die Steuer- und Abgabenlast reduziert wird“. Offenbar hat er da- bei aber nur die „Last“ der Arbeit- geber vor Augen, denn die Vorschlä- ge zu mehr Eigenverantwortung und Teilprivatisierung der Unfallversi- cherung führen dazu, dass die Abga- benlast der Bürger weiterhin steigt.
Die Arbeitgeber wiederholen auch bei diesen nachgelegten Forde- rungen zum Umbau und Abbau des Sozialstaats die wohl bekannten
Floskeln der Wettbewerbsfähigkeit und der Arbeitsplätze. Sie nutzen die Gunst der Stunde – solange sie noch anhält –, um nach dem einen großen Projekt, den Reformen auf dem Arbeitsmarkt, gleich weitere anzustoßen. Hartz IV wird somit zum Dominostein, der das Sozial- system zum Umkippen bringen könnte.
Die Arbeitgeberargumente sind aus dem Gesundheitswesen seit über einem Jahrzehnt bekannt. We- gen der damals so genannten Lohn- nebenkosten, die es zu senken galt, um Arbeitsplätze zu retten, ist das Gesundheitswesen von der Politik mit einem dichten Netz bürokra- tischer Kontrollen überzogen und sind die Patienten mit Zuzahlungen und dem Abbau von Leistungen ge- straft worden. Die Mehrklassen- medizin hat Einzug gehalten. Nach dem Zuwachs von Arbeitsplätzen halten wir hingegen bis heute Aus- schau. Norbert Jachertz
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in halbes Jahr herrschte Goldgrä- berstimmung. Um von der seit dem 1. Januar gesetzlich veranker- ten Anschubfinanzierung zu partizi- pieren, formulierten Ärzte und Kran- kenhäuser eiligst Konzepte zur Inte- grierten Versorgung (IV). Die Kran- kenkassen wurden mit Vertragsan- geboten überhäuft. Der frühe Vogel fängt den Wurm, dachten sich viele.Allein bei der DAK sind in den er- sten sechs Monaten mehr als 330 IV- Anträge eingegangen. Dies berichtete Herbert Rebscher bei einer Euro- forum-Tagung in Frankfurt/Main. Der stellvertretende DAK-Vorsitzende machte kein Hehl daraus, dass die Antragsflut die Kapazitäten überstei-
ge. Denn vor Ort, wo jedes Konzept ausgehandelt und umgesetzt werden müsse, sei auch die größte Kasse sehr klein. Kassenindividuelle Versor- gungsstrukturen sind für Rebscher deshalb langfristig undenkbar. Aktu- ell gebe es einen Trial-and-Error-Pro- zess auf der Suche nach guten Struk- turen. Wie Hefe, die im Wein den Gärungsprozess in Gang bringe, so habe die Anschubfinanzierung als Katalysator für die Integrierte Versor- gung gewirkt, sagte Rebscher. Es wer- de aber eine zweite Phase geben, in der die Kassen sich umschauten, wie die anderen es gemacht hätten. Dann sei auch wieder mit kassenüber- greifenden Verträgen zu rechnen.
Absehbar ist außerdem, dass auch Vertreter der Kassenärztlichen Verei- nigungen (KVen) künftig wieder häu- figer mit am Tisch sitzen, wenn IV- Verträge ausgehandelt werden. Schon heute klopften kleine Kassen bei den KVen an, um deren Beratung und Lo- gistik nachzufragen, berichtete Ekke- hard Becker von der KV Schleswig- Holstein. Die Kassen seien personell nicht in der Lage, IV-Einzelverträge auszuhandeln und abzuwickeln.
Ähnlich überfordert fühlt sich der- zeit auch mancher Arzt, der gar nicht mehr weiß, wie er einen Patienten zu behandeln hat, weil er oder seine Kli- nik mit jeder Kasse einen anderen Vertrag abgeschlossen hat.Jens Flintrop