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uf „Beifall von der falschen Seite“und heftigen Widerspruch im „ei- genen Lager“ stießen zwei Papie- re zur Weiterentwicklung der Gesund- heitsreform, die in der nachrichtenflau- en parlamentarischen Sommerpause das Licht der Öffentlichkeit erblickten:
eine Problemanalyse für eine durchgrei- fende Strukturreform im Gesundheits- wesen und zur Revision der Gesetz- lichen Krankenversicherung aus dem Bundeskanzleramt und der Wirtschafts- bericht 2001 von Bundeswirtschaftsmi- nister Werner Müller (parteilos). Müller nahm im Rahmen einer Schwerpunkt- analyse zur demographischen Entwick- lung in Deutschland auch das System der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Lohnnebenkostenproblematik kritisch unter die Lupe.
Schon wird der rot-grünen Bundes- regierung vorgehalten, sie betreibe auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik ei- ne Zickzack-Politik und steuere die Ge- setzliche Krankenversicherung zu an- deren (liberalen) Ufern.
Exorbitante
Beitragssteigerung
Die Problemanalyse aus dem Kanzler- amt: Falls nicht Durchgreifendes ge- schieht, wird bis zum Jahr 2040 den Prognosen zufolge der durchschnittli- che Beitragssatz in der GKV von 13,4 auf 31 Prozent steigen. Solche bisher nicht gekannten Beitragsschübe seien Folge des rasanten medizinischen Fort- schritts, der demographischen Entwick- lung, der verlängerten Lebenserwar- tung und der Anspruchshaltung und Erwartungen der Versicherten. Auch die Krankenversicherung der Rentner (KVdR) schlägt ins Kontor: Heute müssten die Aktiv-Versicherten der
GKV die Rentnerkrankenversicherung mit bis zu 60 Milliarden DM jährlich subventionieren. Dies entspreche rund 25 Prozent der Gesamtausgaben der Krankenversicherung. Dieser Effekt verschärfe sich in den nächsten Jahren dramatisch: Die Kosten je Rentner und die Lebenserwartung werden exorbi- tant steigen – falls nichts geschieht. Zu- dem wird die Beitragslastverteilung im- mer schieflastiger. Der Subventionsbe- darf müsse von einer sinkenden Zahl von Erwerbstätigen getragen werden.
Das Kanzleramt unterstellt einen Sub- ventionsbedarf für die KVdR im Jahr 2040 in Höhe von 24 Beitragsprozent- punkten. Allein die Einführung neue- rer und teurerer Diagnostik- und Be- handlungsverfahren werde die Kosten je Versicherten durchschnittlich bis zu 26 Prozent je Jahr steigen lassen.
Andererseits sieht das Kanzleramt die Krankenversicherung in einem un- auflöslichen Dilemma: Im Gegensatz zur gesetzlichen Rentenversicherung könne sich die Krankenversicherung keine „Nullrunden“ leisten, da nach dem Sozialstaatsprinzip die Kranken- versicherung verpflichtet sei, eine flä- chendeckende, bedarfsgerechte medi- zinische und pflegerische Versorgung zu tragbaren und wirtschaftlichen Be- dingungen zu gewährleisten. Der Si- cherstellungsauftrag könne jedenfalls nicht je nach Kassen- und Finanzlage der GKV oder der öffentlichen Hände manipuliert werden.
Bei der Durchmusterung der Re- form-Optionen herrscht ziemliches Rätselraten: Ohne sich auf dieses oder jenes zu versteifen und ins Detail zu ge- hen, werden genannt: Einführung eines Einkaufsmodells zugunsten der Kran- kenkassen und die Inszenierung eines Versicherungs- und Submissions-Ver- trags analog der US-amerikanischen
Health Maintenance Organizations (HMO). Danach soll es bei einem Sachleistungstarif bleiben, allerdings soll den Krankenkassen auch gestattet sein, einen Kostenerstattungstarif mit frei wählbarem Selbstbehalt anzubie- ten. Die freie Wahl des Arztes und des Krankenhauses soll gewährleistet werden.
Aufgelockertes Anbietersystem
Auf der Basis von HMO-Tarifen könn- ten die Arbeitgeber veranlasst werden, einen Zuschuss zur Krankenversiche- rung zu leisten oder auf den Direktlohn umzubuchen. Das Kanzleramt hofft, dass bei HMO-Tarifen und einem auf- gelockerten Anbietersystem die Struk- turbedingungen und die Steuerung wie aus dem „Lehrbuch“ klappen. Die Ver- sicherten müssen sich den Tarifen un- terwerfen, gleichzeitig freiwillig auf die sonst uneingeschränkte freie Arztwahl verzichten. Im Gegenzug soll es den Krankenkassen zugestanden werden, mit Vertragsärzten, zugelassenen Kran- kenhäusern, Arzneimittelherstellern und Erbringern von Leistungen aus dem Bereich der Heil- und Hilfsmittel Ver- träge abzuschließen, Leistungen „ein- zukaufen“. Ein solcher Schlachtplan liegt halbwegs auf der Linie der bisher von den Krankenkassen favorisierten Optionen. Andererseits schwebt dem Papier eine Anleihe aus dem schweize- rischen System vor, das seit rund zehn Jahren mit solchen Tarifen in der Kran- kenversicherung operiert und eine Li- beralisierung und Konvergenz von Ge- setzlicher und privater Krankenversi- cherung eingeleitet hat.
Dagegen bewertet das Kanzleramts- papier das Splitting-Modell mit einer P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 30½½½½27. Juli 2001 AA1921
Gesundheitsreform
Sommertheater – oder mehr?
Zwei Thesenpapiere zur Fortführung der
Gesundheitsreform aus dem Bundeskanzleramt und dem
Bundeswirtschaftsministerium sorgen für Furore.
Trennung des Pflichtleistungskatalogs der GKV in Grund- und Wahlleistun- gen skeptisch. Durchgreifender seien hingegen Maßnahmen, den Pflichtlei- stungskatalog zu verschlanken und Ba- gatell-Leistungen, Obsoletes und me- dizinisch nicht Notwendiges in die Di- rektverantwortung der Versicherten zurückzuverlagern. Allerdings sei die Ergiebigkeit – im Hinblick auf die Ko- stendrosselung und die Beitragssatzsta- bilisierung – relativ gering. Heil- und Hilfsmittel könnten ohnedies nicht aus dem Pflichtleistungskatalog der GKV gestrichen werden; dies sei poli- tisch kaum durchsetzbar, zumal dieser Schritt allein zulasten der nicht ärztli- chen Heilberufe und der Gesundheits- handwerker ginge. Als völlig illusorisch und mehr theoretisch wird die Umstel- lung der Gesetzlichen Krankenversi- cherung auf Kapitaldeckung (mit Alte- rungsrückstellungen) und versicherten- bezogene Beiträge verworfen. Weit mehr als 100 Milliarden DM Kapital- stock wären bereits beim Start in ein solches Privatversicherungssystem not- wendig.
Zu liberalen Ufern?
Eine Reform-Option (unter anderem auch der Ärzteschaft und der Libera- len) hat Minister Werner Müller aufge- griffen, indem er empfiehlt, auch die Kranken- und Pflegeversicherung durch eine private Versorgung mit risikoäqui- valenten Beiträgen zu ergänzen. Wenn die Arbeitgeberbeiträge dann dem Di- rektlohn zugeschlagen würden, erhöhe dies die Transparenz und könne den Beitrag für die Kranken- und Pflegever- sicherung bei 15,2 Prozent stabilisie- ren. Es wurde bereits ausgerechnet, dass bei dieser Vorgabe langfristig etwa ein Drittel bis zur Hälfte der heute als medizinisch notwendig erkannten Lei- stungen direkt und über Zusatztarife fi- nanziert werden müssten.
Bei allen geharnischten Protesten, Dementis und der Linientreue der Traditionalisten (dazu zählt auch Ulla Schmidt) darf gerätselt werden: alles nur „Komödienstadl“ (Horst Seeho- fer, CSU) oder ein Vorgeschmack auf eine „Reform an Haupt und Glie- dern“? Dr. rer. pol. Harald Clade
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A1922 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 30½½½½27. Juli 2001
Hausarzt/Facharzt
Aufforderung zum „Duell“
Der Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands wehrt sich gegen die Angriffe des Internistenverbandes.
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uf die massiven Angriffe des Be- rufsverbandes Deutscher Inter- nisten (BDI) gegen die hausärzt- liche Versorgung hat der Berufsver- band der Allgemeinärzte Deutschlands (BDA) mit harter Kritik, aber dennoch relativ besonnen reagiert. Die Interni- sten hatten die „Hausarzt-Philosophie“grundsätzlich infrage gestellt und als rückwärts gewandt bezeichnet (DÄ, Heft 27/2001). Selbst zur Behandlung der großen Volkskrankheiten seien die Internisten besser geeignet als die All- gemeinmediziner.
Professor Dr. med. Klaus-Dieter Kossow spricht in seiner Entgegnung auf den Vorstoß der Internisten von ei- ner „gezielten Verunglimpfung der Allgemeinärzte und einer rein ge- bietsärztlich orientierten Versorgungs- philosophie, die für den Hausarzt kei- nen Raum mehr lässt“. Der BDA-Vor- sitzende wertet dies als einen „ver- zweifelten Versuch des BDI, nach den berufspolitischen Schlappen im letzten Jahr die eigenen Reihen auf dem Rücken der Allgemeinärzte“ wieder zu ordnen.
Hausärztliche Internisten im Selbstverständnis getroffen
Kossow bringt den Äußerungen der BDI-Sprecher vor allem deshalb wenig Verständnis entgegen, weil die bis dahin vorherrschende Geschlossenheit der Kas- senärzte die Trendwende in der Gesund- heitspolitik (zum Beispiel Ablösung des Arzneimittelbudgets) erst möglich ge- macht habe. Ein solcher Konsens sei zu wichtig, „um ihn den Überlebensinteres- sen des BDI zu opfern“.
Der BDA-Vorsitzende hält es für ab- surd, der fünfjährigen Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin jegliche Qualität abzusprechen. Noch weniger aktzeptabel sei es jedoch, die gesamte „Versorgungsebene der Haus- ärzte“ abschaffen zu wollen. Dies treffe nicht nur die Allgemeinärzte, sondern berühre auch das Selbstverständnis der hausärztlich tätigen Internisten.
Deren Berufsverband (BHI) steht eindeutig zur Lotsenfunktion des Haus- arztes. BHI-Vorsitzender Dr. med. Ul- rich Piltz: „Angesichts begrenzter Res- sourcen ist es ein nicht mehr vertretba- rer Luxus, dass es hauptsächlich dem Be- lieben des Patienten überlassen bleibt, wann er welchen Arzt in Anspruch nimmt.“ Piltz hält es für ausgeschlossen, einen höheren Finanzbedarf bei der Po- litik und den Krankenkassen glaubhaft zu machen, ohne zugleich eine wirksame Leistungssteuerung anbieten zu können.
Vorwurf an den BDI:
„Offener Vertragsbruch“
Kossow wirft dem Berufsverband Deut- scher Internisten „offenen Vertrags- bruch“ vor. Gemeint ist damit die Ver- einbarung zwischen BDA, BDI und der KBV zur Gliederung der ambulanten Versorgung. In dieser Vereinbarung hatten sich Internisten und Allge- meinärzte auf eine Arbeitsteilung bei gegenseitigem Verzicht auf bestimmte Leistungen veständigt.
Kossow meint, dass sich nunmehr auch die politischen Parteien überlegen müssten, „wie sie mit einem Verband umgehen, der die gesetzlich vorge- schriebene Trennung in Haus- und Fachärzte mit der im Sozialgesetzbuch festgeschriebenen Steuerungsfunktion für Hausärzte nicht anerkennt“.
Der BDA-Vorsitzende selbst will nicht lange warten und lädt deshalb die Führungsspitze des Internistenverban- des schon jetzt zum Show-down. Er schreibt an den BDI-Präsidenten Dr.
med. Gerd Guido Hofmann: „Ich wer- de aber nicht mehr dulden, dass Sie in Heckenschützenmanier die Hausärzte diskriminieren. Ich fordere Sie daher zu einem Streitgespräch mit Pressebeteili- gung auf und erwarte umgehend Ihre Terminvorschläge.“ Josef Maus