P O L I T I K
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A246 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 5½½½½1. Februar 2002
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ie Ökonomisierung des Gesund- heitswesens schreitet scheinbar unaufhaltsam voran. Gegen das Kriterium der Wirtschaftlichkeit als ei- nem von vielen lässt sich nichts ein- wenden; die moralische Verwerflich- keit besteht dagegen in dem (ange- strebten) Primat ökonomischer Effizi- enz. Bereits seit Jahren ist zu beobach- ten, dass das Gesundheitswesen – wie überhaupt der gesamte soziale Bereich – immer mehr marktwirtschaftliche Konturen erhält. Die Pflege wurde schließlich vollends für den Markt frei- gegeben – mit der Konsequenz, dassseither zuhauf private Pflegefirmen mit primär betriebswirtschaftlicher Ausrichtung ihre Dienste anbieten.
Der in der Regel alte und/oder kranke Pflegekunde kann jedoch seine Nach- fragemacht nicht annähernd adäquat umsetzen. Letzteres gilt auch für das Verhältnis von Kranken zu Ärzten und Krankenkassen.
Reformvorschläge im Gesundheits- wesen orientieren sich weitgehend am US-System, obgleich dort der Anteil des Gesundheitswesens am Bruttoin- landsprodukt weltweit am höchsten ist. Da in den USA alle lukrativen Be- reiche des Gesundheitssektors im Be- sitz von Aktiengesellschaften sind, kommt nur ein Bruchteil der Summe (20 Prozent) tatsächlich den Kranken zugute. Den Rest verschlingen Wer- bungskosten, Bürokratie und die Ge- winnausschüttung an die Aktionäre.
Von Effektivität kann also keine Rede sein. Ungeachtet dessen fahren die po- litisch Verantwortlichen weiterhin den
„US-Kurs“. Die Einführung der Diag- nosis Related Groups (DRGs) und
die erstaunlich zügige Erarbeitung der Disease-Management-Programme (DMP) lassen sich als weitere Beispie- le für diese Entwicklung heranziehen.
Wie reagieren die professionellen Helfer? In der Arzt-Patienten-Bezie- hung setzt sich zunehmend das Ver- tragsmodell durch, das auf der Ent- scheidungsautonomie des Patienten basiert, wobei der Arzt lediglich die medizinisch relevanten Informationen liefert. Ausgehend von der Annahme, dass Arzt und Patient sich bezüglich ih- rer Wertvorstellungen grundsätzlich fremd sind, wird beim Vertragsmodell
die ärztliche Fürsorgepflicht abgelehnt – mehr noch, der fürsorgliche Arzt wird des „Neopaternalismus“ bezichtigt.
Die Asymmetrie der Arzt-Patienten- Beziehung ignorierend, wird der Pati- ent nach diesem Ansatz sich selbst überlassen – gängige Floskel: „Es ist ja Ihr Körper/Ihre Krankheit“–, während sich der Arzt der Verantwortung für das Wohlergehen seines Patienten ent- zieht. Dank dieser irrwitzigen Fehlin- terpretation des Informed Consent entscheidet somit der mündige Patient – zwar nach einem fünf- oder gar zehnmütigen Beratungsgespräch, doch nach wie vor in weitgehender Un- kenntnis der Materie – selbst über die für ihn geeignete Therapie.
Wenn ernst zu nehmender Protest ausbleibt, wird unser Gesundheitssy- stem zusehends unmenschlicher. Die vermeintliche Rationalität, die „neue Sachlichkeit“ im Umgang mit Patien- ten, wie sie das Vertragsmodell vor- sieht und das Case Management per- fektioniert, wird langfristig zu einer Zunahme der Irrationalität führen. Es
wird nämlich offensichtlich missachtet, dass Menschen nicht nur ein Einkom- men oder eine Krankheit, sondern auch eine Seele haben. Wird die Ärzte- schaft diesem Anspruch nicht gerecht, dürfte ihr Ansehen in der Öffentlich- keit weiter sinken. Es ist nicht so sehr die Schulmedizin, die Menschen in Scharen Geist-, Wunderheilern und sonstigen Scharlatanen in die Arme treibt, es sind die Schulmediziner – schon heute. Die „Erfolge“ vieler ille- gal praktizierender Heiler sind keines- falls in ihrer fachlichen Kompetenz be- gründet – wie auch, da ihnen jegliche
medizinische/homöopathische/heil- praktische Ausbildung fehlt –, sondern in ihrer Fähigkeit, Menschen zu- zuhören und ihnen das Gefühl zu ver- mitteln, sie würden in ihrer Individua- lität geachtet und in ihren Sorgen ernst genommen. Die Kombination von An- teilnahme und medizinischer Inkom- petenz hat bei ernsthaften Erkrankun- gen fatale Konsequenzen. Auf der in- dividuellen Ebene bedeutet dies, dass der Kranke in Zukunft die Wahl haben wird, entweder von einem Arzt abge- kanzelt oder von einem Heiler nicht geheilt zu werden. Aus soziologischer Sicht kann bezweifelt werden, ob eine Gesellschaft, die durch die wirtschaft- liche Deregulierung ihres Gesund- heitswesen letztlich nur die beiden Po- le rationale Effizienz (etwa Disease oder Case Management ) oder inkom- petente Irrationalität (Handauflegen und Räucherstäbchen) zulässt, tat- sächlich in der Lage sein wird, eine qualitativ hochwertige Gesundheits- versorgung ihrer Mitglieder zu ge- währleisten. Heike Ulatowski